Schweitzer Fachinformationen
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»Die Deutschen haben Millionen unschuldiger Menschen massakriert, haben millionenfach getötet und versklavt und Familien auseinandergerissen und Unglück über die Menschen gebracht. Und nun haben sich die Räder der Gerechtigkeit gedreht, und die Welt feiert die Zerschlagung des Nazimonsters. In ihrer Niederlage sind die Deutschen noch isolierter denn je. Sie gehören nicht mehr zur Völkergemeinschaft, sie sind ein ausgestoßenes, beispiellos verfluchtes und gefürchtetes Volk. Erst die nachwachsende Generation von Deutschen kann den Neubeginn schaffen. Man muss hoffen und beten, dass es ihnen gelingt.«[1]
Diese Worte schrieb der US-amerikanische Offizier Saul K. Padover am 9. Mai 1945 an seine Frau, einen Tag nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht. In den Wochen und Monaten zuvor hatte er unzählige Gespräche mit Deutschen, mit Kriegsgefangenen und »normalen« Bürgerinnen und Bürgern[2] geführt, um im Auftrag der Abteilung für psychologische Kriegsführung »etwas über die deutsche Mentalität zu erfahren«.[3] Die sehr spezifische Mischung aus Selbstmitleid und Selbstgerechtigkeit, die ihm dabei fast überall entgegentrat, war umso schwerer zu ertragen, je weiter er im Gefolge der US-Armee ins Landesinnere vorrückte und sich, etwa im gerade befreiten Konzentrationslager Buchenwald, mit dem Horror der NS-Hinterlassenschaft konfrontiert sah.
Mehr als »hoffen und beten« wollte Padover daher im Hinblick auf die deutsche Zukunft im Moment der Befreiung nicht einfallen, und man kann seinem Text entnehmen, dass ihm persönlich beides nicht möglich war, nicht möglich sein würde. Damit stand er, mitten im vor Erleichterung und Freude überschäumenden Paris, sicherlich nicht alleine da - und dennoch: Heute, 80 Jahre später kann man durchaus feststellen, dass »es ihnen« gelungen ist. Padovers 1946 auf Englisch erschienener Bericht (dessen deutsche Übersetzung 60 Jahre auf sich warten ließ) macht - wie so viele andere »Reports from Germany«[4] aus dieser Zeit - jedoch deutlich, warum Gesamtgeschichten der Bundesrepublik oder Deutschlands nach 1945 gerne das Wort »Glück« im Titel oder Untertitel tragen. Bis heute dient es in Gedenkreden als roter Faden oder strukturiert Interviews. Angesichts der gigantischen Katastrophe, die dieses Land über die Welt gebracht hat, scheint »Glück« oder »Geschenk« immer noch eine angemessene Beschreibung eines Vorgangs, die man durchaus auch ins Zynische verkehren könnte: ins umgangssprachliche »Schwein gehabt«. Denn wer hätte 1945 schon gedacht, dass angesichts Millionen ermordeter Zivilisten dafür in Deutschland nur ca. 7000 Personen juristisch belangt würden - bei geschätzten 200000 bis 250000 Tätern?[5] Dass nur vier Jahre später zwei zunächst teilsouveräne deutsche Staaten entstehen würden, die wiederum sechs Jahre später, also zehn Jahre nach Padovers niederschmetterndem Urteil, in ihre jeweiligen Militärbündnisse aufgenommen wurden? Insgesamt sollte es noch nicht einmal 30 Jahre dauern, bis dieses »ausgestoßene, beispiellos verfluchte und gefürchtete« Volk mit der Aufnahme beider Teilstaaten in die UNO im Jahre 1973 wieder offiziell Teil der Völkergemeinschaft wurde: »Was für ein Glück!«[6]
Dieses Glück wurde in allererster Linie durch die bald nach Kriegsende einsetzende, offene Blockkonfrontation möglich. Der Kalte Krieg machte es erforderlich, die beiden neuen deutschen Staaten rasch in das jeweilige Bündnis zu integrieren und für deren Bevölkerungen einen gewissen Lebensstandard zu garantieren. Vor allem in Bezug auf die Bundesrepublik wird dabei bis heute immer wieder auf die immense Bedeutung des sogenannten »Wirtschaftswunders« verwiesen, das das neue politische System weniger ideologisch als praktisch legitimierte: »Stärker als das bewusste Umdenken ist der Opportunismus, der mit dem wachsenden Wohlstand einsetzt«, so fasste es der Historiker Ewald Frie kürzlich treffend zusammen. »Darum wenden sich die Menschen allmählich der Demokratie zu.«[7]
Die innenpolitische Voraussetzung dafür war allerdings eine klare Abgrenzung vom soeben besiegten »Nazimonster«, was im Osten aufgrund des offensichtlichen Regimewechsels einfacher war als im Westen. Die DDR berief sich auf die Tradition der NS-Gegner bzw. des internationalen Antifaschismus und schuf radikal veränderte ökonomische und politische Strukturen. Dies beeinflusste auch den Umgang mit den NS-Verfolgten, der sich zum Teil fundamental, zum Teil nur graduell von dem in der BRD unterschied. Da ich jedoch keine Spezialistin für die Geschichte der DDR bin, habe ich mich in diesem Buch auf Westdeutschland beschränkt und unternehme nur am Ende einen kleinen Ausflug ins vereinte Deutschland.
