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Will man einen sozial- und politiktheoretischen Beitrag zur Erforschung der historisch einzigartigen Konstellation aus einem in hohem Maße flexibilisierten Kapitalismus, der das ökonomische und kulturelle Antlitz des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts prägt, und einem nach wie vor dominierenden, wenngleich punktuell aufbrechenden liberaldemokratischen Ordnungsmodell des politischen Zusammenlebens leisten, so ist es unabdingbar, Rechenschaft über die eigenen Grundbegriffe abzulegen. Eine solche Begriffsarbeit verlangt nicht nach definitorischen Setzungen, sondern nach systematischer, nach rationaler Rekonstruktion auf Grundlage bestehender Theorien. Diese müssen auf ihre Konsistenz geprüft, gegebenenfalls präzisiert und vor dem Hintergrund neuer Wissensbestände korrigiert werden.
Der Rückgriff auf den Begriff des >Stresses< als Nukleus der hier zu entwickelnden perspektiverweiternden kritischen Gesellschaftstheorie ist vor diesem Hintergrund keineswegs selbstverständlich. Der erste Teil dieser Arbeit dient daher der Rechtfertigung dieser Wahl, indem die Genese sowie die Besonderheiten der Stressidee hervorgehoben und die von diesem Begriff zu füllenden sozialphilosophischen Leerstellen im Dialog mit bestehenden, wenngleich ergänzungsbedürftiger Termini aufgezeigt werden (1). Die Herausforderung besteht darüber hinaus darin, die naturwissenschaftliche Stresskonzeption in eine sozialwissenschaftliche Bestimmung zu überführen, ohne dabei die produktiv-interdisziplinäre Anschlussoffenheit preiszugeben sowie auf essentialistische Vorstellungen oder einen bloß metaphorischen Gebrauch zurückzufallen. Das Ideal bestünde ohne Zweifel darin, eine Kompatibilität des Modells über die Grenzen der beteiligten Wissenschaftsdisziplinen hinaus zu gewährleisten. Für eine dezidiert soziologische und politologische Nutzbarmachung ist es erforderlich, den Stressbegriff in seiner Relationalität und Mehrdimensionalität zu erfassen, um sich so gegenüber multiplen Stressoren und vielfältigen Ursachenkomplexen zu öffnen (2). Dieser elementaren Grundbestimmung nachgeordnet erscheint es sinnvoll, die engere Anbindung an gesellschaftstheoretische Diskurse zu suchen und dem bis dato >reinen< Stressbegriff zusätzliche Plastizität zu verleihen, indem die sozialphilosophischen Prämissen plausibilisiert werden und näher auf die Vermittlung von Handlungs- und Strukturebene innerhalb dieses theoretischen Modells eingegangen wird. Nötig ist der Import dieser so weitreichenden Thematik, die bei Habermas (1995b: 299) unter dem Titel »Paradigmenkonkurrenz« firmiert und die Grundspaltung innerhalb der Soziologie markiert, deshalb, weil die Stoßrichtung des Stressarguments auf eine konzeptuelle Erweiterung drängt, mittels derer das Stressphänomen nicht länger begrenzt auf mikrosoziale, sondern gleichermaßen auf makrosoziale Fragestellungen identifizierbar wird.5 Damit wird es zugleich möglich, aktuelle Debatten über individuelle und systemische Gefährdung, Verwundbarkeit und Anpassung aufzugreifen und im Lichte des entworfenen begrifflichen Tableaus kritisch zu reflektieren (3). Die verschiedenen Argumentationsfäden können dann zusammengeführt und miteinander verknotet werden (4). Zu beachten ist im Folgenden auch, dass die Diskussion allein die von den Autoren vorgenommenen terminologischen Grenzziehungen anvisiert und bis zu diesem jetzigen Zeitpunkt keine Aussagen über empirische Phänomene beinhaltet. Die auf einer kategorialen Ebene stattfindende begriffliche Relationierung dient zunächst der heuristischen Plausibilisierung, deren Fruchtbarkeit sich an späterer Stelle herauszustellen hat. Gleichzeitig bleibt jenes kategoriale Raster dem Immanenzzusammenhang verhaftet, verschließt sich also gegenüber eines jeden transzendierenden Moments, das von ihm ausgehen könnte, solange die Theorie von einer normativen Verankerung absieht. Der Weg von einer deskriptiven zu einer evaluativen und damit einer im engeren Sinne kritischen Theorie führt über den Begriff der Freiheit, dessen interpersonale Erweiterung die Kongruenz zum relationalen Stressbegriff verbürgt. Erst dieses im zweiten Teil der Arbeit zu entwickelnde Kriterium erlaubt eine Differenzierung entlang restriktiver und emanzipatorischer Formen des Stresses, wie sie an späterer Stelle nötig wird, um die Anbindung an demokratietheoretische Debatten zu gewährleisten.
