Schweitzer Fachinformationen
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Theodora Costanda hielt sich den Schal, den sie locker um den Hals trug, dicht vor den Mund und schlenderte durch die staubigen Gassen des Wüstendörfchens Deir el-Berscha. Ihr Gang war steif, und Theo spürte die Schmerzen in jedem Muskel. »In jeder Faszie«, korrigierte ihre Yoga-Lehrerin sie einmal lachend und erzählte ihr von den zarten Geweben, die die Muskeln umschlossen und den Körper zu einer strukturellen Einheit formten. Diese sanft zu trainieren, schmiere nicht nur den Körper, sondern öffne Seele und Geist, so die überzeugten Worte der Yogi. Theo verzog das Gesicht. Von sanft konnte hier wirklich nicht die Rede sein.
Seit vier Tagen war sie jetzt schon in diesem Yoga-Retreat, nur wenige Kilometer von Deir el-Berscha entfernt, mitten in der ägyptischen Wüste. Was so ein paar Kilometer ausmachen konnten, dachte Theo. Während im Wüstendorf direkt am Ufer des Nils wenigstens ein paar Dattelpalmen und Maulbeerfeigen wuchsen, hatte die Landschaft um das Yoga-Camp herum tatsächlich nicht mehr zu bieten als schmutzig-ockerfarbenen Schotter und geröllartige Hügel. Ein guter Ort, um sich auf sich selbst zu besinnen, dachte Theo ironisch. Hier gab es ja nichts anderes.
Ihre Auszeit in der Wüste hatte sie sich gänzlich anders vorgestellt. Feinpulverige, gelbe Sanddünen, durch die sie gedankenversunken stapfen konnte, um dann auf ihren Kuppen über die Weite des ägyptischen Hinterlandes zu blicken. Sie musste über sich selbst lachen, dass sie so einer Illusion aufgesessen war. Und schließlich war es auch egal, denn sie brauchte diese Pause dringend, ob nun in feinem Sand oder Geröll. Seit ihrem letzten Fall hatte sie sich verändert, das spürte sie selbst. Sie war ständig erschöpft, ertappte sich dabei, wie sie im Umgang mit anderen oder auch nur in Gedanken mal schrecklich weinerlich war, mal unangenehm ironisch. Es war an der Zeit, ihren alten Biss wiederzufinden, aber auch ihre alte Warmherzigkeit. Oder vielleicht auch, dachte Theo und dehnte sich vorsichtig, eine ganz neue Theodora Costanda, aber eine, die sie mochte.
Vielleicht fand sie die ja inmitten ihrer kleinen Gruppe inspirierter Frauen, die sich zum Sonnenaufgang morgens um kurz nach sechs das erste Mal auf der Yoga-Matte traf. Einige von ihnen waren ihr sehr sympathisch, und es gefiel Theo auch, dass die Frauen alle aus ganz unterschiedlichen Ländern kamen. Obwohl Theo Alexandria immer als ihre Heimat bezeichnete, wusste sie doch, dass andere sie häufig als agnabija ansahen, als Ausländerin. Vermutlich lag das an ihren blauen Augen, vielleicht auch daran, dass sie in Belgien geboren und aufgewachsen war. Ihre Mutter aber stammte aus Ägypten und war vor einigen Jahren, nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, mit Theo nach Alexandria gezogen, in die Nähe ihrer Verwandtschaft. Theo war es so vorgekommen, als wüsste sie endlich, was sie die ganzen Jahre vermisst hatte. Es gab etwas in diesem Land - fast würde Theo sagen, eine Energie, aber dieses Konzept widersprach ihrer logischen Art zu denken -, das sich in jedem Menschen hier zeigte, egal ob arm oder reich, gebildet oder nicht. Eine Art selbstverständlicher Stolz, eine Präsenz der Menschen, die sich nicht erklären musste, sie war einfach da. Das Erbe einer Hochkultur, die aus den brillantesten Künstlern, Baumeistern, Wissenschaftlern und natürlich Königen bestanden hatte. Ja, vielleicht war es auch das, was jeder hier in sich trug: das Erbe der Pharaonen - trotz des Chaos, das gleichzeitig in diesem Land herrschte. Nicht umsonst gab es diese Redensart: Fiha haga helwa. Es hat was. Ägypten hatte etwas, diese spezielle Magie, über die selbst ein verspäteter Bus mit einem platten Reifen nicht hinwegtäuschen konnte.
