Schweitzer Fachinformationen
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Frank Schubert und Martin Wigger
Bern wurde von Beginn an ein freies Modell zugeschrieben. Die reiche Geschichte der Schule hatte immer eine vor allem sprengende Kraft. Schon in dem Dokumentarfilm In fremden Landen aus dem Jahr 1994 von Markus Baumann und Hugo Sigrist über eine Berner Absolventenklasse kann man diese Kraft spüren. Da gab es bereits starke Persönlichkeiten, die einen Gegenpart zu den üblichen Vorsprechsituationen bildeten. Persönlichkeiten mit starkem Widerspruchsgeist.
Bern reagierte extrem früh auf das postdramatische Theater und die Performancekunst. Das Regietheater schien schon damals am Ende, man suchte nach neuen Formen, nach einer neuen Energie und auch nach einer anderen Körperlichkeit. Der Begriff Performance bedeutet wörtlich, dass man durch eine Form hindurchgeht, sie erlebt, um vielleicht zu einem wahren Subjekt zu kommen. Performancekunst ist auch Bestätigung eines Subjektes, Betonung einer Autorschaft. Die Idee der Autorschaft, gekoppelt an den Performancebegriff, war in Bern immer stark. Jetzt sind wir in einer Zeit angekommen, in der Autorschaft übergreifend durchgesetzt ist. Es wird nicht nur auf das Handwerk gesetzt, sondern vor allem auf die Persönlichkeit.
Der Professionalisierungsprozess begann vor zwanzig Jahren. Solides schauspielerisches Handwerk rückte ins Zentrum der Ausbildung, ohne dass performative Tendenzen negiert wurden. Bis heute steht man an dieser Stelle zwischen den Welten. Mitunter werden kreative Freiräume zugunsten einer breiten Vermittlung unterschiedlicher Techniken und Methoden aufgegeben, die die zeitgenössische Praxis mit ihrer größeren Vielfalt an Spielweisen verlangt. Heute stehen wir vor der Frage: Wie lassen sich die notwendigen kreativen Freiräume weiter aufrechterhalten, ohne dass die Absolventen die Chance verlieren, von ihrer Arbeit zu leben?
Bereits das Grundlagenseminar vereint die Welten in ihrer ganzen Unterschiedlichkeit. Am Anfang stehen immer die unverwechselbare künstlerische Persönlichkeit, der individuelle Ausdruck und die persönlichsten Inhalte der Studierenden. Das schauspielerische Handwerk ist nur als Mittel zum Zweck zu sehen. Das führte zu völlig neuen Programmpunkten im Grundlagenseminar, die das klassische Programm ergänzten. So wurde eine Ausbildungsphilosophie praktisch konkret, die sich von anderen Schulen deutlich unterscheidet, obwohl sich nach wie vor einzelne Positionen im Curriculum decken. Wir legen vom ersten Studientag an die Basis für ein Bewusstsein, das in regelmäßigen Projektarbeiten und Laboren kontinuierlich vertieft wird und auch das klassische Szenenstudium nachhaltig beeinflusst. Ein Szenenstudium ist nicht nur szenisches Arbeiten mit dem Hauptziel der Vertiefung schauspielerischen Handwerks. Im Wortsinn studieren wir die Szenen. Das bedeutet, wir erforschen einen Autor, seine Figuren, seine Denkweise und den Text in seinen spezifischen Besonderheiten; das setzen wir dann möglichst persönlich ins Verhältnis zu unserer Gegenwart. In den höheren Semestern führt die Arbeit an den Figuren, den Vorgängen, Konflikten und an der Sprache direkt zu der Frage nach einer Spielweise, die uns aus der zementierten Identifikationsfalle führt. Welche Nähe oder Distanz zu einem Stoff ist nötig? Mit dieser Frage hat schon Brecht gekämpft. Es geht also nicht mehr zentral um die Verkörperung, sondern darum, sich persönlich und vertieft mit den von einem Autor vorgeschlagenen Konflikten auseinanderzusetzen. Und so landen wir auch immer wieder bei der Frage: Wer bin ich, wenn ich spiele?
Die prozessorientierte Arbeit steht im Mittelpunkt, nicht die attraktive Präsentation. In »Intervisionen« werden Teilergebnisse klassenintern vorgestellt und diskutiert. Am Ende werden die Arbeitsergebnisse dann schulintern in »Werkgesprächen« zur Diskussion gestellt, bevor sie in einem »WorkOut« auch interessierten Freunden der Schule präsentiert werden. Die Studierenden sind dazu aufgerufen, einen gesellschaftlich relevanten Diskurs aufzunehmen oder zu entzünden.
Mit einem solchen Prozess kommen wir neben der Regie, dem Spiel und dem Autor zu einem letzten Aspekt von Autorschaft: der Autorschaft des Publikums. Dieses will hinein in die Prozesse. Es will mitdenken. Es will ebenfalls Freiheiten. So können wir tatsächlich alles rund denken. Die Welt, die Bühne, das Theater und die Schauspielausbildung.