Der Stressbegriff setzt sich entsprechend aus zwei Bausteinen zusammen, die das folgende Kapitel sukzessive entwickelt. Zum Ersten ist hier die grundlegende Bedeutungsebene zu nennen, deren treffende Erfassung verschiedene Ansätze für sich beanspruchen. Ergänzend ist, zum Zweiten, die Einführung des Gegenstandsniveaus vonnöten, auf das der beschriebene Stressbegriff jeweils Anwendung findet. Erst im Anschluss daran ist es möglich, die normativen Bausteine einzuführen, um das Stresskonzept, den Anforderungen einer kritischen Gesellschaftstheorie gemäß, anzupassen.
Der folgende Abschnitt dient der Vergegenwärtigung des facettenreichen Stressdiskurses, wie er sich beginnend mit dem zweiten Drittel des vergangenen Jahrhunderts herausbildete. Er befasst sich mit der Genese sowie der Transformation des Stressbegriffs von einer natur- zu einer sozialwissenschaftlichen Kategorie und arbeitet die Unterschiede zu anderen Begrifflichkeiten im Umfeld jüngster kritischer Sozialtheorien heraus, um die sich bietenden Chancen für ein angepasstes Stressverständnis abzuwägen. Von diesem Punkt ausgehend lässt sich der Stressbegriff gesellschaftstheoretisch auf Höhe der Zeit reformulieren.
Der Stressbegriff scheint schwer fassbar. Nicht nur mangelt es an präzisen und konsistenten Definitionen, sondern auch der alltagssprachliche und wissenschaftliche Gebrauch ist uneinheitlich. Die beiden folgenden Passagen dienen einerseits der Rekonstruktion verschiedener konkurrierender Stresstheorien mitsamt den ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen über Stabilitäts- und Gleichgewichtszustände. Hierbei werden zweierlei Trends ersichtlich. Zum einen verlagern die dominierenden Stresstheorien ihr Fundament von einer statischen zu einer dynamischen Stabilitätsidee, was zu innertheoretischen Komplexitätssteigerungen führt. Zum anderen zeigt sich eine Auslagerung der Stressthematik, das heißt die vorhandenen Stresstheorien differenzieren sich nicht nur intern, sondern überschreiten den Rahmen physiognomischer, biochemischer und neuroendokrinologischer Forschung in Richtung psychologischer und sozialwissenschaftlicher Disziplinen. Am deutlichsten wird dieser Prozess greifbar, wenn verschiedene Autorinnen Stresstheorie als Gesellschaftstheorie zu betreiben suchen (a). Andererseits ist es nötig, den Stressbegriff für die Anliegen der politischen Theorie und Sozialphilosophie aufzubereiten. Hierzu bedarf es einer terminologischen Schärfung anhand konkurrierender Definitionsansätze sowie einer Umstellung auf ein relationales Stresskonzept, mithilfe dessen sich die verschiedenen Ebenen des Sozialen treffend beschreiben lassen (b).
(a) Längst hat der Stressbegriff die illustren Hallen der Wissenschaft verlassen und die Alltagssprache erobert. Die Popularisierung und globale Ausdehnung dieses Begriffs seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts, die teils zu einem inflationären Gebrauch beitrugen, machen eine präzise und konsistente Konzeptualisierung jedoch umso schwerer. Mit der medialen Resonanz, die eine selektive Aneignung des Expertenwissens begünstigte, wurde mitunter eine eigene Agenda verfolgt, da Stress zur Verteidigung nahezu jeder kulturellen Anpassung und jeder politischen Position instrumentalisiert werden konnte. »In many ways«, folgert Jackson (2013: 14), »stress had gained credibility as a keyword, a multidimensional linguistic marker of a particular time and place.« Offenkundig scheint es, als passe der Stressbegriff gerade in das dynamische Selbstverständnis der Gegenwartsgesellschaft, was dessen sprachraumübergreifende Ausbreitung mitbedingt. »[By] the turn of the millennium the word >stress< and its various derivatives had become an integral part of the language of suffering and survival« (ebd.: 4). Insbesondere seit den 1970er-Jahren lässt sich ein explosionsartiger Bedeutungsgewinn feststellen, was dazu führte, dass Stress als Geschäftsfeld entdeckt wurde. Eine milliardenschwere populärwissenschaftliche und ratgeberorientierte Industrie bildete sich um das Phänomen Stress, das zunehmend medial aufgegriffen nicht nur die Titelseiten bekannter Zeitschriften schmückte, sondern sich zu »einer bevorzugten Chiffre...
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