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Nach seinem Bestseller "Allein" geht Daniel Schreiber nun der Frage nach: Wie lässt sich ein Leben in Zeiten um sich greifender Verluste führen?
Nichts möchten wir lieber ausblenden als die Unbeständigkeit der Welt. Dennoch werden wir immer wieder damit konfrontiert. Wie gehen wir um mit dem Bewusstsein, dass etwas unwiederbringlich verloren ist? In seinem neuen Essay nimmt Daniel Schreiber so hellsichtig und wahrhaftig, wie nur er es kann, eine zentrale menschliche Erfahrung in den Blick, die unsere Gegenwart maßgeblich prägt und uns wie kaum eine andere an unsere Grenzen bringt: den Verlust von Gewissheiten und lange unumstößlich wirkenden Sicherheiten.
Ausgehend von der persönlichen Erfahrung des Tods seines Vaters erzählt Daniel Schreiber von einem Tag im nebelumhüllten Venedig und analysiert dabei unsere private und gesellschaftliche Fähigkeit zu trauern – und sucht nach Wegen, mit einem Gefühl umzugehen, das uns oft überfordert.
"Daniel Schreiber ergründet einen großen Begriff, ein großes Gefühl mithilfe von biografischen Anekdoten und philosophischen Betrachtungen. Dabei berühren jene Sätze, die vom Vater selbst erzählen." Jolinde Hüchtker, Die Zeit, 16.11.23
Das sanfte Geräusch der Wellen, die gegen die Mauer schlagen. Entfernte Möwenschreie. Motorenlaute, die erst an- und dann wieder abschwellen. Als ich zum ersten Mal die Augen öffne, ist das Licht, das durch das Fenster fällt, noch gedämpft. Ich möchte weiterschlafen. Noch einmal versinken in das Bett, dessen Geruch mich an das Waschmittel meiner Kindheit erinnert. Noch einmal versinken in das Vergessen. Schon halb wach, glaube ich nicht, dass mir das gelingen wird. Doch als ich die Augen erneut öffne, ist die Dämmerung bereits dem Licht des Tages gewichen. Die Laute des Wassers haben sich verstetigt, ebenso wie das Schreien der Möwen, die Geräusche der Vaporettos, der Wassertaxis und der Boote, die die Supermärkte beliefern oder den Müll abfahren. Vereinzelte Stimmen rufen sich etwas auf Italienisch zu. Ich versuche, mich nicht zu bewegen, als könnte ich so noch kurz die Zeit anhalten.
Mich überkommt das Gefühl einer gewissen Dankbarkeit. Ich muss mich nicht fragen, in welcher Stadt und in welchem Hotel ich mich befinde. Und fühle mich ausgeruht. Die Nacht zuvor haben mich die Motorengeräusche der Boote wach gehalten, was mich nicht überraschte, denn in den bewegten anderthalb Jahren, die hinter mir liegen, ist mir auch der Schlaf abhandengekommen. Jener verlässliche Schlaf, den man als gegeben hinnimmt, bis er ausbleibt. Ich brauchte lange, um einzuschlafen, und wachte mitten in der Nacht auf. Selbst wenn es mir gelang, länger zu schlafen, begann ich den Tag mit dem Gefühl schwerer Müdigkeit.
Ich überlege, wie lange es her ist, dass ich mich so entspannt gefühlt habe wie an diesem Morgen. Und erschrecke. Erst jetzt fällt mir ein, woran ich beim Aufwachen seit langem als Erstes denke. Doch womöglich ist es ein gutes Zeichen, dass mich dieser Gedanke später als gewöhnlich findet.
Während ich mich in der Foresteria, dem Gästezimmer des Palazzo, umschaue, stelle ich fest, wie bekannt sie mir schon vorkommt, obwohl ich erst seit ein paar Tagen hier wohne. Die karierte Bettwäsche, die altmodischen Volants, das an ein Bullauge erinnernde ovale Fenster, der dunkle Schreibtisch mit seiner turmalingrünen Muranoglas-Lampe - alles umgibt eine Aura von Verlässlichkeit. Vielleicht liegt das an den reinlichen Gerüchen des Zimmers, an den unverwechselbaren Geräuschen der Stadt. Vielleicht daran, dass der Aufenthalt hier, wie ich hoffe, das Ende einer langen Zeit der Ruhelosigkeit einleitet.
Anderthalb Jahre lang habe ich mich verausgabt. Fast jede Woche war ich für Lesungen und Veranstaltungen auf Reisen. Zugleich ließ ich vieles bleiben, was für mein inneres Gleichgewicht notwendig war. Ich hörte auf, jene Menschen zu sehen, die mir nahestanden, ließ persönliche Nachrichten unbeantwortet, auch die meiner besten Freundinnen und Freunde und meiner Familie. Ich achtete immer weniger darauf, was ich aß und wie ich meinen Körper behandelte. Bezichtigte mich in Momenten der Schwäche des Selbstmitleids, um meine Disziplin zu stärken. Ich hatte zunehmend das Gefühl, mir, meiner Gefühlswelt und meinem Denken fremd zu werden. Meine Erschöpfung wurde zu einem Dauerzustand. In den Monaten zuvor war diese Phase kulminiert. Deswegen hatte ich fast alle Termine abgesagt und mich von den sozialen Medien zurückgezogen, wo ich nur noch ab und zu ein Lebenszeichen von mir gab. Mit dem Aufenthalt in Venedig sollte eine neue Phase beginnen.