Sogar die Natur schien Theo majestätischer, als es die Sinterterrassen im türkischen Pamukkale, die Wasserfälle von Iguazú oder der Grand Canyon in den USA für sie jemals sein könnten.
Lächelnd schlenderte Theo durch die Gassen, auf der Suche nach dem Marktplatz. Die anderen Yogi-Frauen hatten sich für eine Bootstour auf dem Nil entschieden, aber Theo hatte es vorgezogen, das Alltagsgeschehen in sich aufzusaugen, und genoss das Getümmel in dem kleinen Dorf. Das war einer der Gründe gewesen, warum sie sich für diese Reise fernab des hektischen Alexandria entschieden hatte: Sie war nun Anfang dreißig und wollte Klarheit gewinnen, eine Antwort auf die Frage finden, ob sie weiter im Polizeidienst bleiben wollte. Sie war eine ausgezeichnete Kommissarin und Ermittlerin. Daran hatte auch sie selbst nach ihrem Fall im Oktober letzten Jahres keinen Zweifel mehr. Allerdings hatte sie in kemet, im Land der Schwarzen Erde, den einen großen unauslöschlichen Makel: Sie war eine Frau! Und Frauen genossen im Staatsdienst nach wie vor weder großen Respekt noch Ansehen. Da war es egal, wie verdient Theo sich um das Land und sogar um das kulturelle Erbe von Kleopatras Grab gemacht hatte. Und ob Theo sich dem aussetzen oder doch etwas Neues anfangen wollte, vielleicht sogar nach Belgien zurückkehren würde - darüber wollte sie sich in Ruhe Gedanken machen, während sie ihre Muskeln und Faszien ins Gleichgewicht brachte.
An den Ständen herrschte reges Treiben, überall wurde gebrüllt und gelacht und gefeilscht. Die Tische bogen sich unter dem Gewicht der riesigen Wassermelonen, in den Holzkisten wurden Feigen, Orangen und Äpfel angeboten. Die Luft war erfüllt vom Duft nach Gewürzen: Koriander, Paprika, Chili, Kumin, Knoblauch. Notdürftig gerupfte Hühner hingen kopflos an den silbernen, s-förmigen Metallhaken. Um sie herum surrten bereits Schwärme von Fliegen, die aufgeregt um das Festmahl herumflogen und ihre Eier ablegten. Ein Metzger mit blutverschmiertem Kittel hielt ihr lachend ein Stück Lammrücken entgegen. »Good meat, cheap price«, versuchte er es auf Englisch. Theo winkte ab und antwortete auf Arabisch, dass sie Vegetarierin sei, worauf der Schlachter einen harmlosen Fluch ausstieß und sich von ihr abwandte, auf der Suche nach einem neuen potenziellen Kunden. Theo schmunzelte in sich hinein und erstand bei den Süßwaren eine kleine Tüte mit Baklava, einem in Honig getränkten Blätterteiggebäck mit gehackten Nüssen, Pistazien und Mandeln. Die anderen Yogis würden es lieben, dachte Theo.
