Schweitzer Fachinformationen
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Die Dame im blauen Kleid hatte für ihn ein Hotel nur wenige Schritte von der U-Bahn-Station Stadtmitte gebucht.
Lehmann bot ihm an, Kopien der Akten mitzunehmen, aber Dengler lehnte ab. Er wollte sich nicht mit dem Fall beschäftigen. Er wollte zunächst nur den Mann sehen und feststellen, ob er log oder nicht.
Er wollte ihn unvoreingenommen sehen, den mutmaßlichen Kindsmörder.
Am Abend schlenderte er durch die Friedrichstraße. Es war warm. Viele Touristen und Einheimische waren unterwegs. Die einen studierten Straßenkarten, die anderen drückten sich die Nase an den Schaufenstern platt. Dengler bog in eine Seitenstraße ein, die Rudi-Dutschke-Straße hieß.
Die Zeiten ändern sich, dachte er. Als ich noch Polizist war, lebte Dutschke schon nicht mehr, galt aber immer noch als eine Art Staatsfeind erster Güte. Jetzt benannte man Straßen nach ihm. Gedankenverloren lief Dengler weiter, plötzlich blieb er verblüfft stehen: Die Fassade eines der Häuser, offenbar ein Bürogebäude, war mit einer Kunstinstallation verziert, in deren Zentrum das Relief eines nackten Mannes stand. Auch wenn die Proportionen dieser männlichen Gestalt leicht verzerrt waren, war sein Gesicht doch ein ganz normales Durchschnittsgesicht. Doch was sofort jedem Betrachter ins Auge fiel: Der Penis dieses Mannes war nicht nur sehr dick, sondern besaß eine unglaubliche Länge. Er reichte vom unteren Stockwerk bis zum obersten Geschoss. »Friede sei mit Dir« stand dort in roten Lettern geschrieben auf weißem Untergrund, unmittelbar unterhalb des Daches an der Penisspitze, und Dengler fragte sich, ob dieser Wunsch wohl für den erstaunlichen Penis gelten sollte, der an einer Gruppe sonderbarer Figuren mit Schrifttafeln im zweiten Stock vorbeiführte, ebenso an einer älteren Dame ohne Schrifttafel, deren Relief im vierten Stock befestigt war. Sie sah vornehm aus, eine Perlenkette hätte ihr gut gestanden, dachte Dengler. Die Frau saß auf einem Kissenschemel und spielte auf einem orientalischen Blasinstrument.
Mario hätte ihm sicher den Sinn dieses Kunstwerks erklären können. Dengler stand eine Weile da und betrachtete die Hauswand, und wieder wurde ihm bewusst, wie wenig er von der Welt außerhalb seines Berufes verstand.
Sie trafen sich vor dem Eingang des Gefängnisses Moabit.
»Waren Sie schon in Gefängnissen?«, fragte Lehmann.
»Sicher, aber noch nie in Moabit. In Stammheim war ich oft. Auch in Bruchsal, Karthause und Kaiserslautern.«
Der Beamte hinter der Scheibe aus schusssicherem Glas schien Lehmann zu kennen.
»Und wer ist dieser junge Mann?«, fragte er gut gelaunt.
»Das ist unser neuer Anwaltsgehilfe.«
»Da hamse sicher een Dokument dabei.«
Lehmann legte seinen Rechtsanwaltsausweis und Denglers neuen Arbeitsvertrag in einen Schiebekasten. Der Beamte zog ihn ein und studierte die Unterlagen.
»Dett is ja Ihr erster Arbeitstag heute. Da kriegen Se ja gleich die richtige Einstimmung.«
Dengler nickte.
Sie gingen in einen kleinen Raum, in dem bereits ein anderer Beamter wartete.
»Fertigmachen zur Durchleuchtung.«
Sie legten Geldbeutel, Gürtel, Handys und Schlüssel in eine Kunststoffbox und gingen durch die Sicherheitsschleuse. Auf der anderen Seite nahmen sie Geldbeutel und Schlüssel wieder an sich.
»Ihre Handys bitte bei mir abgeben«, sagte der Beamte.
Dengler sah Lehmann fragend an. Als dieser nickte, legte er sein Handy in eine Plastikbox. Der Beamte reichte ihm eine Quittung.
»USB-Sticks, Laptop, separate Festplatten?«
Sie schüttelten den Kopf.
Der Beamte untersuchte sie. Mit dem Handrücken streifte er Arme, Oberkörper und Beine ab. Dann nahm er Lehmanns Akten und blätterte sie durch.
»Keine Sorge. Ich lese nix.«
»Das darf er«, sagte Lehmann, als er Denglers fragendes Gesicht sah. »Blättern ohne Studium, so steht es in der Gefängnisordnung.«
»Keine Waffen, kein Sprengstoff, nicht mal Schnaps«, sagte der Mann und gab den Ordner zurück.
»Das sagt er jedes Mal«, flüsterte Lehmann Dengler zu.
Sie gingen nun einen Gang aufwärts, passierten zwei Gittertüren, die sich automatisch öffneten, als sie näher kamen.
»Ich könnte kein Strafrechtler sein. Gefängnisse deprimieren mich. Schon allein die Atmosphäre hier ist Grund genug, sich auf Vertragsrecht zu spezialisieren«, sagte Lehmann.
