Schweitzer Fachinformationen
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Nellie
Der Tag, an dem es mein Leben aus den Angeln hob, begann mit einem Kopfschuss: Ich deckte den Frühstückstisch, während unsere Haushälterin Eva im Auftrag meiner Mutter - »Bringen Sie das verdammte Tier um!« - seit einer Viertelstunde versuchte, einen verirrten Vogel durchs Fenster aus dem Arbeitszimmer zu scheuchen; während ich die Eier abschreckte (nach exakt sieben Minuten, in kochendes Wasser gelegt, denn anders als kernweich kriegt kein Mitglied unserer Chaos-Familie gekochte Eier runter) und gleichzeitig aufpassen musste, die Pancakes für meinen Bruder Max nicht anbrennen zu lassen; während es, obwohl es erst kurz vor neun war, an der Tür schellte und meine Mutter daraufhin von oben durchs ganze Haus brüllte, Eva soll die Tür öffnen! (eigentlich mit drei Ausrufezeichen), da sie wichtigen Besuch erwarte; während ich den Frühstückstisch mit den perfekt gekochten Eiern und den perfekt gebratenen Pancakes und dem perfekt ausgepressten Orangensaft komplettierte und dabei einen Seitenblick auf den Fernseher warf, in dem meine Mutter gerade auftauchte, laut dem Moderator vom Frühstücksfernsehen die streitbare Münchner Stadtbaurätin Anna Mahler, und ich den Ton lauter stellte, um mir ihr Statement anzuhören - Wissen Sie, diese Situation ist nicht haltbar. Sie ist unmenschlich und sie macht mich regelrecht betroffen. Denn in einer reichen Stadt wie München darf es einfach keine Kältetoten geben. Wenn solch eine Tragödie passiert, versagt offenbar die ganze Gesellschaft. Es liegt mir fern, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und Schuldzuweisungen zu erheben. Aber es gehört zu meinen Aufgaben, auf Missstände hinzuweisen. Wir als Politikerinnen und Politiker, wir sind doch jetzt gefragt. Aber die Probleme werden ja nicht einmal benannt! Wo bleiben die Kältebusse? Noch immer blockieren manche Kollegen bei der Stadtverwaltung diesen unbürokratischen Lösungsvorschlag, der quer durch alle Fraktionen Zustimmung erhalten hat. Deshalb werde ich ab sofort zusätzliche Notunterkünfte für die Münchner Obdachlosen bereitstellen lassen. Die Details -; und während ich den Ton des Fernsehers wieder leiser drehte, hörte ich, wie meine Mutter in echt die Treppe herunterkam, um im nächsten Moment unser Esszimmer mit ihrer Anwesenheit zu überfluten, ein menschlicher Tsunami, in jeder Hand einen Blazer, Hochspannung im Gesicht, und sie sagte: »Mein Gott, Nellie. Das sieht ja unglaublich aus! Jetzt können wir Eva doch entlassen!«
»Na ja, ich habe endlich mal wieder ein Familienfrühstück gemacht«, sagte ich, »aber bügeln oder Fenster putzen ist nicht so meins .«
»Das weiß ich doch, Schatz«, sagte meine Mutter, »das war nur ein Witz.« Sie fügte hinzu: »Natürlich, Thomas. Ich bin praktisch schon auf dem Weg!«
Erst jetzt bemerkte ich, dass sie ihr Headset trug und parallel zu ihrem fulminanten Auftritt telefonierte. Mit ihrem Referenten Thomas Streiter, den ich zwar schon immer ziemlich blöd fand, aber insgeheim bemitleidete. Die penetrante Dominanz meiner Mutter war nichts für schwache Nerven. Wenn sie einen Raum betrat, war der voll. Widerspruch sowieso zwecklos.
Nur wenn es um die Wahl ihrer Garderobe ging, war sie erstaunlich unsicher. Sie hielt die beiden Blazer hoch und sah mich fragend an. Ich zeigte stumm auf das dunkelblaue Jackett mit den goldenen Knöpfen. Sie warf das andere achtlos über eine Stuhllehne und streifte meine Entscheidung über. »Und?«
»Sieht gut aus«, sagte ich, »wie wäre es jetzt mit Frühstück?«
Meine Mutter hielt das Mikrofon ihres Headsets zu. »Tut mir leid, Nellie, aber ich hab leider einen Termin. Waren sie das eben, an der Tür?«
»Wer?«
»Investoren. Potenzielle Investoren, meine ich.« Sie warf einen Blick durchs Fenster hinaus in den Garten, wo Marcus Seewald, unser Chauffeur, Gärtner und außerdem Ehemann unserer Haushälterin, die Terrasse winterfest machte. »Danach muss ich gleich zu irgend so einem idiotischen Workshop in die Behörde, und dann fahre ich leider nach Nürnberg zu einer außerordentlichen Ausschusssitzung des Deutschen Städtetages. Ich werde wahrscheinlich über Nacht bleiben.«
In diesem Moment betrat Eva Seewald das Esszimmer. »Die Herrschaften sind eingetroffen, Frau Mahler.«
Meine Mutter nickte und sprach erneut in ihr Headset. »So, bin wieder da, Thomas. Also, nein, das müssen Sie nicht. Sehen Sie einfach zu, dass Sie die Akten fürs Bahnhofsviertel rankriegen, ja? Genau, das Gelände über den Katakomben. Und jetzt entschuldigen Sie mich - bis nachher!« Sie legte auf und wandte sich an Eva. »Haben Sie Frau Gordon und Herrn Durand einen Kaffee angeboten?«
»Selbstverständlich. Aber sie wollten keinen. Zumindest habe ich sie so verstanden. Mein Englisch ist leider nicht so besonders«, sagte Eva Seewald bedauernd.
