Schweitzer Fachinformationen
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Der Linienbus war in der Ferne zuerst nur in seinen Umrissen zu sehen: Die große Windschutzscheibe, dann kam die cremefarbene und dunkelgrüne Lackierung zum Vorschein, und schließlich blitzten die Chromleisten und die silbernen Radkappen. Wie die Reifen vom glatten Asphalt auf die kopfsteingepflasterte Haltebucht rollten - das war der Sound der Großstadt. Mit einem Zischen öffneten sich die Ziehharmonikatüren.
Oma Lydia hatte sich von ihrem Sitz in der ersten Reihe erhoben und verabschiedete sich ohne Eile vom Fahrer. Dabei zerrte sie an ihrer großen Reisetasche und dem vollgestopf?ten Einkaufsbeutel, um die Zeit zu gewinnen, die sie brauchte, um eine begonnene Erzählung zu Ende zu führen.
Man konnte davon ausgehen, dass sie den Mann mit der Strickjacke über dem Fahrersitz während der gesamten Reise - von Bremen-Hauptbahnhof über Walle, Burgdamm, Ihlpohl bis zu uns nach Heilshorn - zugetextet und mit Fakten beballert hatte, die, für sich betrachtet, grundsätzlich richtig, aber insgesamt extrem geschönt und teilweise auch hingebogen waren. Ihrer Version zufolge hatte ihr Schwiegersohn eine florierende Baufirma und bestückte als Architekt halb Norddeutschland mit den schönsten Traumhäusern. Ihre Tochter kümmerte sich derweil um das große Haus mit Garten und einem Swimmingpool, der noch im Bau war, und schmiss nebenbei das Büro. Und ihre vier Enkel, einer hübscher als der andere, lernten den Schulstoff im Schlaf und hatten Tischmanieren, von denen andere in unserem Alter sich getrost eine Scheibe abschneiden konnten. Darüber hinaus waren die Kinder ihr in tiefer Liebe zugetan, wofür ich, der jüngste Enkel an der Bushaltestelle, als lebender Beweis herhielt.
Der Fahrer schaute Oma Lydia nachsichtig hinterher, wie sie - schwer beladen, von einem Bein aufs andere schaukelnd - das Treppchen hinunterstieg und mit etwas Anlauf den letzten großen Schritt machte.
Wir küssten uns auf die Wange, und der Geruch von Kölnisch Wasser mischte sich mit dem Diesel des abfahrenden Busses.
»Und?« Oma Lydia hakte sich ein und drückte meinen Arm. »Mein Herz. Was gibt's Neues?«
Ich hängte mir ihre schwere Reisetasche über die Schulter und berichtete. Es ging darum, Oma Lydia auf dem Weg von der Bushaltestelle zum Haus möglichst positiv auf ihren Besuch bei uns einzustimmen und jeden Verdacht, es könnte irgendetwas nicht in schönster Ordnung sein, im Keim zu ersticken. Ohne dass es laut ausgesprochen wurde, fiel diese Aufgabe mir zu.
Ich hob wie immer zuerst mich und meine Erfolge hervor, in diesem Fall meine Französischkenntnisse, die durch den Besuch von Jean-Philippe eine neue Ebene erreicht hatten, und verschwieg, dass zu meinem Wortschatz jetzt auch Ausdrücke gehörten, die in keinem Langenscheidt-Wörterbuch zu finden waren. Ebenfalls mit keiner Silbe erwähnte ich, dass Jean-Philippe durch seine Abreise eine Lücke hinterlassen hatte, die so groß war, dass es mich selbst verwirrte. Ich hatte keinen Ausdruck dafür, konnte es nicht ändern und auch niemandem erklären. Jean-Philippe war ein Freund, wie ich ihn noch nie gehabt hatte. Er war perfekt, wie ich unperfekt war, und gab mir das Gefühl, dass genau das in Ordnung war.
Stattdessen erzählte ich von Corinnas Auf?tritt mit dem Kirchenchor, über den auch das Osterholzer Kreisblatt mit einem mittelgroßen Foto berichtet hatte, und von Boris' und Angelas Initiative, am Gymnasium noch in diesem Halbjahr einen Friedensgottesdienst zu organisieren. Dass Boris so oft den Unterricht schwänzte, dass er wegen zu vieler Fehlstunden möglicherweise die Zulassung zum Abitur verlor oder sogar von der Schule flog, verschwieg ich ebenso wie Angelas Latein-Debakel beim schriftlichen Abi. Auch Corinnas Faible für den neuzugezogenen Grufti aus dem Nurdachhaus, der Ledermantel und Kajal trug, erwähnte ich nicht - und schon gar nicht den blauen Brief, den ich mit dem Halbjahreszeugnis kassiert hatte. Dass meine Versetzung zum ersten Mal gefährdet war, lastete schwer auf mir. Der Makel beschädigte mein Image als Musterschüler und drohte, mich zu dem zu machen, was ich auf keinen Fall sein wollte: ein Problemkind.
