Schweitzer Fachinformationen
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Ich war beeindruckt. Das war ja bereits vor Ewigkeiten geschrieben worden. Wie war es der Gesellschaft nur gelungen, uns diese sensationellen Erkenntnisse zu verschweigen? Das Paradies, aus dem der Mensch vertrieben worden war, erfuhr ich weiter, war eine Welt der Sammler und Jäger ohne Privateigentum, und nur durch die Sesshaftigkeit und den Besitz an Privateigentum war die bürgerliche Ehe und damit die Unterdrückung der Frau und der Kinder entstanden. Die Blätter der Laubbäume über uns funkelten orange, rot, dunkel- und silbergrün, Vögel zwitscherten, und aus dem stehenden Gewässer des Seitenarmes der Traun neben uns quakten Frösche. Es war Spätsommer, und glitzernde Spinnweben hingen an den Gräsern und Büschen.
Als ich nach Hause kam und auf die Frage meiner Mutter, wo ich gewesen sei, antwortete, ich hätte mich im Kaffeehaus mit drei Schulkolleginnen getroffen, zupfte meine Mutter zwei kleine knallrote Blätter aus meinen Haaren am Hinterkopf und fragte, ob es im Kaffeehaus Laub geregnet habe. Es war nicht zu fassen. Hatte es nicht gereicht, dass meine Eltern vor gar nicht allzu langer Zeit mein Zimmer nach einem kleinen roten Brief durchstöbert hatten, wollten sie mich jetzt schon am helllichten Tag überwachen? Ich erklärte ihr die Sache mit den Jägern und Sammlern und dem Privateigentum und dass daraus nur eine restriktive Familienstruktur entstehen könne, die schließlich zu einem Überwachungsstaat führen würde, und sie erzählte es am Abend meinem Vater weiter. Er habe kein Privateigentum, sagte mein Vater später zu mir - wir saßen wieder auf meiner Ausziehcouch (er) und auf meinem Schreibtischsessel (ich) -, außer den Möbeln und seinem Auto. Einen Moment lang war ich mir tatsächlich nicht sicher, ob das reichen würde, um zur Monogamie, der Unterdrückung der Frau und der Kinder und letztendlich zum Überwachungsstaat zu führen. Aber da machte mein Vater einen Fehler. Er sagte, er wünsche, dass ich mich nicht mit irgendwelchen Langhaarigen in der Trauner Au träfe. Was war da los? War mein Vater mir heimlich mit dem Auto hinterhergefahren, um mich zu bespitzeln? Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. War er mir womöglich sogar in die Au nachgeschlichen und hatte mit dem Fernglas beobachtet, wie Elmar in der Au gesessen und Flöte gespielt hatte? Die Vorstellung war abstoßend. Sie färbte im Nachhinein alles grau ein, was hell und glänzend gewesen war. Ich spürte aber darin auch die Schwäche meines Vaters. Eigentlich spürte ich sie schon lange. Mein Vater und ich hatten in meiner Kindheit oft gegeneinander gekämpft, um zu sehen, wer der Stärkere war. Ich hatte versucht, ihn aus dem Sessel zu zerren oder aus dem Zimmer zu drängen, wobei er gelacht und ich alle meine Kraft eingesetzt hatte. Es war mir trotzdem lange Zeit unmöglich gewesen, ihn auch nur ein kleines Stück aus dem Sessel hochzuzerren oder ihn ein paar Zentimeter weit in Richtung Wohnungstür zu schieben. Am Ende hatte er mich aber immer gewinnen lassen. Eines Tages hatten wir wieder gekämpft. Mein Vater hatte wieder gelacht, und ich hatte wieder alle meine Kräfte eingesetzt. Plötzlich spürte ich, dass ich nicht nur in der Lage wäre, meinen Vater bis zur Wohnungstür zu schieben, sondern