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Wir fuhren nach Buchowo, jenes Dorf, in das ich mit meiner Mutter 1944 vor den Bombenangriffen aus Sofia geflohen war, das Dorf, in dem wir von einer achtköpfigen Bauernfamilie aufgenommen worden waren und in einem ihrer zwei Zimmer neun Monate gelebt hatten. Buchowo, das war für mich der Inbegriff eines elementaren, ungetrübten Glücks.
Es lag etwa zwanzig Kilometer von Sofia entfernt, und die zweispurige Straße, die dort hinführte, schien immer noch dieselbe zu sein. Der Schnee bedeckte die Flächen weiter, ungenutzter Felder, die Dächer kleiner, baufälliger Behausungen und milderte die Verwüstung der flachen, unharmonischen Landschaft. Kurz vor der Kreuzung, an der man nach Buchowo abbog, befand sich das Stahlwerk »Gremikovzi«, ein riesiger grauer Klumpen zerfallender Gebäude, Fabrikanlagen und Werkschuppen hinter einem hohen Stacheldrahtzaun. Ein Schornstein spie schwarze Rauchballen in den blaßgrauen Himmel und zeigte damit an, daß ein Teil des Werks noch in Betrieb war.
»Reicht nicht mal für Schrott«, brummte Bogdan, »reicht aber gut, Umgebung zu vergiften.«
»Noch schlimmer als Gremikovzi ist das Uranwerk«, sagte ich, »daß man das Zeug ausgerechnet in Buchowo finden mußte! Man wollte doch die Dörfer in dieser Gegend evakuieren.«
»Wollte man, hat man nicht. Hat man Werk geschlossen und läßt man Menschen hier krepieren.«
Es war das zweite Mal, daß ich nach Buchowo fuhr. Während des kommunistischen Regimes war es dank des Uranwerks militärisches Sperrgebiet gewesen, und als man das Verbot nach der Wende aufhob, hatte die Sperre bei mir eingesetzt. Sollte ich das Dorf, das ich geliebt, die Menschen, die mir so viel gegeben, das Glück, das ich dort empfunden hatte, auf eine so harte Probe stellen? Sollte ich es nicht in der Erinnerung einer Sechzehnjährigen behalten, unangetastet und von den Jahren verklärt? Sollte ich diesen Schatz, den ich in mir trug wie die Auster eine Perle, dem harten Licht der Gegenwart ausliefern, mein Buchowo seiner Ursprünglichkeit, meine Brüder Spassov ihrer Jugend und mein Glück, sowohl des einen als des anderen beraubt, ins Schattenreich nostalgischer Illusion verbannen? Ich hatte mich für den Schatz einer unangetasteten Erinnerung entschieden und war nicht hingefahren.
Es war Bogdan gewesen, der meiner Buchowo-Geschichten überdrüssig, eines Sonntags vor zwei Jahren beschlossen hatte: »Heute wir fahren in dein Märchendorf und besuchen die herrlichen Bauern. Mußt du geheilt werden.«
»Ich will aber gar nicht geheilt werden!«
»Spielt nicht Rolle, fahren wir trotzdem.«
Ich hatte Buchowo nicht wiedererkannt. Die wenigen kleinen Lehmhäuschen, die sich um den holprigen Platz mit dem Brunnen, der Schule, Kirche und Kneipe geschart hatten, waren verschwunden und an ihrer Stelle standen in kilometerweitem Umkreis ein- bis zweistöckige, kastenförmige Häuser aus Beton oder Ziegelstein, die zum Teil unverputzt und in Erwartung ihres baldigen Zerfalls nicht einmal ganz fertig gebaut worden waren. Ein holpriger Platz war noch da gewesen, aber an dem befand sich nur noch eine Kneipe, ein Laden - als solcher durch eine Kiste Kohlköpfe erkennbar - und eine kurze Zeile aneinandergepappter, dreistöckiger Häuser, von denen eins wie ein schwangerer Elefant aussah, denn man hatte versucht, es mit einem bauchigen Balkon aus grauem Beton auszustatten.
»Herrlich schöne Dorf«, hatte Bogdan gespottet, »und wo du hast gewohnt?«
Ich hatte mich hilflos umgeschaut und erklärt, daß dieser schauderhafte Ort nicht mehr mein kleines, aus der Natur herausgewachsenes, aus Lehm gebautes Buchowo wäre, daß keins der alten Häuser mehr da sei und man es vollständig zerstört hätte. Wo denn der Brunnen sei, aus dem wir das Wasser geholt hätten? Die Kirche, in der der älteste Sohn, Vassil, mit Mara getraut worden war? Die Schule, hinter der ich mich heimlich mit Boris getroffen hatte, denn es war nicht schicklich gewesen, alleine, außerhalb des Dorfes, mit ihm spazierenzugehen. Ob das der Platz sei, auf dem der abendliche Korso stattgefunden hätte? Ob das die Kneipe sei, in der man uns gegen Typhus geimpft hatte? Ob das überhaupt das Dorf Buchowo sei?
