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Das erste Licht verwandelte den Tisch, der unter dem Fenster stand, allmählich aus einem Schatten in ein Möbelstück zurück. Georg Dengler lag bereits eine Stunde wach.
Die Zeit der Morgendämmerung gefiel ihm. Er fand es fair, dass der Tag der zurückweichenden Nacht gestattete, das Gesicht zu wahren, und nur behutsam das Regime über die Gegenstände des Raumes übernahm. Die zwei überlangen Schatten an der Wand schrumpften zu den beiden Flaschen Merlot, die er gestern Abend getrunken hatte, und die dunklen Inseln auf dem Fußboden entpuppten sich innerhalb weniger Minuten als die achtlos hingeworfenen Kleidungsstücke, derer er sich gestern Abend hastig entledigt hatte.
Kaum fanden die Dinge im Zimmer ihre ursprünglichen Konturen wieder, rollte er sich noch einmal auf die Seite. Das Federbett wärmte ihn, und Dengler schloss mit dem Fuß eine Lücke zwischen Decke und Leintuch, durch die für einen Augenblick irritierend kalte Luft eingedrungen war.
In diesen frühen Stunden vermisste er die Nähe eines weiblichen Körpers. Er sehnte sich danach, sich an den Rücken einer schlafenden Frau zu schmiegen, und stellte sich vor, wie er seine Hand um ihre Taille legen, ihre Haut spüren und ihrem Atem lauschen würde. Er blätterte in seiner Erinnerung wie in einer erotischen Kartei, fand aber kein Vorbild für die Frau, die er sich in diesem Augenblick wünschte.
Ich will mich verlieben - dieser Gedanke gefiel ihm nicht. Gestern Abend war er noch spät in die Weinstube Fröhlich gegangen, um seine neue Freiheit mit einem Glas Grauburgunder zu feiern. Doch berührte ihn das Lächeln der jungen Frau, die ihm das Glas an den Tisch brachte, so unerwartet, dass er für einen Augenblick glaubte, es habe ihm selbst gegolten und sei nicht eine professionelle Mimik für den späten Gast. Unauffällig und ein wenig eifersüchtig hatte er beobachtet, ob sie den drei Studenten am Nachbartisch ein ähnlich offenes Lächeln schenken würde. Als sie es nicht tat, leerte er sein Glas in zwei Schlucken und zahlte bei ihrem Kollegen an der Theke.
Inzwischen lärmte auf der Straße die Müllabfuhr.
Georg Dengler wartete einen Augenblick, ob der fast schon vertraute, schmerzende Stich im Kreuz einsetzen würde. Doch heute schmerzte sein Rücken nicht, und so warf er schnell die Decke zurück. In zwei Schritten stand er vor dem CD-Spieler, drückte die Play-Taste, reckte sich und registrierte ungeduldig das kurze Grummeln, mit dem die Maschine sich in Gang setzte. Dann endlich sang Junior Wells einen Willie-Dixon-Blues. Seine raue Stimme füllte Denglers kleines Zimmer, und die Pianosoli von Otis Spann plätscherten durch den Raum.
I don't want you
To be no slave
To work all day
'Cause I'm kind of sad and blue
I just want to make love to you
Dengler drehte den Ton lauter und begann mit den allmorgendlichen Liegestützen. Aus den Augenwinkeln sah er jedes Mal, wenn er sich vom Boden abstemmte, die Marienstatue an der Wand. Bald ist die Farbe völlig abgesprungen, dachte er, und tatsächlich war von dem ehemals blauen Umhang nur noch an wenigen Stellen die Farbe zu sehen. Dunkles Holz trat hervor, und der Heiligenschein war vollständig abgegriffen.
Nach dem dreißigsten Liegestütz schwitzte er. Und als er sich nach der sechzigsten Übung erhob, beobachtete ihn die Madonna immer noch. Junior Well's Mundharmonika lieferte sich ein Duell mit Buddy Guys Gitarre. Er drehte die Musik noch lauter und ging ins Bad.
Nach dem Duschen zog er sich an und benötigte wie üblich zwanzig Minuten dafür. Die einfarbigen, dunkelblauen Boxershorts sollten zu den neuen Jeans passen, er wählte ein helles, leicht ockerfarbenes Shirt. Es passte zu dem dunkelblauen Jackett, in das er nun mit einer schnellen Bewegung schlüpfte.
Noch ohne Schuhe ging er in seinen Büroraum und fuhr den Rechner hoch. Als die Eingabeaufforderung für das Kennwort aufleuchtete, drückte Dengler mit der Esc-Taste dieses Fenster fort. Er brauchte kein Passwort. Über den Netscape-Navigator loggte er sich ins Internet ein und rief die Seite der Citibank auf.
Sein Guthaben betrug 4578,34 Euro. Das Bundeskriminalamt hatte ihm sein letztes Gehalt immer noch nicht überwiesen. In einer Woche würden Miete, Nebenkosten und die monatliche Überweisung ans Jugendamt fällig werden. Hoffentlich traf bis dahin das Geld ein. Er überlegte: Zwei oder drei Monate würde er mit diesem Betrag über die Runden kommen. Er musste unbedingt Geld verdienen. Dengler verließ das Internet, startete Word und begann, die Anzeige zu entwerfen.
