Prolog
Bruchsal,
1. März 1945
Die Granate schlägt unmittelbar hinter dem großen Propeller in den Rumpf der P-51 Mustang und explodiert sofort. Ihr Mantel zerlegt sich in 1500 scharfkantige Splitter, so, wie ihre Konstrukteure es berechnet haben.
Eine Hitzewelle schießt durch die Maschine, und Steven Blackmore fühlt sich inmitten einer weißen, blendenden Hölle. Der plötzliche Luftdruck wirft die Mustang wie einen Ball zur Seite. Steven Blackmores Kopf schlägt gegen die Verstrebung des Kabinendachs.
Dann wird sein Gesicht gegen die Armaturen gepresst.
Er denkt, die Gurte brechen seine Schulterblätter. Er wird in den Sitz zurückgeschleudert, und es ist, als halte eine riesige Faust das Flugzeug plötzlich fest und als stehe es in der Luft still. Vor ihm verformt sich einer der vier großen Propellerflügel zu einer bizarren Skulptur, bevor er aus seinem Gesichtsfeld verschwindet.
Blackmore stemmt sich in seinem Sitz nach vorne.
Ist die Maschine noch steuerbar?
Tankanzeige? Normal.
Bordwaffen testen.
Blick nach rechts.
Aus dem Tragflügel sind alle drei Maschinengewehre herausgerissen, ihre Rohre spreizen sich in grotesken Winkeln gegen den Himmel. Die Waffen in der linken Tragfläche scheinen intakt. Sein Zeigefinger tastet zum Auslöser am Steuerknüppel. Er feuert eine Salve aus den drei MGs der linken Tragfläche. Sie funktionieren einwandfrei.
Seine Augen tasten die primären Fluginstrumente im gelben Sektor ab.
Kurskreisel normal, Künstlicher Horizont normal, Wendezeiger hängt.
Die Maschine befindet sich nicht mehr auf der Flugachse.
Ladedruck gefallen, Climb Variometer: Die Maschine sinkt schnell.
Er steuert dagegen. Die Maschine reagiert nicht.
Höhensteuerung ausgefallen. Wahrscheinlich Hauptholm getroffen.
Die Mustang ist nicht mehr steuerbar.
Ich muss raus.
Seine rechte Hand zieht den roten Hebel auf der rechten Seite.
Klemmt.
Er reißt an dem Hebel.
Zieht mit beiden Händen.
Dann ist das Kabinendach verschwunden.
Er löst die Gurte.
Auf die linke Tragfläche klettern.
Der Tank in der rechten Tragfläche explodiert, ehe er sich aus dem Sitz ziehen kann.
Steven Blackmore wird wie eine menschliche Kanonenkugel in den kalten Märzhimmel katapultiert. Himmelwärts. Die Beine voran. Eine eiserne Faust presst seinen Kopf an den Magen, drückt ihn zusammen, als wolle sie ihn in eine winzige Büchse stecken.
Die tödlich getroffene Mustang rast ohne ihn weiter.
So ist das also, wenn man stirbt, denkt er.
Dann verliert er das Bewusstsein.
*** Bald kann ich nach Chicago zurück, hatte Steven Blackmore noch am Morgen gedacht. Der Krieg ist gewonnen.
Er verstand die Deutschen nicht.
Warum geben sie nicht auf?
Die amerikanischen Bodentruppen hatten die Grenzen des Deutschen Reiches in der Eifel und im Saarland überschritten, standen im Elsass und bereiteten den Vorstoß durch die Pfalz bis zum Rhein vor. Die Russen würden Berlin einnehmen. Tag und Nacht warfen die alliierten Fliegerströme Tausende von Tonnen Spreng- und Brandbomben auf die deutschen Städte und töteten mehr Zivilisten als in den vorhergehenden Kriegsjahren zusammen. Und trotzdem, Blackmore schüttelte wieder den Kopf, die Deutschen waren dumm: Sie machten in einer aussichtslosen Lage einfach weiter.