»Ist es«, hatte Bogdan ungerührt erwidert, »und müssen wir jetzt finden die Brüder Spassov. Werde ich mich erkundigen. Wie waren Vornamen?«
»Vassil, Angel, Weltscho, Bogdan, Goscho . bitte, bitte laß uns nach Sofia zurückfahren, sie werden alle nicht mehr da sein.«
Sie waren alle da gewesen, alte, verbrauchte, aber ungebrochene Männer mit breiten, slawischen Gesichtern, grauem Haar und wenig Zähnen. Jeder hatte sein eigenes Häuschen gehabt. Jeder hatte eine Frau und zwei Kinder gehabt. Jeder war überzeugter Kommunist gewesen, denn früher hatten sie in größter Armut gelebt und jetzt hatten sie alle einen Salon, der nur zum Vorzeigen da war, ein Schlafzimmer mit richtigem Bett und bunter Kunstfaserdecke darauf, einen winzigen Vorgarten mit überdimensionalen, da mit Uran verseuchten Blumen. Ihre Frauen brauchten nicht mehr bei der Feldarbeit zu gebären, ihre Kinder und Enkel genossen eine höhere Schulbildung und manche hatten sogar studiert. Bogdan, zu meiner Zeit ein elfjähriger Junge und der gescheiteste unter den Brüdern, war zum Ingenieur avanciert, trug Anzug und Krawatte, lebte in Sofia und war an diesem Sonntag nur zu Besuch nach Buchowo gekommen. Vassil, der Älteste, war Alkoholiker geworden, ein Laster, das sich günstig auf ihn ausgewirkt hatte, denn sein Kopf war klar gewesen wie nie zuvor und sein Erinnerungsvermögen, an alles was meine Mutter und mich betraf, phänomenal. Seine Frau Mara, deren Brautjungfer ich gewesen war, ein damals strammes neunzehnjähriges Mädchen mit dickem blonden Zopf und einem gewaltigen, in einem Leibchen zusammengeschnürten Busen, war zu einem alten kleinen Weiblein zusammengeschrumpft, in dessen runzeligem Gesicht ich nur noch die Augen wiedererkannt hatte: Augen so unschuldsvoll und geduldig wie die einer wiederkäuenden Kuh. Die weiteren drei Brüder, einer genauso alt wie ich, die zwei anderen jünger, hatten im Stahlwerk Gremikovzi gearbeitet und waren mit ihrem Beruf, der etwas Besseres darstellte als der des Bauern und Schafhirten, sehr zufrieden gewesen. Sie hatten es nicht fassen können, daß ich plötzlich wieder aufgetaucht war: Gientsche-Germantscheto, das junge Mädchen, das neun Monate lang der Mittelpunkt von Buchowo gewesen war und ein von ihnen geliebtes, behütetes Mitglied der Familie.
Es war Weltscho, den wir als ersten gefunden hatten. Damals, im Krieg, war er dreizehn gewesen, ein kompakter, schwerfälliger kleiner Kerl, der selten ein Wort verloren hatte. Daran schien sich nichts geändert zu haben.
»Ich bin Gientsche«, hatte ich gesagt, »das kleine Deutschchen, das während des Krieges neun Monate bei euch gelebt hat.«
Er hatte mich dumpf angestarrt.
»Erinnerst du dich nicht an Gientsche und ihre Mutter, die ihr alle Baba Mutti genannt habt?«
Da war das Dunkel einer allmählich dämmernden Erinnerung gewichen: »Boje meu!« hatte er leise gesagt, mein Gott . Und dann mit ausgestreckten Armen auf mich zutretend: »Gientscheto, das Gientsche.«
Er hatte sofort seine Brüder benachrichtigt und sie waren in Windeseile gekommen: Goscho, der Jüngste, Bogdan, der Ingenieur, Angel, der Fröhliche, Vassil, mit schweren Beinen und klarem Kopf, und seine Frau Mara, mit den guten Augen und den kläglichen Überresten eines Busens und Zopfes.
Das Wiedersehen damals, mit diesen bulgarischen Bauern, die eine Zeitlang meine Familie, meine Heimat gewesen waren, zählt zu den bewegendsten Ereignissen meines Lebens. Fünfeinhalb Jahrzehnte und ein weltweiter Unterschied zwischen ihnen und mir hatten die Vertrautheit und herzliche Freundschaft nicht auslöschen können. Weltscho hatte viele Flaschen Rakia geöffnet, seine Frau ihr bestes Eingemachtes aus dem Keller geholt. Angel hatte eine Kassette mit bulgarischer Volksmusik eingelegt, Vassil Geschichten von 1944 erzählt. Wir hatten gegessen und getrunken, Lieder gesungen und in der kleinen Küche Choro getanzt. Wir hatten uns umarmt und geküßt und vergessen, wie alt und müde wir geworden waren. Mara hatte mich auf ihre Knie gezogen und wie ein Kind in den Armen gehalten. Ich war nur drei Jahre jünger als sie, doch in diesem Moment wirklich wieder Kind, das in den Schoß der Familie zurückgekehrt, Schutz und Liebe gefunden hatte. Leute aus dem Dorf waren gekommen, um das Wunder zu bestaunen, alte, die mich noch gekannt, junge, die von mir gehört hatten: Gientsche, Germantscheto ist wieder da!
»Ach, was warst du doch für ein schönes, rundes Mädchen«, hatte Vassil ausgerufen, »alle waren in dich verliebt und Tschopsky, unseren Dialekt, hast du gesprochen so wie wir! Und Baba Mutti, was war das für eine kluge, gute Frau! Immer war ich bei ihr willkommen und dann hat sie mir erzählt, aus Berlin und von ihrem Sohn Peter, der Soldat in der französischen freien Armee war und am 7. Januar 1945 gefallen ist.«
Als ich aus dem Zimmer gelaufen war, um meine Tränen zu verbergen, war mir Vassil gefolgt: »Komm«, hatte er gesagt, »ich zeige dir das Haus, in dem wir alle zusammen gelebt haben, wir haben es nicht abreißen lassen, es steht hier gleich hinter Weltschos neuem Haus.«
Es war nicht mehr das alte Häuschen gewesen. Sie hatten ihm ein neues Dach aufgesetzt, die Fenster etwas vergrößert, die Mauern weiß getüncht, doch die Stube, in der ich mit meiner Mutter gewohnt hatte, leer jetzt bis auf ein Feldbett, war dieselbe geblieben. Ich hatte mich auf das Bett...
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