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Identitätspolitik polarisiert. Die Diskussionen darüber spalten die öffentliche Debatte genauso wie politische Parteien und die Wissenschaft. Der politische Streit um ist in der gesamten westlichen Welt zum Kernthema von neuen Kulturkämpfen geworden, die sich um die Frage drehen, in welche Richtung sich die demokratische Gesellschaft weiterentwickeln sollte. Diese Kämpfe sind daher längst kein reines Feuilleton-Thema mehr, sondern nehmen entscheidenden Einfluss auf Wahlen und Regierungsmacht. Während die konservativen Parteien mit einer klaren Kante gegen Identitätspolitik auf Stimmenfang gehen, ist die Partei Die Linke maßgeblich am Streit über Identitätspolitik zerbrochen.
Wem die Demokratie am Herzen liegt, sollte sich deshalb mit den gegen Identitätspolitik vorgebrachten Argumenten ernsthaft auseinandersetzen. Denn in den oft polemisch und aggressiv geführten Debatten um und gegen Identitätspolitik stecken bei genauerem Hinsehen eine Reihe komplizierter und fundamentaler demokratietheoretischer Fragen, die auch aus einer identitätspolitik-freundlichen Perspektive nicht einfach abgetan werden können. Ein Hauptargument, das immer wieder vorgebracht wird, lautet, dass Identitätspolitik die Demokratie gefährde. Und zwar, weil sie den Kern des Demokratischen zersetze.
Dieser Kern wird von verschiedenen Kritiker_innen allerdings unterschiedlich verstanden. Grob kann man drei verschiedene Strömungen unterscheiden: Liberale befürchten, dass Identitätspolitik den freien Diskurs und die individuelle Freiheit gefährde; sie plädieren deshalb für universelle Rechte auf Meinungs- und Kunstfreiheit sowie für eine Ethik des herrschaftsfreien Diskurses, die sich an Vernunftprinzipien orientiert. Eine andere Befürchtung lautet, dass Identitätspolitik die demokratische Gemeinschaft spalte und die Solidarität im Volk unterlaufe - ich nenne diese Position kommunitaristisch, auch wenn sich heute kaum jemand explizit mit der demokratietheoretischen Schule des Kommunitarismus identifiziert. Und eine genuin linke Kritik an Identitätspolitik argumentiert materialistisch, denn ihr geht es darum, dass Identitätspolitik Emanzipationsbewegungen spalte, indem sie die gesellschaftskritische Aufmerksamkeit von kapitalistischer Ausbeutung und ökonomischer Ungleichheit ablenke. Im öffentlichen Diskurs und teilweise auch in der Wissenschaft findet man oft Kombinationen dieser Argumente, so bedienen sich beispielsweise Feddersen und Gessler (2021) aller drei Topoi.
Kritisiert wird Identitätspolitik also meist mit Bezug auf die Demokratie und deren potentielle Gefährdung. Dass Identitätspolitik eine Frage der Demokratie ist, darüber sind sich die meisten Kritiker_innen der Identitätspolitik also einig - und haben damit auch Recht: Die Debatte um Identitätspolitik ist angewandte öffentliche Demokratietheorie. Deshalb antwortet dieses Buch auch genau auf dieser Ebene und schlägt eine neue Demokratietheorie der Identitätspolitik vor. Dabei geht es um fundamentale Fragen: Was ist eigentlich Demokratie, und welche Rolle spielt soziale Exklusion dabei? Wer ist das demokratische Wir - das - und wie entwickelt es sich weiter? Wie sollten wir demokratischen Fortschritt verstehen? Und gibt es so etwas wie einen universellen und vernünftigen Standpunkt, von dem aus es möglich wäre, allgemeine Urteile zu fällen, also beispielsweise Fortschritt auf allgemeine Weise und damit für alle zu definieren?
Die Hauptthese dieses Buches lautet, dass Identitätspolitik für die Demokratisierung der Demokratie unverzichtbar ist. Es geht also darum, eine grundsätzlich andere Auffassung von Demokratie und Identitätspolitik zu entwickeln als diejenige, die in den Kritiken artikuliert wird. Diese Auffassung beruht auf einer ganzen Reihe sozialphilosophischer und politiktheoretischer Argumente, die vor allem aus der radikalen Demokratietheorie und der politischen Epistemologie stammen. In diesem Rahmen wird Demokratie nicht (nur) als das institutionelle und rechtliche Gefüge verstanden, das wir normalerweise mit ihr verbinden, sondern der Akzent liegt in erster Linie darin, Demokratie als einen Prozess der weiteren Demokratisierung durch Herrschaftskritik zu denken. Es geht demnach bei Demokratie immer darum, das demokratische Versprechen - tatsächliche gleiche Freiheit für alle Menschen - weiter zu realisieren. Das heißt, das primäre Anliegen dreht sich um die laufende Demokratisierung der Demokratie.