Das Besucherzimmer war hoch und kahl. Ein nackter Raum mit großen vergitterten Fenstern, hellgelben Wänden, einem großen Tisch an der Wand, drei Stühlen. Demonstrativ nur das Notwendigste. Dengler fröstelte. Lehmann setzte sich an die lange Seite des Tisches und legte eine dicke rote Akte vor sich. Dengler setzte sich an die schmale Seite.
Sie warteten.
Die Tür wurde aufgestoßen. Zwei Beamte brachten den Untersuchungshäftling.
Professor Dr. Bernhard Voss war ein hochgewachsener Mann mit kurzem, schwarzem Haar, durchzogen von kräftigen grauen Strähnen an den Schläfen und über der Stirn. Sein Bart war voll, wirkte jetzt jedoch ungepflegt und seit längerem nicht mehr geschnitten. Am Kinn waren die Haare grau, an den Seiten schwarz wie das Kopfhaar. Voss trug eine randlose Brille über einem schockierend blassen Gesicht. Sein Mund war leicht geöffnet, die Mundwinkel waren nach unten gezogen, im rechten Mundwinkel hing ein Speichelflöckchen. Die Oberlippe war leicht hochgezogen, seine Unterlippe vibrierte etwas. Er stand vornübergebeugt, der linke Arm hing herunter, die rechte Hand lag auf seinem Bauch und strich immer wieder über ihn. Sein Blick war gesenkt, trotzdem sah Dengler, dass seine beiden Augäpfel hin und her rasten. Der Mann trug eine ausgebeulte braune Hose aus grobem Cord, die vor vielen Jahren sicher einmal teuer gewesen war, und einen beigen Pullover.
Dengler registrierte die Körperhaltung des Mannes. Er hatte die Schultern in Richtung seiner Ohren hochgezogen. Beim FBI nannten sie das die Schildkrötenhaltung.
Mit der Schildkrötenhaltung macht sich ein Täter klein. Er will nicht auffallen. Er vermeidet Augenkontakt, weil er hofft, dann selbst unsichtbar zu sein.
So stand es in seinem Lehrbuch.
Voss hatte die Mundwinkel nach hinten gezogen, sein Gesicht wirkte verkrampft, als habe er starke Schmerzen.
»Bernhard!«
Dr. Lehmann war aufgestanden und ging steif auf Voss zu. Er blieb vor ihm stehen, vermied aber jede Berührung. Mit einer schnellen Bewegung schob er die Hand vor, zog sie aber sogleich mit einem Ruck wieder zurück.
»Setz dich, Bernhard«, sagte er und ging zurück an den Tisch.
Voss ging mit kleinen, fast tippelnden Schritten auf den Tisch zu und setzte sich. Den Oberkörper hielt er aufrecht. Seine Füße schlang er um die Stuhlbeine.
»Haftschock. Bernhard, du hast einen Haftschock«, sagte Lehmann.
Der Gefängnisbeamte schlug die Tür hinter sich zu. Voss reagierte auf den Knall mit einer plötzlichen Erweiterung der Pupillen.
»Das ist Herr Dengler. Er ist privater Ermittler. Er wird uns bei deiner Verteidigung helfen.«
Voss wendete seinen flackernden Blick auf Georg Dengler, als würde er ihn erst jetzt wahrnehmen.
»Geht es dir halbwegs gut, Bernhard?«, fragte Lehmann. »Brauchst du einen Arzt?«
Voss bewegte den Kopf in einer seltsamen kreisenden Bewegung, die sowohl von rechts nach links und zurück als auch von oben nach unten ging. Es war eine Antwort, die sowohl Ja als auch Nein bedeuten konnte. Der Speicheltropfen löste sich von seinem Mundwinkel und landete auf dem Tisch.
»Bauchschmerzen. Ich hab Bauchschmerzen. Hoffentlich bekomme ich keinen neuen Schub.«
»Ich kümmere mich um einen Arzt. Können wir über deine Verteidigung reden?«, fragte Lehmann.
Erneut die seltsam kreisende Kopfbewegung, die Dengler weder als Zustimmung noch als Ablehnung deuten konnte.
Voss wandte sich ihm zu.
»Ich muss hier raus«, flüsterte er. »Ich hab große Schmerzen.«
»Deshalb sind wir hier. Wir wollen, dass du so schnell wie möglich wieder bei deiner Familie bist. Herr Dengler hat ein paar Fragen an dich.«
Abrupt richtete Voss den Blick auf ihn, und Dengler sah erneut in die beunruhigend schnell flackernden Augen.
»Erinnern Sie sich an den Abend, an dem der Mord geschehen ist?«, fragte Dengler. »Erzählen Sie uns, an was Sie sich erinnern.«
Für einen Moment wanderten Voss' Pupillen nach links oben.
»Ich war zu Hause. Ich hab's der Polizei schon gesagt. Ich war zu Hause. Davor war ich mit meinem Bruder unterwegs. Wir hatten getrunken. Ich war müde. Christine - meine Frau - war nicht da. Ich bin auf der Couch eingeschlafen und in der Nacht aufgewacht. Dann habe ich geduscht und bin ins Bett gegangen. Am Morgen ging ich in die Charité, ins Institut, wie immer. Dann . dieses Theater, der Wirbel, die Blitzlichter, ich wurde verhaftet.«
»Waren Sie stark betrunken?«
»Was heißt stark?«
»Na ja - waren Sie noch Herr Ihrer Lage?«
»Ich erinnere mich, wie ich geduscht habe. Aber an die Heimfahrt davor kann ich mich nicht mehr erinnern.«
Dengler suchte den Blick von...
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