Schweitzer Fachinformationen
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Das Kreuzotterexperiment
Wenn bei mir das Telefon geht, kann es jemand sein, der eine Kreuzotter im Garten hat. »Woife«, heißt es dann, »du siedelst doch Kreuzottern um. Wir haben hier eine. Kannst du vorbeikommen?« Ich freue mich über solche Anrufe - dann ist die Kreatur nämlich nicht mit dem Spaten zerstückelt worden, dann lebt sie noch -, also fahre ich hin, fasse das Tier am Schwanz, lasse es in einen Eimer gleiten und setze es im Wald aus.
Ich mag Kreuzottern. Sie sind mir so lieb wie jedes andere Tier. Und immer schon war ich mir sicher, dass ihre Gefährlichkeit überschätzt wird. Wahrscheinlich würde sich eine Kreuzotter sogar als völlig harmlos herausstellen, wenn man richtig mit ihr umzugehen wüsste. Aber was hieß in diesem Fall »richtig«? Die Ruhe bewahren und jede schnelle Bewegung vermeiden? Bei anderen Tieren hat sich diese Regel bewährt, aber eine Kreuzotter ist kein Eichhörnchen, kein Rothirsch, kein Marder und keine Kohlmeise, sie ist eine Schlange und hat Giftzähne.
Bislang hatte ich Kreuzottern immer nur mit einem gezielten Griff in den Eimer befördert; jetzt wollte ich es genauer wissen. Eines Tages nahm ich eine Kreuzotter behutsam beim Schwanz vom Boden auf und hielt sie hoch. Jetzt hing sie mit dem Kopf nach unten von meiner Hand und züngelte, beruhigte sich aber bald. Eine Ringelnatter hätte nun ohne Weiteres meine Hand mit ihrem Kopf erreichen können, Ringelnattern sind biegsam, aber Kreuzottern sind nicht sehr gelenkig. Sie sind überhaupt recht gemütliche Schlangen, jedenfalls nicht sehr umtriebig, eher faul - sie liegen auf der Lauer, beißen zu, warten die Wirkung des Gifts ab, fressen dann und ringeln sich anschließend wieder zusammen. Als Kreuzotter will man vor allem seine Ruhe.
Gut, sie hing also ganz entspannt herunter. Könnte ich sie jetzt in meine freie Hand gleiten lassen, ohne dass sie zubeißen würde? Wie müsste ich vorgehen?
Ganz sicher wäre es unklug, die freie Hand zu ihrem Kopf zu führen - jede Annäherung dieser Art würde sie als bedrohlich empfinden und voraussichtlich das machen, was unbedingt verhindert werden musste. Diese Hand durfte sich nicht bewegen. Also senkte ich stattdessen die Schlange ab und führte sie ganz allmählich in Richtung meiner geöffneten Hand, bis sie mit ihrem Kopf dort landete. Ich ließ sie mit anderen Worten zu Boden, nur dass der Boden in diesem Fall eine Hand war, und siehe da - sie ließ sich dieses Manöver seelenruhig gefallen. Warum auch nicht? Keine Kreuzotter der Welt würde zubeißen, wenn sie glaubt, den Waldboden zu berühren.
Damit hatte ich den Beweis: Trifft ihr Kopf auf meine Hand, bleibt sie friedlich - und dass sie in einer Hand landet, ist ihr wurscht. Weniger glimpflich wäre die Sache höchstwahrscheinlich verlaufen, wenn ich umgekehrt vorgegangen wäre und meine freie Hand auf ihren Kopf zubewegt hätte.
Schön, dieses Experiment hat mich schlauer gemacht. Aber wie so oft liege ich später wach im Bett, lasse mir den Tag durch den Kopf gehen und grübele: Was könnte man sonst noch versuchen? Welches Verfahren wäre noch aufschlussreicher? Was würde mir ein Tier noch alles über sich erzählen, wenn ich mich besser in dieses Tier hineinversetze? Und da kommt mir eine Idee. Wenn ich eine Kreuzotter nun nicht auf meine Hand, sondern auf meinen Körper ablegen würde? Auf meinem Bauch zum Beispiel hätte sie jede Menge Platz. Warum sollte sie das nicht genauso bereitwillig mit sich machen lassen? Würde sie nicht sogar meinen warmen Bauch dem kühlen Waldboden vorziehen? Worin läge für sie der Unterschied zu einem großen Stein, der seit Stunden von der Sonne beschienen wird?
Ich bin sicher, dass die Kreuzotter meine Neugier verzeihlich finden wird. Fest steht aber auch: Wenn meine Frau Sabine von diesem Plan erfährt, wird sie mich wegsperren. Also erfährt sie vorläufig nichts. Allerdings lässt der nächste Anruf auf sich warten. Aber er kommt, im selben Jahr noch, und so fahre ich mit meinem Eimer wieder raus und suche mir hinterher eine Stelle im Wald, die der Kreuzotter gefallen müsste, einen steinigen Hang, wo kein dichter Baumbestand das Sonnenlicht abhält. Der Versuch beginnt.
Sie gleitet aus dem Eimer auf den Waldboden. Ich fasse sie am Schwanz und hebe sie auf. Jetzt muss ich mich hinlegen. Während des Hinlegens muss ich die Schlange auf Abstand halten, und das Prozedere soll in einer gemächlichen, möglichst fließenden Bewegung vonstattengehen. Bloß nicht stolpern oder abrutschen und ins Taumeln kommen. Für einen Augenblick wird mir mulmig.
