Schweitzer Fachinformationen
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Das Wettschwimmen
Jeden Abend stand Benjamin im flachen Wasser, unmittelbar unterhalb der kleinen Strandwiese, wo seine Eltern saßen. Sie folgten dem Lauf der Sonne, verschoben Tisch und Stühle um einige Meter, sobald sie sich im Schatten befanden, und so fuhren sie fort, während die Dämmerung langsam hereinbrach, bewegten sich immer weiter. Unterm Tisch saß Molly, der Hund, und wunderte sich, dass sein Dach verschwand, dann folgte er dem Gespann auf seinem Weg am Ufer entlang. Jetzt waren Benjamins Eltern an der Endstation angekommen und sahen zu, wie die Sonne über den Wipfeln am anderen Seeufer sank. Sie saßen immer nebeneinander, Schulter an Schulter, denn beide wollten aufs Wasser schauen. Die weißen Plastikstühle ins hohe Gras gebohrt, ein schiefer kleiner Holztisch, auf dem die fleckigen Biergläser in der Abendsonne glänzten. Ein Schneidebrett mit einem Zipfel ungarischer Salami, Mortadella und Radieschen. Im Gras zwischen ihnen eine Kühltasche, die den Wodka kalthielt. Jedes Mal, wenn Papa einen Schnaps kippte, sagte er »hej« und hob das Glas in Richtung Nirgendwo und trank. Er säbelte an der Wurst, sodass der Tisch wackelte, das Bier schwappte über, was Mama jedes Mal irritierte - mit einer Grimasse hob sie ihr Glas, bis er fertig war. So etwas fiel Papa gar nicht auf, Benjamin dagegen schon. Er registrierte jede Veränderung, stand immer ein klein wenig abseits, damit sie ihre Ruhe hatten, und doch nah genug, um ihren Gesprächen folgen, Stimmungen und Launen einschätzen zu können. Er hörte ihr freundliches Murmeln, Besteck auf Geschirr, das Geräusch, wenn sich einer von ihnen eine Zigarette ansteckte, ein Strom von Lauten, die darauf hindeuteten, dass zwischen ihnen alles in Ordnung war.
Mit seinem Kescher schlenderte Benjamin am Ufer entlang, spähte ins Wasser. Manchmal sah er versehentlich genau in die Spiegelung der Sonne, und dann schmerzten seine Augen, als würden sie bersten. Er balancierte über die großen Steine, suchte den Grund nach Kaulquappen ab, diesen seltsamen Tierchen, schwarz und träge, die aussahen wie schwimmende Kommas. Er zog ein paar mit dem Kescher heraus und entließ sie in die Gefangenschaft des roten Eimers. Es war ein Ritual. Mit den Eltern als Kulisse sammelte er Kaulquappen, und wenn die Sonne unterging und Mama und Papa aufstanden, um ins Haus zu gehen, kippte er die Kaulquappen in den See und wanderte mit den Eltern hangaufwärts. Und am nächsten Abend begann er wieder von vorn. Einmal vergaß er die Kaulquappen im Eimer. Als er es am Nachmittag darauf bemerkte, waren alle tot, vernichtet von der Hitze der Sonne. Die Angst, Papa könnte es bemerken. Rasch leerte er den Eimer ins Wasser, und obwohl Benjamin wusste, dass Papa oben im Haus war und sich ausruhte, war ihm, als brenne dessen Blick in seinem Nacken.
»Mama!«
Benjamin schaute zum Haus hinauf und sah, wie sein jüngerer Bruder den Hang runtergelaufen kam. Man sah ihm seine Rastlosigkeit schon von Weitem an. Das hier war kein Ort für Ungeduldige. Vor allem nicht diesen Sommer: Als sie vor einer Woche angekommen waren, hatten die Eltern beschlossen, dass es die ganzen Ferien über kein Fernsehen geben sollte. Feierlich teilten sie es den Kindern mit, und vor allem Pierre nahm es schwer, als der Vater das Kabel herauszog und den Stecker demonstrativ oben auf den Fernseher legte, wie bei einer öffentlichen Hinrichtung, bei der man die Leiche zur Abschreckung hängen lässt. Es sollte sie daran erinnern, was den Dingen blühte, die die Entscheidung der Familie bedrohten, ihren Sommer im Freien zu verbringen.