Als wir am Ende des Waldwegs vor unserem Haus ankamen, war die Laune von Oma Lydia mindestens zufriedenstellend, bis sie mit einem Seitenblick registrierte, dass das Auto meines Vaters auf seinem Platz neben dem Capri parkte. Ihr Schwiegersohn war also nicht, wie man es an einem Wochentag hätte erwarten können, auf Achse, um mit den Wasserfiltern Geld zu verdienen, sondern legte wohl zu Hause die Füße hoch. Etwas voreilig waren die Behälter von meinen Eltern als Wunderwaffe gepriesen worden, mit der sich nicht nur die Wasserqualität im Haushalt verbessern ließ, sondern auch unsere derzeit etwas angespannte finanzielle Lage. Wahrscheinlich war es von Anfang an kein gutes Omen gewesen, dass wir das Ding selbst eher widerwillig benutzten und in der Küche als Steh-im-Weg behandelten. Auch Oma Lydia hatte ihren Wasserfilter bei sich in der Küche stillschweigend ganz nach unten in den Schrank verbannt. Das Gartencenter in Osterholz-Scharmbeck hatte meinem Vater zehn Stück abgenommen, was kurzfristig eine Euphorie bei uns ausgelöst hatte. Doch leider verstaubten die Wasserfilter seitdem im Verkaufsregal. Es hatte sich einfach noch nicht herumgesprochen, wie nützlich der Wasserfilter war.
Die Hunde begrüßten Oma Lydia, tanzten und sprangen um sie herum und stachelten sich in ihrer Wiedersehensfreude gegenseitig an. Ihre Begeisterung verlieh dem Besuch den schönen Ereignischarakter, den wir in dieser Dimension mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln gar nicht hätten herstellen können, und half, die Stimmung im richtigen Moment zu heben, bevor sie gleich am Anfang abzusacken drohte.
Angela, Boris und Corinna kamen herbei und gaben Küsschen, und alle gemeinsam begrüßten und beklatschten wir jede Packung, jede Schachtel und jede Tüte Schokolade, Geleebananen, Af?ter Eight und Marshmallows, die Oma Lydia nacheinander aus der Reisetasche holte, wortlos in die Höhe hielt und auf dem Tisch stapelte, bis sie den Reißverschluss mit einer Miene zuzog, die besagte, dass sie hiermit alles getan hatte, was in ihrer Macht stand, um zu unserem Wohl beizutragen.
Das Gespräch fand nach dem Mittagessen statt, beim Spaziergang mit den Hunden durch die Felder, bei starkem Seitenwind. Das Thema, dass die Grünen es knapp geschafft hatten und erstmals in den Bundestag einzogen, war schon abgehakt. Dass die Chaotentruppe bald wieder weg sein würde vom Fenster, galt als fast so sicher wie die Prophezeiung, dass mit Helmut Kohl jetzt alles noch schlechter werden würde. Zinsen und Arbeitslosigkeit stiegen ins Unermessliche, und Kohl fiel nichts Besseres ein, als die Studenten zu bestrafen, indem sie das BAföG nur noch als Darlehen bekommen sollten, sodass Angela - wenn sie überhaupt BAföG bekäme - hinterher mit einem Riesenberg Schulden ins Berufsleben würde starten müssen.
Auch die Volkszählung wollte die CDU gnadenlos durchziehen und all unsere Daten abgreifen, die den Staat überhaupt nichts angingen. Sogar mein Deutschlehrer, der am Tag der Kapitulation die Deutschlandfahne in seinem Vorgarten hisste, fand die Sache bedenklich. Alle redeten vom »gläsernen Menschen«, von George Orwells 1984 und einer sich erfüllenden Prophezeiung. Dabei waren die Aussichten, was Wettrüsten, NATO-Doppelbeschluss, die Stationierung neuer Pershings und das Waldsterben betraf, ohnehin schon düster genug.
»Ein Gutes hat es, dass die CDU jetzt wieder dran ist«, rief Oma Lydia in dem Ton, mit dem sie sonst verkündete, dass es die ersten frischen Erdbeeren oder neue Kartoffeln gab: »Jetzt gibt's wieder mehr Kabarett!«
Wir bogen in den Schierhorster Weg, hatten nun Rückenwind und blieben stehen, weil Oma Lydia sich die Nase putzen musste.
Den Blick melancholisch über die Stoppelfelder gerichtet, sagte meine Mutter: »Siegfried und ich haben uns entschieden, einen Schnitt zu machen.«
Oma Lydia ließ ihr Taschentuch im Ärmel verschwinden und schaute meine Mutter eher empört als fragend an.
Auch ich horchte erschrocken auf - wegen der Beiläufigkeit, mit der meine Mutter sich anschickte, etwas Wichtiges zu verkünden - und hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte.
Meine Eltern wollten sich trennen, und zwar von allen Grundstücken, die wir in den Neubaugebieten von Pennigbüttel, Hambergen und Tarmstedt besaßen. Eine Zeit lang sei es sinnvoll gewesen, diese Grundstücke zu halten und den Bauherren als Bauplatz - im Gesamtpaket mit einem schlüsselfertigen Eigenheim - anzubieten. Das Konzept habe in der Vergangenheit gut funktioniert, und manch ein Vertragsabschluss sei dadurch überhaupt erst zustande gekommen. Das sagten auch unsere Vertreter. Doch bei der momentanen wirtschaftlichen Situation ergebe es einfach keinen Sinn mehr. Die Grundstücke seien zurzeit nur noch ein Klotz am Bein.
Aber Heißenbüttel, fügte meine Mutter hinzu und vergrub trotzig ihre Hände in den Manteltaschen, würden wir behalten. Das Grundstück sei etwas Besonderes, ein Filetstück und Juwel, von dem auch unsere Vertreter immer geschwärmt hatten: am Hang gelegen, keine Nachbarn, nur ein Bauernhof und nicht zu vergleichen mit den Grundstücken in den...
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