Das vorliegende Buch bemüht sich darum, das Lob der Identitätspolitik so klar und differenziert wie möglich zu begründen. Dabei wird es nicht alle Leser_innen überzeugen können, denn man kann auf Grundlage anderer Theorien und anderer empirischer Einschätzungen bei allen Punkten zu anderen Bewertungen kommen. Aber um Überzeugung geht es mir auch nicht in erster Linie. Mein Anliegen ist vor allem, dass wir in eine differenzierte Debatte zur Identitätspolitik und ihrer Bedeutung für die Demokratie kommen. Und trotz des generellen Lobes von Identitätspolitik ist auch klar: Innerhalb von Identitätspolitiken werden viele Fehler gemacht, und dieses Buch ist keine carte blance für alle möglichen Formen des identitätspolitischen Engagements. Ich werde deshalb auch Vorschläge zur Unterscheidung von und Identitätspolitik machen - die komplizierter ist als meist angenommen.
Die Demokratisierung der Demokratie ist nötig, weil die real existierenden demokratischen Institutionen ihren eigenen Maßstäben nicht gerecht werden: Viele Gruppen sind diskriminiert und von ökonomischer, sozialer und politischer Teilhabe ausgeschlossen. Das Volk selbst, das Fundament der Demokratie, ist also unvollständig und ausschließend. Bei demokratischem Fortschritt geht es folglich um seine Ausweitung, das heißt, um gerechtere Teilhabe. Dies ist der Ausgangspunkt der Überlegungen des Bandes - und eine Position, die selbst Gegenstand der Kulturkämpfe ist. Ich plausibilisiere diese Position deshalb im ersten Kapitel. Ich zeige dort, dass Identitätspolitik auf real existierende Diskriminierungsstrukturen reagiert, die sich empirisch nachweisen lassen, und erläutere mein Verständnis von Demokratie als eine Art des politischen Engagements, das sich gegen solche Diskriminierungen richtet. Denn genau um diese Diskriminierungen geht es bei den aktuellen Kulturkämpfen. Hier steht der Einsatz für mehr soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Inklusion einer immer aggressiver auftretenden Kritik dieser Ansprüche gegenüber. Identitätspolitik beschreibt eine Seite dieser Kämpfe: Sie kann im Sinne der Geschichte des Konzepts und der aktuellen Debatten als eine politische Praxis marginalisierter Gruppen verstanden werden, die sich in Bezug auf eine kollektive Identität gegen ihre Benachteiligung durch Strukturen, Kulturen und Normen der Mehrheitsgesellschaft wehren. Dabei bauen sie auf geteilten Praktiken, Erfahrungen und Interessen auf, indem sie diese zu etwas Gemeinsamen verknüpfen und damit einen Standpunkt entwickeln, von dem aus sie Exklusion und Diskriminierung kritisieren. Thematisch geht es bei heutiger Identitätspolitik insbesondere um Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Queerfeindlichkeit und Klassismus.[1] Und es geht immer auch darum, wie diese mit ungerechter Einkommens- und Vermögensverteilung verstrickt sind, denn Diskriminierung korreliert mit größerem Armutsrisiko - und die Armutsrisiken sind in Deutschland sehr groß, insofern die reichsten 1 % der Deutschen etwas über ein Drittel des Gesamtvermögens besitzen und damit mehr als 90 % der Bevölkerung zusammen (Schröder et al. 2020: 515), wobei insbesondere die Tatsache, dass Erbschaften nur sehr gering und Vermögen z. Z. gar nicht besteuert werden, zu dieser Ungleichheit beiträgt. Die Kritik an Identitätspolitik basiert wiederum auf der gegenteiligen Prämisse: Dass Diskriminierung kein fundamentales Problem unserer Gesellschaft mehr sei. Ich werde im zweiten Kapitel argumentieren, dass sie darauf hinausläuft, die eigene Vormachtstellung, genauer, die eigenen Privilegien, zu erhalten. Während Privilegienverteidigung zwar meist nicht das explizite Anliegen der Kritiker_innen darstellt, so ist sie doch der Effekt des ...
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