Aber die Kreuzotter darf keinerlei Nervosität spüren. Also fasse ich mich gleich wieder, und als ich mich am Boden ausgestreckt habe, bewege ich die hängende Schlange Zentimeter für Zentimeter in Richtung Bauch. Und dieser Bauch scheint ihr zu gefallen, denn als ich sie schließlich loslasse und meinen Arm vorsichtig zurückziehe, kriecht sie nicht etwa hinunter. Anfangs züngelt sie noch, auch in Richtung meines Kopfs, aber dann, von Behagen überwältigt, kringelt sie sich auf meinem Bauch zusammen. Alles ist, wie sie es kennt und liebt: Sie hat einen sonnigen Fleck gefunden, niemand will ihr was, weit und breit ist keine Störung in Sicht - also beschließt sie zu bleiben.
Dass eine Kreuzotter es sich auf mir bequem machen könnte, habe ich bei meinen nächtlichen Überlegungen nicht bedacht. Jetzt liege ich da mit einer Schlange auf dem Bauch, die keinerlei Anstalten macht, diesen Bauch zu verlassen, und bin ratlos. Zunächst freue ich mich trotzdem. Wenig später verfliegt meine Freude und macht einer wachsenden Ungeduld Platz. Wann geht's denn jetzt, bitte schön, weiter? Ich darf mich ja nicht mal bewegen. Ich kann keine Fotos machen, ich darf mich nicht kratzen, ich muss Stein spielen, und Steine haben weder Arme noch Beine. Also passiert einfach nichts. Sie rührt sich nicht, ich auch nicht. Wenigstens behalte ich sie so im Auge.
Endlose zehn Minuten später kommt mir ein furchtbarer Gedanke. Was, wenn jetzt ein Wanderer vorbeikommt und mich entdeckt? Oder, noch schlimmer, ein Bekannter? Einer aus Bodenmais, der heute zufällig im Wald Schwammerln sucht und mich hier wie versteinert am Boden liegen sieht, eine zufriedene Kreuzotter auf dem Bauch . Wie würde ich ihm auf seine entgeisterte Frage hin erklären, was ich da treibe? Ich bin ja sowieso als Spinner verschrien. Es gibt schon genug Leute, die mich für einen Sonderling halten. Es fehlt noch, dass sich in Bodenmais herumspricht, wie ich meine Nachmittage wirklich verbringe . Sollte ich einfach eine fröhliche Melodie pfeifen? Oder ihm mit zaghaftem Lächeln ein »Servus« zurufen? »Servus, Sepp! Und noch viel Glück beim Schwammerlnsuchen!« Aber dann bloß nicht zum Abschied winken .
Ich hatte Glück. Niemand ist vorbeigekommen, niemand hat mich gesehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit - es waren bestimmt zwanzig Minuten vergangen - fing meine Kreuzotter wieder an zu züngeln, setzte sich dann in Bewegung und kroch zügig an meiner linken Seite hinunter. Wie ich sie sonst losgeworden wäre, weiß ich nicht. Ich vergewisserte mich, dass sie tatsächlich das Weite gesucht hatte, und richtete mich auf - um zwei Erkenntnisse reicher.
Erstens: Meine empirische Studie hatte die Wahrheit über Kreuzottern zutage gefördert. Was bei Vögeln und Säugetieren funktioniert, funktioniert auch bei ihnen, nämlich: Keine Kreuzotter nimmt Anstoß an einem Menschen, der die Ruhe bewahrt und keine Angst zeigt. Wenn er dann noch bedächtig vorgeht, keine ruckartigen, keine hektischen Bewegungen macht und sich so passiv wie möglich verhält, kommt er mit Sicherheit ungeschoren davon. Zur Nachahmung eignete sich dieses Experiment trotzdem nicht, denn wer die Nerven verliert, schwebt tatsächlich in Gefahr. Von sich aus aber kommt in unseren Breiten kein Tier auf die Idee, einen Menschen anzugreifen, auch eine Kreuzotter nicht.
Und zweitens: Wieder hat sich gezeigt, dass ich gut daran tue, keinen Fremden auf meine Streifzüge durch die Natur mitzunehmen. Mich erreichen ja gelegentlich Anfragen von Leuten, die mit mir in den Wald wollen, allein, nicht in der Gruppe. Ich lasse mich nie darauf ein. Zwar bringe ich mich nicht alle Tage in eine derart missliche Lage wie die geschilderte, aber der zivilisierte Mensch würde an meinem Verhalten auch sonst manches als Zumutung empfinden. Er würde sich vor allem zu Tode langweilen. Ich sitze ja stundenlang herum, am Rand einer Waldwiese oder auch mittendrin, nicht ansprechbar, in einen Dämmerzustand versunken, und nichts tut sich, nur mein Schatten wandert. Ich atme noch, mein Puls geht noch, aber das sind auch die einzigen Lebenszeichen. Meistens geschieht dann doch etwas, mal nach einer, mal nach sechs Stunden, aber bis dahin hätten bestimmt die meisten die Geduld verloren, mich angestoßen und mir verzweifelt zugeflüstert: »Warum unternehmen wir nichts? Wir müssen doch irgendwas unternehmen!«
Außerdem hat mich noch nie gekümmert, in welchen Dreck ich mich lege. Oft lasse ich mich einfach irgendwo im...
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