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auf die welt kommen. Das eigentliche Geburtsdatum lässt sich genau angeben: Es ist der 29. März 1932, gegen halb drei Uhr nachmittags. Vermerkt im amtlichen Todesregister der Stadt Zürich. Um diese Stunde starb der Vater. Franz Bruno Frisch. Er starb dort, wo in den letzten Lebensjahren sein bevorzugtes Zuhause war: auswärts. Der Tod des Vaters und die Geburt des Autors Max Frisch - das gehört zusammen. Zuvor war der Sohn ein Student mit literarischen Ambitionen. Mit einer Schreiblust, die in der Mittelschulzeit begann. Mit einer gemieteten Schreibmaschine auf dem Dachboden, um niemand zu stören. So fing es an, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wie er in Öffentlichkeit als Partner sagt. Verschiedene Theaterstücke entstanden, alle verschollen. Die Öffentlichkeit erschien ihm vorerst als ein Vater, der ihn zu Hausaufgaben mahnte.1 Darum musste wohl der wirkliche Vater tot sein, ehe Frisch in Erscheinung trat. Von einer Ausstellungsbesprechung abgesehen, publizierte der Zwanzigjährige jedenfalls nichts. Kaum aber war der Vater tot, setzte sich der Sohn, der nun Geld verdienen musste, entschlossen dieser Öffentlichkeit aus.
Eine Todesursache ist in den amtlichen Unterlagen nicht eingetragen. Nach Angaben noch lebender Familienangehöriger ging ein Fehltritt in einem Treppenhaus voraus. Es hält sich außerdem das Gerücht, der mit Geldschulden belastete sechzigjährige Franz Bruno Frisch habe Selbstmord begangen. Aber hätte sein Sohn dann nicht darüber geschrieben? Zudem geht aus dem Todesregister hervor, dass der Vater nicht nur mitten am Nachmittag, sondern auch in einem Haus mitten in der Stadt starb. Der Tod scheint sich angekündigt zu haben. In einem Brief sagt Frischs Mutter, dass »Papa seine Kräfte und seine Gesundheit zu hoch einschätzte«.2 Frisch seinerseits spricht einmal von einem »Hinweis auf das Vorwissen bei meinem Vater«, offen bleibt, ob er oder der Vater dieses Vorwissen hatte.3 Jedenfalls reagierte er auf diesen Tod, als habe er darauf gewartet. Nur Tage später erschienen seine ersten Artikel, und gleich über das Ich, gleich über sein Lebensthema.
Was bin ich? heißt der erste größere Text, ein Schlüsselwerk des jungen Max Frisch. Nicht »Wer bin ich?«. Das mundartliche Was fragt nach der beruflichen Stellung, nach dem Wert auf dem sozialen »Kampffeld« (Frisch). Mittellos, wie die Familie nun war, hatte er von einem Tag auf den andern für sich und seine Mutter zu sorgen, während der acht Jahre ältere Bruder als Chemiker die Schulden abtrug. Frisch schloss mit seinem Leben als Sohn ab, stellte auf Ernährer um. Nicht dass er aufatmete und der Verlust ihn kaltließ, aber ihm setzte besonders die gefährdete Mutter zu, die weder ein noch aus wusste, um ihren Mann trauerte, sich in der Verzweiflung fragte, wovon sie künftig leben und die Miete zahlen sollte, ja, sie fürchtete bereits die Pfändung, obwohl man nichts besaß. Dann das Organisatorische: der Gang auf die Ämter, die Bestattungsbürokratie, das Suchen nach Einnahmequellen. Vor allem das schmerzende Echo des Verlustes: Es starb nicht nur der Vater, es verabschiedete sich fast gleichentags Frischs erster Jugendschwarm, eine siebzehnjährige österreichische Schauspielerin namens Elsa Schebesta. Vom Deutschen Volkstheater Wien gekommen, hatte sie in der Saison 1931/32 am Zürcher Schauspielhaus gespielt. Man unternahm Gebirgswanderungen, flanierte durch Zürich. Viel mehr war da nicht. Doch nach dem Tod des Vaters kondolierte das »Mädelchen« nicht einmal. Stattdessen machte es sich davon.4 Frisch verarbeitete die Bekanntschaft in etlichen Anfangstexten; im Debütroman Jürg Reinhart taucht Else unter ihrem Namen auf.5
Es gibt das aufschlussreiche Feuilleton Ein Mensch geht weg. Darin verlässt ein Du namens Else den Ich-Erzähler. Der hat zwei Stühle vor sich, setzt sich auf den einen, während der andere wie ein Sarg auf ihn wirkt. Das Ich versucht das Du abzuhaken: »Jetzt ist sie weg. Und mit ihr auch ihre Stimme. Und mit ihrer Stimme auch ihr Schweigen. Das habe ich nie gewusst und ich hätte es mir gar nicht vorstellen können, dass sogar ein Schweigen aufhören kann, einfach aufhören kann [.].« Ein Schweigen, das stirbt.6