»Und ist der blöde Vogel raus?«
»Natürlich. Ich musste ihn Gott sei Dank doch nicht umbringen.«
Meine Mutter lächelte und wandte sich ab, um in ihr Arbeitszimmer zu gehen. Doch jetzt hatte ich ein Problem. Mal wieder. Mit ihr. »Mama, echt jetzt? Heute? Nach Nürnberg? Du hast versprochen, dass wir -«
Meine Mutter drehte sich zu mir um. »Ich weiß doch, ich weiß, Nellie«, sagte sie sanft. Um sofort wieder zur Powerfrau zu werden. »Und ja: heute! Falls ihr nicht irgendwann unter der Brücke schlafen wollt!« Sie warf einen Blick auf die Frühstückstafel, dann auf Eva Seewald. Die hob abwehrend die Hände. »Hast du das tatsächlich alles selbst gemacht, Schatz?«
»Was denkst du?«, sagte ich leise.
»Das ist so lieb von dir.« Sie ordnete mit der Hand eine Haarsträhne. »Es tut mir wirklich leid, Nellie. Ich verspreche dir, morgen Abend haben wir bestimmt Zeit füreinander, wenn ich aus Nürnberg zurück bin. Wo ist eigentlich dein Bruder?«
»Er weiß Bescheid, dass es Familienfrühstück gibt.«
»Ach, lass ihn doch lieber noch schlafen - die beiden waren ja gestern wieder lang unterwegs! Ihr macht euch dann später einen schönen Tag, ja? Wie sehe ich aus? Brauchst du Geld?«
»Ja. Immer noch gut. Nein«, sagte ich. Eva Seewald hatte sich während unserer Unterhaltung, die im Grunde keine war, lautlos in die Küche zurückgezogen.
»Bist einfach die Beste! Meine Große!«, sagte meine Mutter ergriffen. Sie langte nach dem Glas Orangensaft, das an ihrem Platz am Kopf der Tafel stand, trank die Hälfte in einem Zug aus, stellte das halb leere Glas geräuschvoll auf ihrem Teller ab und rauschte hinaus. In unserer Eingangshalle kollidierte sie mit meinem jüngeren Bruder. Einem durchtrainierten Adonis in Boxershorts.
Den kleinen Prinzen und mich trennten gerade mal eineinhalb Jahre. Meine Mutter hatte die Dinge schon immer angepackt und durchgezogen.
»Du bist ja schon wach, mein Liebling«, sagte sie und wuschelte ihm durchs Haar, »hattet ihr Spaß gestern Abend?«
»Überwiegend«, sagte der kleine Prinz mit schleppender Stimme, und wer genauer hinsah, hätte an der Größe seiner Pupillen sofort erkennen können, dass der Spaß ziemlich groß gewesen sein musste. Doch die Gefahr, dass meine Mutter genauer hinsehen würde, war gering. »Bei diesem Lärm kann aber niemand pennen«, murmelte mein Bruder.
»Deine Schwester hat Frühstück gemacht!«, sagte meine Mutter beschwichtigend. »Und ich hab von jetzt auf gleich eine Besprechung. Ich bin dann im Arbeitszimmer. Keine laute Musik, Kinder, ja? Es wird nicht lange dauern.« Und schon war sie auf und davon.
»Klar, Mama«, rief Max ihr hinterher. Zu mir sagte er: »Mega, Nellie!« Und meinte damit den Frühstückstisch.
Ein paar Sekunden später kam auch schon Maja angeschlichen. Maja-Florence Mühlberg, seine neue Freundin, genannt MFM. Sie trug einen Bademantel, der mir sehr bekannt vorkam. War ja auch meiner. Oben spannte er etwas, denn MFM, die offiziell als Influencerin arbeitete und inoffiziell von einem amerikanischen Trustfonds ihrer Eltern lebte, hatte sich angeblich schon mit neunzehn ihre Brüste vergrößern lassen. Jetzt konnte ich deutlich sehen, dass dieses Gerücht stimmte. Aber, was ging mich das an? Es war schließlich ihre Entscheidung gewesen, und es war Max, der mit den Dingern fertigwerden musste. Oder durfte, kam auf den Blickwinkel an.
»Hallo, Nellie«, sagte MFM und sah an sich hinunter. »Ist doch okay, oder?« Sie war kein Stück verlegen.
»Sicher, Maja. Fühl dich einfach wie zu Hause. Guten Morgen! Gut geschlafen?«
»Zu kurz!« Sie lächelte mich an. Hübsch war sie, ohne Frage. Aber das war mein Bruder Max ja auch.
»Mann, ist das geil. Du bist wirklich supersupermega, Schwesterlein«, sagte Max. Er hatte die Pancakes entdeckt.
»Ja. Echt voll schön, Nellie«, sagte Maja-Florence. »Aber wir würden gern im Bett frühstücken. Ist das fine für dich?«
Ohne meine Antwort abzuwarten, begann MFM, den Frühstückstisch zu plündern. Max half ihr dabei. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihnen dabei zuzusehen. Ich hätte gerne was gesagt, aber mir fiel keine passende Bemerkung ein. Aber das schien auch keinen zu kratzen. Nichts Neues unter der Sonne.
Ein paar Minuten später war das Frühstücksensemble verwüstet, das Traumpaar zog mit vier übervollen Tellern ab und ließ mich allein zurück. Ich langte nach der Schachtel mit den Kaminhölzchen und fachte eins an, um die Kerzen auf dem Tisch zu entzünden. Auf einmal verschwamm mein Blick. Heulst du etwa, Nellie? Ich kniff die Augen zu und ließ das brennende Streichholz auf den Tisch fallen. Als ich meine Augen wieder öffnete, kokelte eine Serviette. Dann züngelte ein blaues Flämmchen. Es roch nach...
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