Immer mehr Berner Absolventen behaupten sich in der Theaterpraxis gegenüber diesen Prozessen. Wir sehen, wie es beispielsweise Gina Haller in Johan Simons' Hamlet in Bochum gelingt, sich den erfahrenen Kolleginnen und Kollegen zu stellen. Man spürt, sie will etwas wissen. Man staunt über eine Art von Selbstverständlichkeit, die sich sowohl physisch als auch intellektuell zeigt. Auch Absolventen wie Kay Kysela und Maximilian Reichert, die fast schon zu Protagonisten am Schauspielhaus in Zürich wurden, geben ein besonderes Beispiel, was der »Berner Kosmos« auszurichten vermag. Und das sind nur einige Beispiele von vielen. Diese jungen Künstler haben etwas zu erzählen. Sie stellen sich in all ihren Eigenarten auf die Bühne und erzählen gerade dadurch sehr viel mehr als andere, die vor allem auf ihr Handwerk und ihr Können zurückgreifen.
Handwerk als Mittel zum Zweck. Und der Zweck ist oft genug eine radikal persönliche Geschichte, die erzählt werden muss. So provoziert Tabea Buser in ihrem Projekt 5 DEZI den »Nunc stans«. Sie sucht diesen einen Moment, in dem die Zeit anhält, um in die Tiefe zu kommen - ein Moment vergleichbar mit einer ernst gemeinten Hochzeit, der bewusst erlebten Geburt eines Kindes oder dem Todesfall eines geliebten Menschen. Sie nennt es einen göttlichen Moment. Solche Momente suchen zwischen den Welten. Sie beschreiben eine Zwischenwelt, in der sich zwei verlorene Hälften treffen, die zueinander gehören. Der Gedanke erinnert an Platons Bild der Kugelmenschen. Wir suchen den »Nunc stans«, das Stehenbleiben, um zu einer Art von Bestandsaufnahme zu kommen. Immer wieder.
Und heute findet diese Bestandsaufnahme in einer Zeit statt, in der sich das Theater auch in einer neuen Form physischer Auseinandersetzung befindet. Ein Virus hat unseren gesamten Rhythmus zerstört. Der Spielbetrieb der Theater, mit ihm die Spielpläne, die Räume, die physische Nähe von Darstellern und Darstellerinnen, Zuschauern und Zuschauerinnen und natürlich auch die Lehrpläne aller Schulen stehen auf dem Prüfstand. Was kann da entstehen? Und was entsteht aus einer Berner Schauspielausbildung für die Zukunft? Es bedeutet die vertiefte Suche nach einer Subjektivität, die das Subjekt noch gar nicht kennt. Es kann sehr produktiv sein, eine entstehende Leere zu füllen. Wir haben die Chance, den Rucksack tatsächlich neu zu packen, und besinnen uns darauf, dass am Berner Modell eine umfassende Direktheit auffällt. Unser Kollegium sucht die Momente, die aus der Gegenwart herausstechen.
Zu einem Studium, auch zu einem Szenenstudium, gehört Forschungsarbeit, also die Suche nach dem, was wir noch nicht wissen. Und da schließen wir uns als Dozierende ausdrücklich mit ein. Das Studium einer Szene kann zu formal interessanten, sogar außergewöhnlichen Erfindungen führen. Zu Metaphern, Mitteln und Strukturen jenseits eines Planes. Das weckt eine große Lust an der Verwandlung und an ungewöhnlichen spielerischen Ausdruckformen.
An den Berner Studierenden fällt auch immer wieder eine außergewöhnliche Bereitschaft auf, über Themen nachzudenken, die das Theater strukturell betreffen. Man weiß, dass man nicht unbedingt an ein klassisches Theater gehen muss. Man muss sich nicht einem Regisseur beugen, der einem sagt, was man zu denken und zu spielen hat. Die Fähigkeit, sich einer Autorität verweigern zu können, wird Teil unseres täglichen Lebens und Arbeitens. Sie hilft, Angst zu überwinden, und kann zu einer extrem optimistischen Grundhaltung führen. Immer erfolgreicher brechen viele der Berner Absolventen mit zementierten Konventionen. Sie verweigern sich produktiv der institutionellen Autorität des Theaters, ohne die Institution als solche infrage zu stellen. Melina Pyschny am Theater Aachen oder Julia Gräfner, die gerade aus Graz nach München gewechselt ist, nutzen die Institution auch für ihre eigenen Projekte und verändern diese damit produktiv. Es sind nur zwei Beispiele von vielen, die heute ein Denken fortsetzen, das sich schon vor Jahren durchzusetzen begann. Schon eine Künstlerin wie Ariane Andereggen, die in den 1990er Jahren in Bern studierte, verkörpert das Gesamtmodell einer Darstellerin, die im Schauspiel ebenso zu Hause ist wie in der Videokunst oder der Bildenden Kunst.
Das Berner Modell will das Selbstbewusstsein und die Persönlichkeit stärken. Das entspricht der Emanzipation als Grundidee von Theater. Denkt man in der Geschichte zurück, hatte Theater nie eine andere Funktion. Mit einem eigenen körperlichen Ausdruck kann sich der Mensch im Theater von seinem...
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