Pierre hatte seine Comics, die er sich langsam und murmelnd selbst vorlas, wenn er abends auf dem Bauch im Gras lag. Doch irgendwann verlor er die Lust, und dann lief er immer zu ihren Eltern, und Benjamin wusste, dass ihre Reaktion je nach Laune unterschiedlich ausfallen konnte; manchmal durfte man auf Mamas Schoß, und dann kraulte sie einem den Rücken. Manchmal wurde sie ärgerlich, und dann war der Tag gelaufen.
»Mir ist langweilig«, sagte Pierre.
»Geh doch mit Benjamin Kaulquappen sammeln«, schlug Mama vor.
»Nein«, sagte Pierre. Er stellte sich hinter ihren Stuhl und blinzelte in die tiefstehende Sonne.
»Was ist mit Nils, könnt ihr nicht was zusammen machen?«, fragte Mama.
»Was denn?«
Schweigen. Da saßen sie, ihre Eltern, irgendwie kraftlos und wie versunken in ihren Plastikstühlen. Schwer vom Alkohol blickten sie über den See. Es war, als überlegten sie, was sie sagen könnten, als suchten sie nach Vorschlägen, doch es fiel kein Wort.
»Hej«, murmelte Papa schließlich und kippte einen Schnaps, und dann verzog er plötzlich das Gesicht und klatschte dreimal laut in die Hände. »Also gut, alle mal herhören«, rief er. »In zwei Minuten will ich meine Jungs hier in Badehose sehen!«
Benjamin blickte auf, trat vom Wasser zurück. Ließ den Kescher ins Gras fallen.
»Na los«, rief Papa. »Kommt schon!«
Nils lag mit seinem Walkman in der Hängematte zwischen den beiden Birken oben am Haus und hörte Musik. Während Benjamin sorgfältig auf jedes Geräusch der Familie lauschte, blendete Nils alles aus. Während Benjamin sich ständig in der Nähe der Eltern aufhielt, suchte Nils Abstand zu ihnen. Er ging einfach in ein anderes Zimmer, nahm nicht teil. An manchen Abenden, wenn die Brüder im Bett lagen und nicht schlafen konnten, hörten sie ihre Eltern durch die dünnen Sperrholzwände streiten. Benjamin registrierte jedes Wort, stellte bei jedem Gespräch Schadensuntersuchungen an. Manchmal warfen sie sich unfassbare Gemeinheiten an den Kopf, sagten so schlimme Dinge, dass es sich anfühlte, als ließe es sich nie wieder reparieren. Über Stunden lag Benjamin dann wach und ging den Streit in Gedanken noch einmal durch. Nils dagegen wirkte vollkommen unbeteiligt. »Was für ein Irrenhaus«, murmelte er, wenn ein Streit eskalierte, drehte sich auf die andere Seite und schlief ein. Es kümmerte ihn nicht, er blieb tagsüber für sich und man bekam nicht viel von ihm mit, es sei denn, er bekam einen seiner Wutanfälle, die plötzlich aufloderten und ebenso plötzlich wieder vergingen. »Verdammte Scheiße!«, hörte man es dann von der Hängematte her, und Nils zappelte und wedelte hysterisch mit den Händen, um eine Wespe zu verscheuchen, die ihm zu nahegekommen war. »Verdammte Scheißidioten«, brüllte er und schlug ein paarmal in die Luft. Dann wurde es wieder still.