sogar, ihn zu Fall zu bringen. Es war entsetzlich. Ich wusste plötzlich, dass mein Vater ein alter, gebrechlicher Mann geworden war. Ich ließ ihn gewinnen. Wir kämpften daraufhin nie mehr. Mein Vater sagte mir auf den Kopf zu, dass ich in meiner Naivität und Unwissenheit einer ideologisch radikalen Studentengruppe, die im Gewerkschaftsheim, unter dem Vorwand des Nachhilfeunterrichts ihren politischen Nachwuchs heranziehe, aufgesessen sei, die mich, wie er sehr wohl wisse, bereits seit geraumer Zeit indoktriniere. Ich überlegte kurz, ob ich meinen Vater gewinnen lassen sollte. Aber sein Gesicht war vor Wut dunkelrot und ganz verzerrt, als er schrie, dass er mir auch verbiete, jemals wieder ins Gewerkschaftsheim zu gehen. Da lachte ich hysterisch und mein Vater gab mir eine Ohrfeige. Bereits die zweite nach dem Desaster mit Werner in Caorle. Das hatte er während meiner ganzen Kindheit nicht getan. Damit hatte er einen Kampf eröffnet, den er auf Dauer nur verlieren konnte. Meine Mutter kam herbeigeeilt, um uns zu beruhigen. Das war von da an ihre Rolle: Zuerst verpetzte sie mich an meinen Vater, und dann versuchte sie, unseren Streit zu schlichten.
In der Schule nahmen die Repressionen ebenfalls zu.
Die Deutschlehrerin begann uns zu siezen. Was ja angenehm hätte sein können, wenn sie es nicht aus reiner Bosheit getan hätte. »Sie wollen ja offenbar demokratischen Unterricht«, sagte sie auf unseren Vorschlag, ihre seit neuestem willkürlichen Prüfungen vorher anzukündigen, »dann werde ich Sie auch als Erwachsene behandeln.« Die Prüfungen kündigte sie trotzdem nicht an. Sie behandelte uns weiterhin wie Kleinkinder, nur dass sie uns jetzt siezte und nichts mehr von ihrem Freund mit dem Motorrad erzählte. Die Prohaska hatte nicht einmal die Haltung, uns zu siezen. Mit hochmütiger Miene verkündete sie, dass sie beschlossen habe, dass wir unser Klassenzimmer in Selbstorganisation verschönern sollten. Worunter sie Malen, Basteln und Blumentöpfe aufzustellen verstand. Edith Faustner, die dickste in unserer Klasse, wurde im Turnunterricht nicht mehr nur ermahnt, sondern bekam ein »Genügend« statt einen »Zweier« ins Zeugnis. Das verstanden unsere Lehrer unter Demokratie.
Ich weiß, dass Elmar und Herbert mit aufklebbaren Bärten im Rucksack mit dem Postbus ins Mühlviertel fuhren, wo sie sich dann in einer öffentlichen Toilette die Bärte aufklebten. Elmar hat es mir später selbst erzählt. Er sagte, dass sie weit genug von Linz wegfahren mussten, erstens, weil sie dort niemand kannte, und zweitens, weil die Bärte sich manchmal lösten, so dass so ein Bart zum Beispiel plötzlich auf einer Seite schief herabhing. Was irgendwo auf dem Land offenbar halb so peinlich war wie in der Stadt. Ich weiß auch, dass Elmar und Herbert auf »Aufriss« gingen. So nannte man damals das Ansprechen und - wenn möglich - Abschleppen von potentiellen Objekten der Begierde. Ich glaube aber nicht, dass sie viel Erfolg hatten. Elmars Masche war, den Mädchen von hinten zum Beispiel auf die linke Schulter zu tippen, selbst aber hinter der rechten Schulter zu stehen. Wenn die Mädchen sich dann nach links umdrehten und verwirrt umsahen, fragte er von rechts: »Sind Sie zufällig Fräulein Hrdlicka?