Schweitzer Fachinformationen
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Eine Geschichte über das Annehmen
Das erste Clownsprinzip ist das Annehmen, und es ist für mich unumgänglich. Es mag daher widersprüchlich erscheinen, dass es als Clown genau genommen wenig Sinn ergibt, sich allzu starr an Prinzipien zu klammern. Kreativität, Humor und Komik entstehen im Spiel, im Loslassen und nicht im Festhalten am Regelwerk. Gerade darum aber ist das Prinzip des Annehmens essenziell. Mit diesem einen Prinzip lassen wir all unsere Prinzipien und Urteile los, ob auf der Bühne, in der Improvisation oder im Leben. So ist das Annehmen viel mehr eine Einstellung als ein Prinzip. Es ist eine Grundhaltung gegenüber allem, was uns widerfährt, auf der Bühne und im Leben.
Die Reise des inneren Clowns und die Reise des Menschseins beginnt mit einem Wort, mit einem einfachen Ja zu dieser verworrenen und schönen Welt.
Die Reise meines Lebens und somit meine Kindheit begann womöglich etwas chaotisch. Ich bin die zweitgeborene Tochter von Eltern, die in unserer Kindheit alles andere konnten, als ein normales Leben zu führen. Ich verdanke ihnen mein Leben, auch wenn ich einiges darin mit Sicherheit nicht freiwillig gewählt hätte. Ich bin tollpatschig, leichtsinnig, vergesslich, kann nicht mit Zahlen umgehen und leide unter einer Rechts-links-Schwäche. Diese Attribute wirkten auf andere Menschen zuweilen seltsam, und ich fühlte mich in jungen Jahren oft unverstanden oder schämte mich gar. Ich sei ganz einfach zu faul, so hieß es manchmal. Es sei doch nun wirklich nicht zu viel verlangt, eine einzige Uhrzeit im Kopf zu behalten! So begann ich, alles zu notieren, was um mich herum passierte, um nicht doch wieder irgendwelche Termine zu verpassen oder in den Bus mit der falschen Nummer einzusteigen. Auf lange Sicht war diese Angewohnheit ein riesiges Geschenk, denn so übte ich das Beobachten und Schreiben.
Unsere Kindheit war die erste lange Reise meines Lebens. Meine Schwester und ich wuchsen in einem elf Meter langen Wohnwagengespann auf, das kreuz und quer durch Deutschland fuhr. Dieses Gespann war von oben bis unten - nein, andersherum - vollgestopft mit allerlei Krimskrams: Clownpüppchen, Leucht-Jo-Jos, wackelnde Mobilepapageien und ein riesiger Stapel eines halb fertigen Kinderbuches. Unser Vater hatte dieses Skript gezeichnet und geschrieben. Es war eines der ersten Bücher der Kategorie »personalisiertes Kinderbuch«. Jeder Anton, Hannes oder Phillip konnte so als kleiner Lausbengel eine bunte Abenteuergeschichte über sich selbst lesen und die Illustrationen dabei auch noch eigenhändig ausmalen. Nicht dass nur Anton, Hannes, Phillip, oder wie man seine Sprösslinge zu dieser Zeit sonst noch nannte, in der Handlung des Buches eine wichtige Rolle gespielt hätte. Nein, auch Lisa, Hanna oder Marie als beste Freundin war die Heldin dieser Geschichte. Dazu kam noch Bärbel, Birgitt oder Beatrix, die Mutter von Anton, Hannes oder Phillip, und als wäre das noch nicht genug, meldete sich Peter, Michael oder Gunner, der Vater, ebenfalls zu Wort. Wenn Anton, Hannes oder Phillip, aber selbst Lisa, Hanna oder Marie hießen, war das natürlich auch kein Problem.
Um es abzukürzen: Unser Vater vervollständigte jedes Kinderbuch erst dann, wenn sich ein Kind gefunden hatte, dessen Eltern für ein personalisiertes Kinderbuch die Geldbörse zückten. Davon fand er damals einige. So kam es, dass wir in einem noch weitgehend internetfreien Zeitalter zu Märkten und auf Messen dieses Landes fuhren und jeden Tag versuchten, Anton, Lisa, Bärbel und Peter ein kleines bisschen glücklicher zu machen.
Der eigentliche Star des Buches war aber nicht ein auswechselbares Kind oder seine genauso auswechselbaren Freunde und Eltern, sondern Papapillo der Clown. Papapillo war ein großer schlaksiger Kerl mit einem roten Hut, von dem eine noch rötere Blume herabhing. Er trug ein blau-weiß gestreiftes Hemd, gefühlte vier Kilo Clownsschminke im Gesicht und - welch eine Überraschung - viel zu große Schuhe. Natürlich war diese Aufmachung gleichzeitig die Arbeitsuniform unseres Vaters. Unsere Mutter als Mitinitiatorin der ganzen Sache hüpfte, ebenfalls in blau-weiß gestreifter Fanmontur, hinter dem Stand hin und her. Meine Schwester und ich blieben von dem ganzen Schauspiel natürlich keineswegs verschont und wurden kurzerhand in knallbunte selbst gestrickte Zirkus-Clownsjacken gesteckt. Selbst unsere Omi war ein wichtiger Teil dieses verschrobenen Unterfangens und zog des Öfteren mit uns im Wohnwagen umher, nähte Kostüme und bastelte Messestandkulissen. Sie war ein wahres Wunder, wenn es darum ging, unkonventionelle Lösungen aus dem Nichts hervorzuzaubern.