»Nils!«, rief Papa. »Sammeln am Ufer!«
»Er hört dich nicht«, sagte Mama. »Er hört Musik.«
Papa rief lauter. Keine Reaktion. Mama seufzte, stand auf, ging zu Nils und wedelte demonstrativ vor seinem Gesicht herum. Er nahm die Kopfhörer ab. »Papa ruft euch.«
Sammeln am Ufer. Ein Glücksmoment. Papa mit diesem besonderen Blick, den die Brüder so liebten, ein Funkeln, das Jux und Dollerei versprach, und immer dieselbe Feierlichkeit in seiner Stimme, wenn er einen neuen Wettkampf auslobte, todernst, doch mit einem Lächeln um die Mundwinkel. Zeremonienhaft und pathetisch, als stünde tatsächlich etwas auf dem Spiel.
»Die Regeln sind ganz einfach«, erklärte er und baute sich vor den drei Brüdern auf, die dünnbeinig in ihren Badehosen dastanden. »Auf mein Zeichen hin springt ihr ins Wasser, schwimmt einmal um die Boje da herum und wieder zurück. Wer zuerst wieder an Land ist, hat gewonnen.«
Die Jungen machten sich bereit.
»Habt ihr verstanden?«, fragte Papa. »Das ist der große Moment. Jetzt wird sich zeigen, wer von euch der Schnellste ist.«
Benjamin schlug sich auf die sehnigen Schenkel, wie er es bei Sportlern vor entscheidenden Wettkämpfen gesehen hatte.
»Wartet«, sagte Papa und nahm seine Armbanduhr ab. »Ich stoppe die Zeit.«
Mit seinen zu großen Daumen drückte er auf die kleinen Knöpfe der Digitaluhr und fluchte vor sich hin, als es ihm nicht sofort gelang, sie einzustellen: »Verdammtes Ding!« Dann blickte er auf.
»Auf die Plätze.«
Benjamin und Pierre schubsten einander, um eine günstigere Startposition zu ergattern.
»Hört auf«, sagte Papa. »So was macht man nicht.«
»Komm, wir lassen's, das bringt doch so nichts«, sagte Mama, die noch immer am Tisch saß und schon wieder ihr Glas auffüllte.
Die Brüder waren sieben, neun und dreizehn Jahre alt, und wenn sie zusammen Fußball oder Karten spielten, konnte es inzwischen in so heftigem Streit enden, dass Benjamin spürte, wie etwas zwischen ihnen zerbrach. Noch höher war der Einsatz, wenn ihr Vater sie gegeneinander aufstellte, wenn er so klarmachte, dass er herausfinden wollte, wer von ihnen in irgendetwas der Beste war.
»Auf die Plätze . fertig . los!«
Benjamin rannte in den See, dicht gefolgt von seinen Brüdern. Hinter sich hörte er Mama und Papa rufen.
»Bravo!«
»Los, schneller!!«
Ein paar rasche Schritte, und der scharfe, steinige Grund verschwand unter seinen Füßen. Die Bucht war junikalt, und etwas weiter draußen warteten Strömungen noch kälteren Wassers, die kamen und gingen, als wäre der See etwas Lebendiges, das Benjamin mit verschiedenen Arten von Kälte auf die Probe stellen wollte. Die weiße Styroporboje lag still im spiegelblanken See. Ein paar Stunden zuvor hatten die Brüder sie dort platziert, als sie mit ihrem Vater das Fischnetz ausgelegt hatten. Benjamin konnte sich nicht erinnern, dass das so weit draußen gewesen war.
Die Brüder schwammen schweigend, um Kräfte zu sparen. Drei Köpfe im schwarzen Wasser, das Rufen vom Strand immer weiter entfernt. Nach einer Weile verschwand die Sonne hinter den Bäumen auf der anderen Seite des Sees und es wurde dämmrig. Plötzlich schwammen sie in einem anderen See, das Wasser kam Benjamin fremd vor. Ihm wurde...
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