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Eine Welle des Unbehagens schlug über Else zusammen, eine Mischung aus Schuldbewusstsein und Furcht. Hier war ein Mann, ein stolzer, hingebungsvoller Vater, den sie dazu verdammt hatte, sein Kind zu verschweigen, ein Mann, dessen Gefühl, durch den Verstand ungefiltert, mit elementarer Kraft aus ihm hervorbrach, einer Kraft, die ihr womöglich das Steuer aus der Hand reißen würde. Sie streckte spontan die Arme nach dem Kind aus, und er legte es gefügig an ihre Brust zurück.
Die Großeltern kamen mit Malzbier und Hühnersuppe, Fritz mit Peter, Enie mit einem Strauß bunter Sommerblumen. Minna und Daniel umarmten und beglückwünschten ihren Schwiegersohn zu seiner neuen Tochter. Fritz brachte ein säuerliches Lächeln zustande. Hans verabschiedete sich hastig und lief aus dem Zimmer. Enie schleuderte Else einen wilden Blick zu. Die hob ihr, mit unschuldigem Gesicht, das verschnürte, schwarz behaarte Paket entgegen. Peter musterte es, wie einst seinen Teddybären, mit unverblümtem Ekel.
Ob er sich nicht freue, dass sie ihm ein kleines Schwesterchen geschenkt habe, fragte Else.
»Ein schwarzweißes Hündchen wäre mir lieber gewesen«, antwortete er beleidigt.
Fritz, Else einen Kuss auf die Stirn drückend, flüsterte, ihm wäre ein schwarzweißes Hündchen auch lieber gewesen.
»Das nächste Mal«, versprach Else und lachte.
Das Kind hätte Fritz' schwarzes Haar, rief Enie und schlug in maßlos übertriebenem Entzücken die Hände zusammen.
»Und eine Druckknopfnase«, sagte Fritz.
Die würde sich schon noch auswachsen, meinte Daniel.
Für ein Mädchen sei es wünschenswert, erklärte Minna, wenn sie sich nicht zu Fritz' Nasengröße auswüchse.
Enie lachte schrill, und Else verdrehte die Augen und ließ sich ins Kissen zurückfallen.
Jetzt sollten sie aber mal den Champagner trinken, den der gute Hans vorsorglich mitgebracht habe, sagte Fritz und griff nach der Flasche.
Der Korken knallte, Champagner ergoss sich auf den Boden, der Säugling begann zu schreien, Peter sprang jubelnd in die Pfütze, Enie kreischte, Daniel eilte mit zwei Zahnputzgläsern herbei, und Minna griff sich das Kind und barg es schützend in ihren Armen: »Überkandidelt«, murmelte sie, »vollkommen überkandidelt.«
Man trank auf die kleine Bettina Schwiefert, das Neugeborene, das erst 45 Jahre später durch einen unglückseligen Zufall erfahren sollte, dass es die Tochter von Hans Huber, einem ihr unbekannten Mann, ist.
Über Bettinas erste Jahre existiert kein Erinnerungsbüchlein mit eingehefteten Locken und Bemerkungen zu ihrer physischen und geistigen Entwicklung. Aber von Enie habe ich gehört, dass sie ein reizendes Kind war, besonders gutartig, problemlos, immer zufrieden und fröhlich und ihrem Vater so lächerlich ähnlich, dass ihre Abstammung nur den naivsten unter den Ahnungslosen verborgen bleiben konnte. Zu denen gehörten die Großeltern Kirschner.
Für Hans wurde Bettina Lebensinhalt, Verbindungsglied zu der ihm immer mehr entgleitenden Else und der Köder, den er in der Hoffnung nach ihr auswarf, dass sie sich zugunsten ihrer Tochter doch noch bereit erklären würde, ihn zu heiraten. Aber Else biss nicht an. Sie beruhigte ihr Gewissen mit der Einsicht, dass die Unterschlagung des Vaters für das Kind weniger schädlich sein würde als eine unglückliche Ehe mit demselben. Schließlich und endlich war für das Glück eines Kindes in erster Linie die Mutter ausschlaggebend.
Sie nannte die Kleine ihren Wonneproppen und bedeckte ihre fetten Schenkelchen, den prallen Bauch, die dicken Backen mit Küssen und sanften Bissen.
Ob er sich nicht freue, ein so schönes Schwesterchen zu haben, fragte sie Peter, der verdrossen daneben stand.
Er freute sich keineswegs. Er konnte diesen ekelhaften Teddybären, der ihm die geliebte Mutti abspenstig machte, nicht ausstehen.
Er müsse immer ganz zart mit der kleinen Bettina umgehen, belehrte ihn Else.
»Na, sie wird doch nicht gleich schreien, wenn ich ihr mal mit dem Finger in die Augen pieke«, entrüstete sich der.
Er solle sich unterstehen! Wenn er pieke, würde sie hauen.
»Es ist eben alles nicht so eingerichtet, wie es sein sollte«, sagte Peter mit einem tiefen Seufzer.
Nein, das war es in der Tat nicht.
Bettina wurde hinter dem Rücken der Großeltern evangelisch getauft, und bei der Prozedur traten Fritz als Vater und Hans als Taufpate auf. Die Taufe war einer der vielen Anlässe, dem eine heftige Auseinandersetzung voranging und mehrstündiges Schweigen, erbittertes von Fritz', leidendes von Hans' Seite, folgte. Beide Männer fühlten sich in ihren Rollen fehlbesetzt, und für beide war das Kind ein Unglück: für den einen, weil er es nicht haben wollte, für den anderen, weil er es nicht haben durfte.