Kurz vor neun Uhr nickte er zufrieden. Er las den Text noch einmal sorgfältig durch, korrigierte zwei Schreibfehler und druckte ihn aus. Das Blatt steckte er in die Innentasche seines Jacketts. Er zog ein paar schwarze Slipper an und verließ die Wohnung.
Nach drei Minuten erreichte er das Brenners. Mario saß bereits an einem kleinen Tisch an der Fensterfront des Lokals und rührte in einem Milchkaffee. Er winkte ihm zu. Als Dengler eintrat, nölte Bob Dylan mit ungewohnt engagierter Stimme aus den Lautsprechern:
You got gangsters in power
and lawbreakers making rules.
When you gonna wake up .
»Darf ich mich setzen?«
»Ich frühstücke nicht mit Bullen.«
»Ich bin kein Bulle mehr.«
»Einmal Bulle, immer Bulle.«
Beide lachten; dann lagen sie sich in den Armen.
Mario und Dengler stammten beide aus Altglashütten, einem kleinen Dorf im Südschwarzwald. Denglers Mutter bewirtschaftete nach dem Tod seines Vaters den kleinen Bauernhof alleine weiter, bis sie ihn vor einigen Jahren in eine Ferienpension umbauen ließ. Marios Mutter wohnte in einer Zweizimmerwohnung im ersten Stock des Dorfbahnhofes. Tagsüber arbeitete sie bei der Rhodia, einem Chemiewerk in Freiburg.
Sie hatte nie geheiratet, und niemand außer ihr wusste, wer Marios Vater war. Ein schöner Italiener - mehr gab sie nie preis.
Mario sah man seinen italienischen Vater sofort an. Er war nicht sonderlich groß gewachsen, maß sicherlich nur wenig über einen Meter siebzig. Die schwarzen Haare trug er schulterlang, streng nach hinten gekämmt und häufig mit einem Haarband mühsam gebändigt. Sein Vater hatte ihm das lebhafte Temperament vermacht, das Gestikulieren mit beiden Händen, das Argumentieren mit dem ganzen Körper.
Obwohl er drei Jahre jünger war als Dengler, wählte er sich damals den Älteren als Freund und ließ sich davon auch dann nicht abbringen, als Georg die Anhänglichkeit des Jüngeren unangenehm, ja ärgerlich wurde und er ihn fortschickte. Doch am nächsten Tag war Mario wieder da, als habe er das sichere Gefühl, dass sie, die beiden vaterlosen Außenseiter der Dorfgemeinschaft, letztlich für eine Freundschaft bestimmt seien, die mehr als nur den Altersunterschied überstehen würde. Irgendwann kapitulierte Georg und akzeptierte die Gefolgschaft des Jüngeren, zunächst nur als eine Art Eleve, den er mit kleineren Aufträgen und Diensten demütigte, doch schon bald als seinen besten und einzigen Freund anerkannte.
Später trennten sich ihre Wege, doch die Verbindung riss nie ab. Mario begann in Freiburg eine Anstreicherlehre, die er bald wieder abbrach. Danach malte er Bilder, immer Vater-und-Sohn-Motive, alle entweder in einem toskanischen Ocker gehalten oder in einer Farbsinfonie von Rot, Blau und Gelb. Dengler wusste, dass ein Sammler ihm ein- oder zweimal im Jahr ein Bild abkaufte, doch wer dieser Käufer war, verriet Mario niemandem, nicht einmal Georg.
Mit der gleichen Besessenheit, mit der Mario die großen Leinwände füllte, erschuf er sich seine italienische Identität, wie eine zweite, selbst erwählte Haut. Er erlernte die Sprache seines unbekannten Vaters mit einer Verbissenheit und Energie, die der grüblerische Dengler nie aufgebracht hätte. Du weißt, ich werde nie damit zufrieden sein, antwortete Mario jedes Mal, wenn Georg sich nach dem Fortschritt seiner Sprachstudien erkundigte.
Ebenso stürzte er sich mit einer nie enden wollenden Begeisterung aufs Kochen. Zunächst erlangte er eine reife Meisterschaft in allem, was er für italienische Küche hielt: Pasta in allen Varianten, Schwertfisch, Kalbfleisch in Zitronensauce. Dann erschloss er sich die badische, später die französische Küche. Obwohl er gerne las, erfreute ihn ein neues Kochbuch mehr als ein guter Roman.
Als Mario sich in Sonja verliebte, dämpfte dies seine manische Art, sich in einen echten Italiener zu verwandeln. Ihr zuliebe zog er nach Stuttgart, in eine kleine Wohnung im obersten Stockwerk eines großen Hauses in der Mozartstraße. Dort betrieb er nun in ihrem gemeinsamen Wohnzimmer ein Einzimmerrestaurant, das er halb Sonja, halb seinem Lieblings-Beaujolais zuliebe »St. Amour« nannte. Für siebzig Euro pro Person kochte er die besten Gerichte, die Dengler je aß, und die erlesensten Menüs, die in Stuttgart zu haben waren. Im Preis enthalten waren ausgewählter Wein und ein Glas besten Crèmants. Kein Wunder, Marios Wohnzimmer wurde bald zum Geheimtipp von Stuttgarts Künstlerszene.
»Es ist klasse, dass wir beide wieder in derselben Stadt wohnen«, sagte Mario, »warum hast du dir eigentlich Stuttgart ausgesucht?«
»Mein Sohn Jakob wohnt hier. Er ist jetzt bald alt genug zu entscheiden, wohin er nach Schulschluss...
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