In unseren viel zu bunten, aber heiß geliebten Strickjacken bezogen meine Schwester und ich an jedem neuen Ort tagelang Quartier in einem großen, leeren, mit Decken und Kissen gefüllten Pappkarton unter dem Verkaufstresen. All meine Kinderträume von einem Leben als Indianerin, Archäologin, Alchemistin oder Geheimagentin malte ich mit Wasserfarben auf die Wände der Kartonhöhlen. Mit jedem Markt konnte ich ein anderes Leben führen. Was hätte ich bloß mit einem fertig eingerichteten und immer gleichen Zimmer angefangen, das obendrein so viel gekostet haben musste, dass ich es nicht einmal mit meinen kühnsten Abenteuerträumen hätte besudeln dürfen? Womöglich hätte ich tagein, tagaus vom Leben einer rosa Prinzessin träumen müssen. Ich war froh, ein Kartonkind zu sein.
Wir hatten aber trotz der Widrigkeiten unseres modernen Nomadenlebens, genauso wie Anton, Hannes und Phillip, Freunde. Vor allem mir war das wichtig. Meine Schwester lebte viel in ihrer eigenen Welt und hatte einen imaginären Freund namens Hänschen. Meist besetzte Hänschen genau den Stuhl, auf den ich mich setzen wollte. Der Gepäckträger unseres Kinderfahrrades war ebenfalls stundenlang von ihm besetzt, und so musste ich meist auf dem Lenker fahren, oder mich ganz dicht an den Sattel quetschen, damit wir beide, Hänschen und ich, hinten Platz hatten. Wehe, ich machte es mir zu bequem und Hänschen fiel herunter. Ich konnte ihn ja weder sehen noch spüren, meine Schwester dafür umso mehr.
Vielleicht stolperte ich schon in dieser ersten Episode meines Lebens unwissentlich wieder und wieder über die Grundhaltung des Annehmens. Wer mit zwei Geschwistern, von denen nur eines sichtbar ist, in einem kleinen Pappkarton aufwächst, lernt Toleranz, Offenheit und Inklusion von der Pike auf.
Den meisten anderen Schaustellerkindern erging es in ihrem Alltag nicht viel anders als uns. Sie hatten zwar keine unsichtbaren Geschwister, die sogar von den Eltern ernst genommen wurden, dafür aber genauso grässliche Klamotten wie wir. Hänschen war fein raus, er durfte einfach immer anziehen, was er wollte. Wir beide und die anderen Schaustellerkinder aber wurden Mitte der Neunziger noch in Klamotten gesteckt, bei denen man sich nie sicher sein konnte, ob diese bunten Achtzigerfummel überhaupt noch erlaubt waren. Marktfahrereltern hatten andere Probleme als die neusten Modeentwicklungen der Geschichtsschreibung. So teilten wir bunten, aber glücklichen Kinder der Entwurzelung uns die Pappkartonhöhlen unter den Verkaufstresen unserer Eltern, wann immer wir uns in einer anderen Ecke dieses Landes wiedertrafen.
Irgendwann veränderten sich die Dinge ein wenig. Unsere Mutter tauschte ihr blau-weiß gestreiftes Papapillo-Outfit gegen ein langes dunkelrotes Kleid aus fließendem Baumwollstoff. Die feuerroten, wild gelockten Haare hingen offen über die Schultern, und ihre Handgelenke zierten jetzt eine ganze Menge silberner Armreifen. Sie hatte sich als Handleserin Augura selbstständig gemacht. Neben all dem Krimskrams im Wohnwagen musste nun also auch noch ein mittelalterliches Handlesezelt inklusive Interieur Platz finden. Aus Messen wurden vermehrt Mittelaltermärkte, und Papapillo tauschte einige seiner Leucht-Jo-Jos aus Plastik gegen Holzschwerter, Ritterhelme, Klingelschilder aus Keramik und Frühstücksbrettchen aus Holz.
Unsere Eltern waren Meister darin, sich immer wieder neu zu erfinden. Wo eine neue Herausforderung auftauchte, gab es auch einen neuen Weg, der wiederum unverhoffte Abenteuer bot.
Auch meine Schwester, Hänschen und ich hatten ein paar Dinge in unserem Leben mit den neuen Umständen verändert. Unser Quartier bezogen wir jetzt meist in einem abgetrennten Bereich im Zelt unserer Hexenmutter auf einem großen Schaffell. Hier war es mittelalterlich urig und gemütlich. Unser Kinderzimmer hatte neue Dimensionen angenommen. Allerdings durften wir keinen Mucks von uns geben, solange ein Klient oder eine Klientin bei Augura im vorderen Teil des Zeltes saß. Wir durften auch nicht lauschen, weil die Menschen oftmals sehr persönliche Dinge sagten, die nur für die Ohren unserer Mutter bestimmt waren. So krabbelten wir unter der Rückwand des Hexenzeltes hervor und machten unser eigenes Ding.
Auch wir hatten erkannt, dass uns die Mittelaltermärkte neue Chancen boten. Nicht nur, was den Kleidungsstil anbelangte. Wir waren uns schnell einig und hatten kurzerhand beschlossen, einen Zirkus zu gründen. Vater Clown, Mutter Hexe, Bruder unsichtbar. So war es nur vernünftig, wenn wir Mädchen Zirkusartistinnen wurden. Als Hänschen von den neusten Entwicklungen Wind bekam, war auch er sofort mit dabei. Ich war mir nicht sicher, wie gut wir ihn bei unseren Geschäften gebrauchen konnten, aber ich wusste, dass es nichts nützen würde, ihn einfach auszuschließen. Er würde ohnehin irgendwo auftauchen, wo ich ihn nicht erwartet hatte. Nach einer kurzen und intensiven Strategiebesprechung waren wir so weit.
Meine Schwester hatte schon früh Talent und eine unglaubliche Geduld...
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