Der Vater war so ein Schweigen. Der Erzähler Frisch hält ihn aber aus der Geschichte heraus, beteuert, vor Else noch keinen Menschen verloren zu haben. Was deutlich macht, wie Autor und Ich-Erzähler einander stets nahe sind und doch nie identisch. Die zeitgleich sich ereignenden Verlustgeschichten kamen wieder hoch, als sich der Todestag des Vaters ein erstes Mal jährte. Da äußert Frisch in einem Briefentwurf an die Mutter (wie immer damals in Kleinschreibung):
denn weißt du, es wird eine der schwersten wochen meines lebens gewesen sein, in der ich meinen papa verlor, meinen bildungsgang und meine erste freundin. dieser samstag nach der grablegung war schwer, mama, denn in der not jener todeswoche habe ich diese else gebraucht, die ich inniger liebte als je einen mitmenschen und an die ich mich klammerte wie an das leben selber; und als sie ein kind war und mich nicht verstand, sah ich erst ganz hinab in den tod.7
Die Erinnerung an den gestorbenen Vater stellt jene an den lebenden, der »in manchem gefehlt hat« und den Nachkommen Schulden in unbekannter Höhe vererbte, in den Schatten. Der Sohn beschwor an diesem ersten Todestag ein »unverlierbares« Bild herauf, das der Vater
uns fürs Leben zurückließ: mit den zusammengelegten händen und mit den drei dunklen rosen, welche du ihm in liebe mitgegeben hast, und mit diesem schönen gesicht, das einen frieden verriet, den wir nicht hören können, und immer etwas zu sagen schien an dich und an uns, was wir aber nicht begreifen können. dann weine ich ins kissen hinein, mama, habe diesen toten Vater vor mir und weine ins dunkle hinein. ich weiß nichts erhabeneres in dieser welt, als dieses erinnerungsbild, das er uns schenkte, da er tot war, und das ich mir nur selten ins gedächtnis rufe, um es nicht zu verbrauchen.8
Wenigstens im Sarg machte Franz Bruno Frisch eine gute Figur. Der Sohn sah sich zwar als »Geschädigter«, aber er trug dem Vater »das viele hässliche« nicht nach, »denn geld ist kleinlich, wenn man an einen toten denkt«. Je vollendeter der verstorbene Franz Bruno Frisch war, desto weniger stand er der Mutter und Max vor der gemeinsamen Zukunft. Als Frisch dann so alt war, wie der Vater gewesen war, als er starb, begann dieser wieder in seinen Träumen zu rumoren. In Montauk (1974) heißt es unter PRO MEMORIA: »Ein andrer Traum: / sie munkeln. Wer? Der Sarg meines Vaters sei geplatzt, das habe ich nicht gewusst, verstehe es aber. Man wird verrückt werden vor Enge.«9
Zu Lebzeiten scheint Franz Bruno Frisch die literarische Produktion seines Sohnes eher gehemmt als gefördert zu haben. In der kurzen Autobiographie im ersten Tagebuch schildert Frisch, wie der Vater am Esstisch eine an ihn, den damals Sechzehnjährigen, adressierte Briefkarte vorlas, worin das Theater des berühmten Max Reinhardt ihn höflich um Einsendung seines ersten Stücks ersuchte. Erstmals wurde er als Herr angesprochen. Der Vater aber behandelte das Ganze »wie einen Lausbubenstreich«. Zwar bemüht sich der bereits arrivierte Autor in dieser autobiographischen Skizze um einen versöhnlich-selbstironischen Ton, ohne jedoch auf den Zusatz zu verzichten, nach dieser Kränkung habe er das Zimmer verlassen, »vielleicht, das wusste ich noch nicht, für immer.« Für immer ging an seiner Statt der Vater.
War Schreiben das, was schon der junge Max Frisch am besten konnte, so war Sterben das Beste, was der Vater für den Sohn tun konnte: Der gestandene Autor wird im Tagebuch 1966-1971 diverse »Dankbarkeiten« auflisten, an dritter Stelle den frühen Tod des Vaters.10 Frisch beerdigte ihn gründlich, ließ kaum etwas von ihm gelten. Es ist das Los der Väter in seinen Büchern, dass ihre Kinder sie mutwillig aus den Augen verlieren, sie ...
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