Sie wollte sich gerade auf den Weg zu einem Stand mit handbestickten Seidenkaftanen machen, als ihr ein Pritschenwagen auffiel, der am Rande des Marktplatzes hielt und von dessen Ladefläche acht Personen in hellgelben kuttenähnlichen Gewändern hinuntersprangen, sich kurz hinhockten, Hände und Kopf wie zum Gebet auf die Erde legten, um dann wieder aufzustehen und sich gezielt in den einzelnen Gängen des Marktes zu verteilen. Der Fahrer des Wagens blieb hinter dem Steuer sitzen. Sein Gesicht konnte Theo nicht erkennen, dafür war es im Innern des Mini-Trucks zu dunkel, und außerdem trug der Mann eine große Sonnenbrille. Merkwürdig, dachte Theo, was sind denn das für Gestalten? Ihre Kleidung war außergewöhnlich. Für die traditionellen Jalabiyas war der Stoff zu leicht und zu durchlässig. Auch die Farbe, dieses lichte Gelb, war ihr als traditionelle Körperbedeckung noch nie untergekommen. In ihren Gewändern erinnerten sie sie eher an buddhistische Mönche oder an die Anhänger der Hare-Krishna-Bewegung, die sie früher in Brüssel manchmal gesehen hatte. Aber gab es die auch im Niltal? Wie kleine Sonnen, dachte sie und sah ihnen hinterher, oder Glühwürmchen im Wind. Sie schienen sich auszukennen, ihr Gang war gezielt: Behände kauften sie große Mengen Obst, Fleisch und Gewürze, die sie in hellen Jutesäcken verstauten und flink zu dem Pritschenwagen brachten. Danach kamen vier von ihnen zurück, dieses Mal beladen mit gewebten Stoffen in leuchtend bunten Farben. Spätestens jetzt war Theos Aufmerksamkeit vollends geweckt. Sie folgte zwei Frauen, die offenbar Gebetsteppiche, Läufer und Schals über dem Arm zu einem Stand mit ebensolchen Waren trugen und sie vor dem Verkäufer auf den Boden legten. Wortlos zeigten sie auf ihre Waren, priesen sie dem Mann an, der sie offenbar in sein Sortiment aufnehmen sollte. »Handgemacht, Seide, Leinen«, sagte eine Frau in gebrochenem Englisch, dem Akzent nach keine Araberin. Theo stellte sich neben sie, beugte sich zu ihnen hinunter und erntete von einer der beiden gelb Gewandeten ein Lächeln. »Tausendfünfhundert«, sagte die Frau und wies auf einen breiten Schal in Türkistönen. Sie wirkte freundlich, aber auch ungewöhnlich blass für diese Klimazone, und unter den Augen hatte sie dunkle Ringe. Ob sie krank war? Theo überschlug den Preis im Kopf. Tausendfünfhundert ägyptische Pfund waren ungefähr dreißig Dollar. Sie fasste das Tuch an einer Ecke und rieb leicht den Stoff zwischen ihren Fingern. Wirklich sehr weich.
»Sehr gute Qualität«, sagte die Frau.
»Haben Sie das selbst gemacht?«, fragte Theo interessiert.
»Ja, handgemacht«, erwiderte sie, freundlich, aber auch mit sichtlicher Nervosität.
Theo überlegte noch, ob sie dieses Tuch, das sicher gut zu ihren blauen Augen passen würde, wirklich kaufen sollte, als ein Mann sich von der anderen Seite den beiden Frauen näherte und ihnen etwas zuraunte. Theo konnte die Worte nicht verstehen, nahm aber wahr, dass er die Schulter der einen ziemlich kräftig drückte.
Die beiden nickten, standen auf, drängelten sich an Theo vorbei und verschwanden aus ihrem Sichtfeld. Der Mann brachte das Geschäft mit dem ägyptischen Händler zum Abschluss.
Achselzuckend wandte Theo sich ab. Merkwürdige Bande. Sie würde im Retreat mal fragen, ob jemand diese Sonnenmenschen kannte. Langsam war es auch Zeit, sich mit den anderen Yogis am vereinbarten Treffpunkt für das Sammeltaxi...
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