« Das kann doch keinen Erfolg gehabt haben. Herbert hat sich angeblich an den Straßenrand gestellt. Kam ein passendes Mädchen vorbei, fragte er, ob es ihm helfen würde, die Straße zu überqueren. »Ich trau mich nicht alleine«, soll er gesagt haben. Ich kann mir auch in diesem Fall nicht vorstellen, dass die Aktion jemals von Erfolg gekrönt war. Herbert hatte in meiner Erinnerung stets einen zotteligen langen Mantel und klobige Bergschuhe an. Er wirkte eher wie ein Bär im Yellowstone Park, der sich in die Stadt verirrt hat, als wie ein schüchterner Verehrer. Elmar trug übrigens damals gerne einen braungrünen Parka mit einer weißen fünfstelligen Gefängnisnummer auf dem Rücken, dazu weiße Handschuhe. Beide waren langhaarig. Elmar hatte Locken wie Albrecht Dürer auf seinem Selbstbildnis, Herbert schnittlauchglatte schüttere Haare bis fast zur Hüfte. Frau Kutschera, die unter unserer Wohnung in der Muldenstraße wohnte, sagte einmal zu meiner Mutter, es hätten zwei Halbstarke vor unserem Haus herumgelungert, die so furchterregend ausgesehen hätten, dass sie, vom Einkaufen kommend, ihnen vor Schreck beinahe freiwillig ihre Geldbörse gegeben hätte. Aber die Frau Kutschera war kein Maßstab. Sie übertrieb immer. So behauptete sie auch, dass ich die ideale Figur zum Tragen von Minikleidern hätte. »Nur die Brigitte Bardot und die Margit«, sagte sie, wobei es mir stets ein Rätsel war, wie sie auf die Idee kam, mich mit Brigitte Bardot zu vergleichen. Meine Mutter lud die Frau Kutschera immer öfter zum Kaffee ein. Ich glaube, die Art der Frau Kutschera, alles zu übertreiben, tröstete sie damals ein wenig über meine Entwicklung hinweg. Frau Kutschera stammte ursprünglich aus dem böhmischen Adel und hatte ihre Hochzeitsreise vor vierzig Jahren zu den Bäreninseln gemacht. Die Eisbären sind vor Schreck ins Wasser gesprungen, wenn sie uns sahen, sagte sie. Ihr Mann, ein Fabrikant, hatte nach dem Zweiten Weltkrieg, aus der Tschechoslowakei vertrieben, alles verloren und arbeitete nun als Prokurist in der Vöest.
Aber zurück zu Elmar und Herbert. Die einzige wirkliche Eroberung, die Herbert damals meines Wissens machte, war meine Brieffreundin Veronique aus Chartres. Veronique war in der Schule schlecht in Deutsch, und ich war schlecht in Französisch. Anlässlich eines Campingaufenthaltes der gesamten Familie Veroniques in Österreich hatten unsere Eltern einander kennengelernt und beschlossen, dass ihre Töchter in den kommenden Sommerferien abwechselnd für je drei Wochen in der Familie des jeweils anderen verbringen sollten. Madame hatte dabei so viel und so schnell geredet, dass mein Vater, der sein Französisch erst mühsam wieder aktivieren musste, fast gar nicht zu Wort kam. Monsieur übrigens auch nicht. Meine Mutter sprach kein Französisch. Meine Eltern waren heilfroh, als die Familie Veroniques nach ein paar Campingtagen in Linz wieder abreiste. Ich fuhr in den darauffolgenden Sommerferien als erste nach Chartres. Es war für mich ein Horror. Madame, deren Äußeres mich an eine Schildkröte erinnerte, erlaubte wegen der vielen Verantwortung, die sie trug, nicht, dass Veronique und ich auch nur einen einzigen Schritt alleine außer Haus gingen. Wir mussten unter ihrer Aufsicht im Haus bleiben, wo wir ununterbrochen aßen. Alleine das Mittagsessen, zu dem Monsieur von der Arbeit nach Hause kam,...
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