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Irene Misselwitz
*1945, Nervenärztin und Psychoanalytikerin
Ein Haus im Bauhausstil auf einem Hügel, von dem aus man fast die ganze Stadt überblickt. Ein rundes, eckiges, weiß gestrichenes (was sonst) Haus, zu dem man viele Steintreppen hochsteigen muss.
Im Haus honigfarbene alte Dielen, Holztüren, Pflanzen und Fenster überall, die Wohnung scheint über der Stadt zu schweben. An den Wänden Bilder, in jedem Raum, Kinderbilder, Blumenbilder, Kunst, selbst im Bad. Die Einrichtung der Wohnung ebenfalls viel Bauhaus: Wagenfeldlampe, Gropius-Sessel. Es ist ein wenig, als wäre die Zeit stehen geblieben, welche Zeit allerdings, ist ungewiss.
Es ist ein freundliches helles Haus. Mein Berliner Hinterhof mit Blick auf die Brandmauer ist sehr weit weg. Im Garten junge Männer, die Bäume und Hecken beschneiden. Im Haus Irene Misselwitz, verheiratet, drei längst erwachsene Kinder und ein Mann, mit dem sie seit sechzig Jahren zusammenlebt - wie man das macht, werde ich sie irgendwann im Verlauf des Gespräches fragen.
Irene Misselwitz wurde 1945 geboren, schon im Mutterleib, so schreibt sie es einmal, speichert sie die Angst des Krieges. Sie wird ein zartes, stilles und schüchternes Kind.
Die Mutter Ärztin, konservativ und von den Reglements eines bürgerlichen Leistungsethos geradezu beseelt, mit wenig Restwärme für die Kinder.
Der Vater Arzt und Biochemiker. Er wird dringend gebraucht im neuen Land, das die Demokratie im Titel trägt, immerhin, das könnte ja ein Anfang sein. Er wird nie in die Partei eintreten, will sich nicht unterordnen, ein Freigeist. Er habilitiert recht schnell und wird in der DDR eine Koryphäe im Bereich der Biochemie. Im Westen hätte er noch einmal von »unten« anfangen müssen, also redet er sich den Sozialismus schön. Das Kind wird ein Vaterkind.
In den Akten der Staatssicherheit über den Vater wird Irene Misselwitz später lesen, wie privilegiert die Familie ist. Das Kind empfindet so nicht, sie ist oft Außenseiterin, zumindest in der Schulzeit. Wie kann man privilegiert sein, wenn man zu Hause geprügelt wird, denkt sie sich. Und doch ist alles etwas anders bei ihr. Zu den Pionieren durfte sie nicht, stattdessen ging sie in die Christenlehre, das reichte schließlich schon für eine Sonderstellung, hinzu kamen die vielen Westverwandten und ein Auto. Hatten ja nicht viele.
Nicht bei den Pionieren zu sein, schloss sie automatisch aus vielen Aktivitäten in der Schule und im Ferienlager aus, das war unangenehm. Sie wird das später ihren eigenen Kindern nicht zumuten, die dürfen Pioniere werden.
Den Auftrag, Außergewöhnliches zu leisten, bekommt Irene quasi mit der Muttermilch eingeflößt, zart hin oder her. Dazu gehören Regeln, die unerbittlich durchgesetzt werden. Zu den quälenden gehört der Zwang zum »Aufessen«. Das kann dann auch mal zwei, drei Stunden dauern. Es ist Nachkriegszeit, gejammert wird nicht, diskutiert auch nicht, dafür geschlagen. Die beiden jüngeren Brüder bekommen mehr davon ab, sie werden es ihr ganzes Leben lang nicht vergessen.
Ein zartes Mädchen zu schlagen, kostet dann doch mehr Überwindung, aber auch das schafft der Vater. Die Mutter gibt dem Vater recht, befolgt die Gewohnheiten der Fünfzigerjahre. Als die Kinder größer werden, bleibt die gut ausgebildete Frau zu Hause, aus den Kindern soll was werden, da muss man dranbleiben. Sie bezahlt das Hausfrauendasein mit Depression und Krankheit. Irgendwann rät ihr der Hausarzt, sie solle wieder arbeiten gehen, da wird sie Schulärztin und wieder gesund.
Aber um die Mutter soll es nicht gehen, sondern um das zarte Mädchen. Als es fünfzehn Jahre alt ist, 1961, wird es nach Wales geschickt, zu einer kinderreichen Familie, es soll Englisch lernen. Ein ungewöhnlicher Schritt für ein Kind der DDR. Die zweite Sprache, die sie schnell und gut beherrscht, ihre exzellenten Schulnoten werden sie auf lange Zeit von ihren Altersgenossen unterscheiden. Das Leben in Wales, mit dieser großen Kinderschar und den freundlichen Gasteltern, gefällt Irene, sie fühlt sich wohl.
Am 13. August 1961 jedoch riegelt sich das Land, aus dem sie kommt, hermetisch ab. Es kommt zu aufgeregten Telefonaten von Jena nach Wales. Die Angst der Eltern, dass das Kind nicht mehr nach Hause kommen wird, ist groß. Aber Irene reist nach Hause, sofort, und sie ist sich da schon sicher, dass sie nie wieder ausgehen wird mit ihrem Lieblingsonkel in Westberlin, die Großeltern in Göttingen nie wieder wird besuchen können. Viele glaubten damals noch, dass die Mauer nur ein vorübergehendes Phänomen des Kalten Krieges ist, das die Abwanderungen der Fachkräfte in den Westen verhindern soll und die Hamsterkäufe der subventionierten und damit billigeren Waren aus dem Osten auch. Kann ja nicht ewig dauern, denken sie. Mit Ewigem und Tausendjährigem kannte man sich aus. Aber das Kind weiß, das war's jetzt mit dem Westen.