Wenn ich ein Grundgefühl für die zurückliegende Zeit benennen müsste, dann das des Verlorenseins. Ich habe den Eindruck, in einer Welt zu leben, die mir bekannt vorkommt, die immer noch nach vielen der mir vertrauten Regeln funktioniert, aber dennoch durch eine andere, eine unheimliche Version ihrer selbst ersetzt wurde. Die Sprache entzieht sich mir, wenn ich darüber reden möchte. Sie ist nicht in Reichweite. Sie nickt mir erst aufmunternd zu, nur um sich dann, traurig den Kopf schüttelnd, wieder von mir zu verabschieden.
Wie die Autorin Kathryn Schulz in ihrem Buch Lost & Found feststellt, ist Verlust eine sonderbare Kategorie, die alles Mögliche einschließen kann, auch Dinge, die nichts miteinander zu tun haben: das Große und das Kleine, den Alltag und die Weltgeschichte.1 Wir verlieren Schlüssel, Telefone oder unsere Lieblingskleidungsstücke, aber auch unser Herz, unseren Verstand oder unseren Glauben an die Welt. Und die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass wir mit den daraus resultierenden Gefühlen nur schlecht umgehen können. Dass wir der Verstörung nicht gewachsen sind, die mit diesen Verlusten und der von ihnen verursachten Trauer einhergeht.
Trauer gehört für uns alle zum Leben, egal, welche biografischen Zufälle dazu führen, dass wir mal früher, mal später mit ihr konfrontiert werden. Selbst wenn wir jene schweren Verluste, die unser Dasein nachhaltig erschüttern und unseren Alltag aus dem Gleis werfen, noch nicht erlebt haben - den Tod eines Partners oder einer Partnerin etwa, den eines Eltern- oder Geschwisterteils oder gar den eines Kindes -, haben wir alle Dinge verloren, die uns viel, manchmal sehr viel bedeuten. Wir haben Trennungen durchlebt. Haben von Menschen Abschied genommen, auch wenn wir es nicht wollten. Mussten uns von Lebensträumen lossagen. Nach solchen Verlusten scheine das frühere Leben immer noch irgendwo zu existieren, schreibt Hilary Mantel in einem Text über Trauer, doch man finde nicht mehr zu ihm zurück.2
Wir glauben, dass die Farbe des Trauerns Schwarz ist, das alles Licht in sich aufnehmende, alles auslöschende Schwarz. Und manchmal fühlt sich Trauer auch so an: wie der Nachklang einer Implosion, die im Inneren nichts als Trümmer hinterlässt. Doch für gewöhnlich läuft sie anders ab, für gewöhnlich wünscht man sich nur, mit einem so eindeutigen Gefühl konfrontiert zu werden, mit einer so absoluten Farbe und ihrem Versprechen der Katharsis. Die wahre Farbe der Trauer findet sich in den verwirrenden Abstufungen des Graus. Eines Graus des Unglaubens, der Erschöpfung, der Taubheit. Eines stillen, nichtkathartischen Graus, das sich scheinbar unwiderruflich über das Leben legt.
Ich lausche weiter den Wellen, Booten und Möwen der Stadt, den vereinzelten Stimmen. Noch liegend schaue ich durch das kleine Fenster auf das Wasser des Rio di San Polo, der ein paar Meter weiter in den Canal Grande mündet und nicht einmal durch einen Gehweg vom Centro Tedesco di Studi Veneziani im Palazzo Barbarigo getrennt ist, wo ich mich für ein paar Tage aufhalte. Nicht nur der Waschmittelgeruch der Bettwäsche, sondern die Einrichtung und das kleine Gästezimmer selbst scheinen wie selbstverständlich aus einer anderen Zeit zu stammen. Ich greife nach dem Telefon und schalte den Alarm aus, der gleich klingeln wird. Schließe noch einmal kurz die Augen.
Ich bin mir nicht sicher, wann die Trauer, gegen die ich mich wehre und die ich dennoch immer spüre, begonnen hat. Ich weiß nur, dass sie mich schon lange begleitet. Ich könnte ihren Beginn an jenem Tag verorten, als ich im Begriff war, eine Bühne in Heidelberg zu betreten, und meine Mutter anrief, die am Abend eigentlich nie anrief. Ich schaute auf das Telefon und auf die vielen Menschen, die in dem Saal versammelt waren, schaltete das Gerät aus, erklomm die Stufen zur Bühne, setzte mich auf den Stuhl neben der Moderatorin und entschied mich, die in mir aufkommende Panik zu unterdrücken und in den Saal zu lächeln. Ich wusste, was der Anruf bedeutete. Ein Teil von mir erwartete ihn seit Monaten. Mein Vater war schon lange krank gewesen. Dennoch hatte ich auf irrationale Weise an der Idee festgehalten, dass dieser Moment nicht eintreten würde. Ich wollte nicht, dass man mir anmerkte, was geschehen war. Ich absolvierte die Veranstaltung, beantwortete die Fragen der Moderatorin und der Zuschauenden und signierte anschließend meine Bücher. Danach ging ich mit den Veranstaltenden etwas essen. Ich floh so lange vor der Nachricht, bis ich am späten Abend wieder im Hotel war. Ich packte schon meine Sachen, um mit dem frühesten Zug zu meiner Mutter an die Mecklenburgische Seenplatte zu fahren, als ich sie zurückrief und von ihr hörte, dass mein Vater gestorben war.
Die Trauer um ihn begleitet mich jeden Tag. Zugleich habe ich das Gefühl, so viel mehr verloren zu haben als meinen Vater. Ich habe das Gefühl, dass sich sein Tod in eine Vielzahl von kleinen und großen Tragödien einreiht, dass sich mein privater Verlust mit den vielen kollektiven Verlusten...
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