Die junge Bundesrepublik war in vielem das Gegenteil des sozialistischen Staats im Osten: Das kapitalistische Wirtschaftssystem und damit im Kern auch die Besitzverhältnisse blieben unangetastet. Zugleich war die später historisch erforschte »Elitenkontinuität« bereits unmittelbar nach der Staatsgründung unübersehbar. Sie betraf alle gesellschaftspolitischen Bereiche: In den Ministerien und Verwaltungen, in Justiz und Polizei, in den Wirtschaftsbetrieben, den Medien, im Bildungs- und Gesundheitswesen und in der 1955 gegründeten Bundeswehr, auf allen Ebenen arbeiteten Männer (und einige wenige Frauen), die diese oder eine ähnliche Tätigkeit schon im Nationalsozialismus ausgeübt hatten. Für kritische Intellektuelle wie Walter Dirks oder Eugen Kogon boten diese »restaurativen Tendenzen« schon Anfang der 1950er Jahre Anlass zu großer Sorge. Nicht nur die frühen Wahlerfolge der NSDAP-Nachfolgepartei SRP (Sozialistische Reichspartei) bestätigten diese Bedenken, sondern mehr noch, wie Kogon es formulierte, eine »Politik der überlieferten >Werte<, Mittel und Denkformen, der scheinbaren Sicherheiten, der Wiederherstellung bekannter Interessen. (.) eine Politik des Mangels an Vorstellungskraft.«[8]
Seit den späten 1970er Jahren dominierte jedoch in der Zeitgeschichte für einige Jahrzehnte eine Sicht, die solche Bedenken für übertrieben hielt. Langfristig, so das allgemeine Urteil, hätte eindeutig der Neubeginn überwogen. Er basierte auf drei Faktoren: politisch auf der demokratischen und rechtsstaatlichen Verfasstheit, sozial und kulturell auf den durch den Krieg erzeugten, teils dramatischen Veränderungen sowie, last but not least, auf der Einbindung in den freien Westen. Durchaus vorhandene »vordemokratische Autoritätsmuster und illiberale Traditionen«,[9] so die gängige Interpretation, seien in einem langsamen, aber äußerst erfolgreichen Prozess der Modernisierung, Liberalisierung und Demokratisierung überwunden worden. Das Ausmaß dieser »allenthalben feststellbaren >Fundamentalliberalisierung< von Staat, Gesellschaft und Politik« sei »geradezu atemverschlagend« gewesen. Dies gelte vor allem angesichts der tiefgreifenden »politischen, ideologischen und mentalen Einwurzelung des NS-Regimes«, die von der zeithistorischen Forschung über die Jahre herausgearbeitet worden ist.[10]
War die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, folgt man dieser Interpretation, also pünktlich zur Jahrtausendwende doch noch an ein gutes Ende gekommen, begann sich zeitgleich ein Unbehagen an dieser zwar kritischen, aber letztlich erfolgsbetonten Meistererzählung zu regen. Dies zeigte sich sowohl in den zahlreichen Forschungen zur Elitenkontinuität in staatstragenden Institutionen als auch in den kritischen Analysen der justiziellen und politisch-moralischen Aufarbeitung der NS-Zeit. Schon 1999 sprach daher der Zeithistoriker Axel Schildt von »fünf Wegen, die Geschichte der Bundesrepublik zu erzählen«, darunter auch Varianten als »Belastungsgeschichte« und »Misserfolgsgeschichte«.[11]
Auch US-amerikanische Kolleginnen begannen zu dieser Zeit, das »Erlösungsnarrativ« der gelungenen »Ankunft im Westen« zu hinterfragen. Sie wiesen auf das Fortbestehen des Rassismus in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft hin und zeigten damit die Grenzen demokratisch verbriefter Gleichheit auf.[12] In einer historischen Studie zur »Gastarbeiterfrage« arbeitete Rita Chin heraus, dass die Präsenz von Ausländern für die Entwicklung der (west-)deutschen Demokratie und letztlich auch der nationalen Identität eine zentrale Rolle gespielt hat. Beides könne man nicht adäquat erfassen, wenn dieses Thema in Überblicksdarstellungen weiterhin in Unterkapiteln zu »Minderheiten« oder »Migration« abgehandelt würde. In einem kurz darauf publizierten Band wurden diese Argumentationslinien mit der allgemeiner gefassten, nun auch Jüdinnen und Juden einschließenden Frage nach »Differenz und Demokratie« in der deutschen und europäischen Nachkriegsgesellschaft verknüpft.[13]
Erst um 2020 schien die Zeit schließlich reif für eine atlantikübergreifende Kritik an der Erzählung der (west-)deutschen Nachkriegsgeschichte als Erfolgsgeschichte, die mittlerweile die gelungene Vereinigung 1990 mit einbezog. Diese Sicht zeige »wenig Gespür für die Kontinuität von Ungleichheitserfahrung«, heißt es vorsichtig in einem Band aus deutscher Feder. Es wird jedoch zugleich angemerkt, dass die Auswüchse der...
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