Beim Umstieg in Berlin, in den Zug nach Jena, schauen sie die Soldaten ungläubig an. In diese Richtung reist nun niemand mehr. Die Stimmung im Land hatte sich in der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit verändert, sie beschreibt sie als bedrückend, die Menschen schauen zu Boden. In den Klassenräumen sitzen in den Monaten nach dem Mauerbau zwei Männer der Staatssicherheit, immer ganz hinten. Sie beobachten die Kinder und die verunsicherten Lehrer. Schließlich wird eine Klassenkameradin der Schule verwiesen, der Klassenlehrer und der Direktor der Schule werden entlassen. Sie hatten die falsche »Einstellung« zum Mauerbau, zur Oder-Neiße-Grenze, wozu auch immer. Es mangelte jedenfalls deutlich an »Haltung« zum Sozialismus. Alle anderen schauen weiter zu Boden.
Die Diskussionen mit dem Vater über die hermetische Grenze führen ins Leere. Jeder Staat, so der Vater, verfüge über fünf Prozent Tabus, so sei es eben, und sie solle sich nicht aufregen. Da ist sie schon viel zu klug, um nicht zu bemerken, dass diese Tabus nicht für alle gelten, für ihren Vater beispielsweise, gelten sie nicht, der durfte weiter regelmäßig Dienstreisen in den Westen unternehmen. Das Gefühl des Eingeschlossenseins war ihm fremd. Auch in den Gesprächen, die sie viele Jahre später führten, konnte er sich einfach schütteln, einfach alles, was ihm nicht passte, abschütteln und sich den Sozialismus mit seinem Gleichheitsideal, das immer nur Idee blieb, schönreden. Die Mutter verstand das Kind wohl eher, hat sich aber hinter der Meinungswand des Vaters versteckt, nie zu den Kindern gestanden.
Der Druck in der Schule, das Gespür für Überwachung und Kontrolle werden für Irene von Jahr zu Jahr deutlicher. In der Klasse niemand, der vertraut sein könnte. Dass sie mit ihrer Herkunft, den Sprachkenntnissen, der Teilnahme an einem Literaturzirkel und dem Klavierspiel, das sie beherrscht, kein Arbeiterkind war, wurde mit einem Kürzel im Klassenbuch vermerkt. Natürlich war klar, dass sie weder Arbeiter- noch Bauernkind war, wollte sie auch gar nicht sein. Zu diesem Zeitpunkt waren die Aufstiegschancen selbst für Arbeiterkinder bereits beendet. Die Dienstklasse rekrutierte sich aus sich selbst heraus, Offiziere, Volkspolizisten und viele andere Berufsgruppen galten längst als Arbeiter. Die Statistik sollte nicht allzu offensichtlich der Räson der Partei widersprechen.
Erst in der Christenlehre findet sich eine Freundin. Auch sie ein wenig anders, Professorentochter, ebenso klug wie Irene. Ihre Suchbewegung ging wohl immer hin zu anderen Außenseiterinnen, die sich, je nach politisch-ideologischer Leitlinie der SED, sehr einfach finden ließen. In der Oberschule dann wieder eine Freundin, wieder eine Professorentochter, die musste allerdings lang umworben werden. Vielleicht trotzdem oder gerade deshalb sind die beiden noch heute befreundet. Vier Jahre spielte Irene Schach mit ihr, darin war die neue Freundin ein Ass. Später floh die Freundin, unter Lebensgefahr. Sie war eine exzellente Schwimmerin, ist über die Donau am Eisernen Tor in Bulgarien, über die streng bewachte Grenze, in den Westen gekommen. Das haben nur wenige geschafft und einige sind dabei umgekommen. Es wird diese mutige Freundin sein, die Jahre später Bücher zu Irene schmuggelt, in doppelbödigen Pralinenkästen, bis das irgendwann auffliegt.
Das Am-Rande-Stehen macht aus einem schüchternen Kind nicht unbedingt ein extrovertiertes. Die Eltern sind streng wie eh und je, vor allem was die schulischen Leistungen der Kinder betrifft. Irenes Leistungen allerdings »ganze Dimensionen« besser als die ihrer Klassenkameraden, aber Leistung gegen Liebe geht nicht auf, geht nie auf. Daneben ist das Elternhaus ein offenes Haus für Gäste aus aller Welt. Zum bürgerlichen Selbstverständnis der Eltern gehörte es, ein Dienstmädchen zu beschäftigen, das wohnte ebenfalls im Haus und machte »die ganze Arbeit«. Das Lebensgefühl war dennoch nicht das eines privilegierten Kindes. Irene wird ein ganzes Leben brauchen, um sich am eigenen Schopf aus diesem Gefühlsschlamassel herauszuziehen.
Das Mädchen will Medizin studieren, seit es denken kann. Sie will es wirklich. Es ist nicht der Wunsch der Eltern, obwohl die das sicher freute. Sie liest Bücher, die sie eigentlich noch gar nicht versteht. Bücher über den Körper. Am meisten aber fasziniert sie ein Buch aus dem Jahr 1937, Die Sprache des menschlichen Antlitzes von Fritz Lange. Ein Buch über »wissenschaftliche Physiognomik«, in den Fünfzigerjahren bereits in der vierten Auflage erschienen. Bis heute spürt man ihre Begeisterung für dieses Themenfeld. Wer schüchtern ist und gehemmt, zudem...
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