Else irritierte sowohl Hans' abgöttische Liebe zu dem Kind und das ständige Pochen auf sein Anrecht als auch Fritz' ablehnende Kälte und das ewig zur Schau gestellte Unrecht, das man ihm zugefügt hatte. Hatte sie diesen zwei Männern nicht das Beste gegeben, was man zu geben vermag? Liebe, Kinder, ein schönes Haus, in dem sie leben konnten, wie es ihnen passte? Andere Ehemänner hätten sich glücklich geschätzt - und dafür gerne eine kleine Unannehmlichkeit in Kauf genommen -, wenn ihnen die eigene Frau eine Geliebte ins Bett gelegt hätte. Andere Liebhaber wären dankbar gewesen, wenn ihnen für das Kind, das sie leichtsinnigerweise gezeugt hatten, die Vaterschaft erspart geblieben wäre. Aber diese beiden waren unfähig oder unwillig, das Positive an der Geschichte zu sehen, und geradezu darauf versessen, sich und ihr die besten Jahre zu vergällen. Sie war jung, sie war hübsch, sie war gesund. Sie brauchte, wie sie in einem ihrer frühen Briefe an Fritz geschrieben hatte, die Fröhlichkeit doch so sehr. Und wozu lebte man schließlich in Berlin, dem Zentrum von Kunst, Literatur und Theater, von zügellosen Festen und internationalen Salons, von genialen Männern und schönen Frauen, von Laster und Geist? Wozu hatte Fritz die guten Beziehungen zu Theater- und Presseleuten und sie ein großes Haus? Wozu war Enie eine charmante Baronesse und Hans ein wundervoller Tänzer? Damit sie streitend um einen Tisch oder beleidigt jeder in einem Zimmer saßen? Das war doch schlichtweg absurd!
Sie erklärte, die strindbergsche Tragödie satt zu haben und das Leben genießen zu wollen. Sie stürzte sich in die »Goldenen Zwanzigerjahre«, und Hans, der nur Else und das Kind, Enie, die nur Fritz, und Fritz, der nur seinen Frieden haben wollte, folgten ihr.
Ich stelle mir die zwanziger Jahre wie einen Kometen vor, der in der kurzen, sternenlosen Nacht zwischen zwei Weltkriegen eine breite, leuchtende Spur hinterlässt.
In den späten zwanziger Jahren geboren, also zu einem Zeitpunkt, als er schon am Verlöschen war, habe ich von seinem ungeheuren Glanz und seiner Größe nur erzählen hören. Die, die mir davon erzählten, es waren viele, sowohl in Deutschland als in Israel, schienen noch immer in seinem Bann zu sein. Sie sprachen von jenen Jahren mit Märchenerzählerstimme, mit verträumtem oder verschmitztem Lächeln, mit Wehmut oder einer plötzlichen Erregung. Ein alter Herr, der nicht mehr sicher auf den Beinen war und jeden Schritt vorsichtig erwog, hat mir, zu meiner Besorgnis, sogar den Charleston vorgetanzt. Den hatte er damals im Jockey-Club mit einem blonden Bubikopf-Mädchen in grünem Kleid aufs Parkett gelegt, und die Erinnerung daran muss seine Beine beflügelt haben. Eine nicht minder alte Dame hat mir die Schlager der damaligen Zeit vorgesungen, und mit jedem wurde ihre Stimme jünger. Das war hier, in Jerusalem, gewesen, und beide gibt es heute nicht mehr. Es gibt sie fast alle nicht mehr, die Glücklichen, die den Kometen gesehen haben, und die Goldenen Zwanzigerjahre, aus den bitteren Ausklängen des Ersten Weltkriegs geboren, am bestialischen Auftakt des Zweiten krepiert, sind Legende geworden.
Mit vielem, was diese zwanziger Jahre hervorbrachten, wuchs ich noch auf, und zweifellos bin ich auch davon beeinflusst worden. Aber erst Jahrzehnte später, als ich die Sperre zur Vergangenheit aufhob, kam es zu mir zurück und vermischte sich mit dem, was ich gehört, gesehen, gelesen hatte. Aus dem Puzzle ist nie ein Bild geworden. Durch mein Gedächtnis spuken Namen von Literaten und Kritikern, Malern und Architekten, Komponisten und Dirigenten, Regisseuren und Schauspielern; von Theatern und Kinopalästen, Nachtclubs und Ballhäusern, Restaurants und Cafés, Zeitungen und Verlagen; Melodien aus der >Dreigroschenoper< sind hängengeblieben, Schlagerrefrains, Liederfetzen, Text- und Gedichtfragmente von Mehring und Tucholsky, Kästner und Ringelnatz, Klabund und Brecht; Eindrücke von Bildern, Zeichnungen, Karikaturen, die ich hier und da gesehen habe.
Von meiner Mutter habe ich nichts über die zwanziger Jahre erfahren. Sie sprach damals in Bulgarien, unserem Exil, nie mit mir über die Vergangenheit. Wahrscheinlich fürchtete sie, mich damit zu verstören und die schlafenden Wölfe des Heimwehs von neuem zu wecken. Nur einmal, als >Der träumende Mund< mit Elisabeth Bergner in Sofia gezeigt wurde, durchbrach sie das Tabu. Die Bergner war für sie, wie für viele Frauen ihrer Generation, ein Idol gewesen, und sie hatte den Film schon einige Male in Berlin gesehen. Als wir uns auf den Weg ins Kino machten, war sie aufgeregt wie ein junges Mädchen, das zu ihrem ersten Rendezvous geht.
»Ich bin in jedes Theaterstück gerannt, in dem die Bergner auf der Bühne stand«, vertraute sie mir an....
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