Vor zwei Wochen hatte er mit seiner Staffel die Schienen eines Güterbahnhofs einer kleinen Stadt am Rhein gesprengt, deren Namen er längst vergessen hatte. Noch in der Nacht reparierten die Verrückten auf dem Boden die Gleise. Die Aufklärer brachten bereits mittags Fotos von zwei dampfenden Zügen, die Nachschub an die Front im Westen transportierten. Major Waters zeigte ihnen die Bilder und übersetzte auch den Satz, den die Deutschen mit großen weißen Lettern auf eine der beiden Lokomotiven geschrieben hatten: »Räder müssen rollen für den Sieg.« Am nächsten Tag legten zwanzig Flying Fortress einen Bombenteppich über Güterbahnhof und Stadt und verwandelten alles unter sich in ein Gemisch aus Stein und Stahl und Blut und Knochen.
Leutnant Steven Blackmore hatte nach seiner Ausbildung in Tuskegee/Alabama die meiste Zeit des Krieges in Italien gekämpft. Die 332nd Fighter Group, erkennbar an dem rot bemalten Heckleitwerk, gab den Bombern der 12. und 15. Air Forces Geleitschutz, wenn sie von Italien aus Stellungen der Wehrmacht oder Städte im Süden Deutschlands angriffen. Nun waren einige Mustangs nach Toul-Ochey verlegt worden, um den Vormarsch an den Rhein zu unterstützen.
Der 1. März sollte ursprünglich ein Erholungstag sein. Doch frühmorgens kam der Einsatzbefehl. Die Jäger der 352nd Fighter Group vom Flugplatz Chievres in Belgien, die einen großen Bomberstrom aus East Anglia und Kimbolton im Süden Englands ab Straßburg schützen sollten, konnten wegen Nebels nicht starten, und so mussten die Mustangs aus Toul-Ochey einspringen.
Die Besprechung am Morgen war kurz gewesen. Major Waters hatte den Piloten auf der Landkarte die Lage dargestellt, mit dem Zeigestock zog er Kreislinien auf dem aufgehängten Ausschnitt.
»Unsere Truppen stehen unmittelbar vor Saarbrücken und im Elsass. Die Krauts stehen in der Pfalz und werden sich bei unserem nächsten Angriff zurückziehen. Die Air Force will das Gefechtsfeld abriegeln, sodass dem Feind weder ein geordneter Rückzug noch der Aufbau einer neuen Verteidigungslinie möglich ist. Insbesondere werden wir die Zuführung von Truppen und Material auf dem Bahnweg unterbinden. Die Nazis haben kein Benzin mehr und müssen jeden Schuss Munition mit der Bahn an die Front bringen. Sie reparieren in der Nacht und transportieren in der Nacht. Deshalb schalten wir die Bahnverkehrsknoten aus.«
Sein Stock deutete auf einen kleinen Ort östlich des Rheins. Dann nahm er ein Fernschreiben vom Tisch und schwenkte es vor den Piloten.
»Befehl 1679. Legt die Ziele des Einsatzes Nr. 857 von heute Mittag fest. Das ist der Rangierbahnhof Bruchsal, die Rangier- und Güterbahnhöfe Neckarsulm, Heilbronn, Reutlingen, Göppingen und Ulm sowie die Messerschmitt-Teilefertigungen in Baumenheim und Schwabmünchen, das Klöckner-Humboldt-Deutz Panzer-Werk Ulm und das Munitionsdepot Ulm. Ihr Rendezvouspunkt mit dem Bomberstrom liegt acht Kilometer südwestlich von Straßburg. Hier Ihre Flugwegkarten. Irgendwelche Fragen?«
Es gab keine Fragen.
*** Südlich von Straßburg traf er pünktlich auf den riesigen Bomberstrom, der durch das flakfreie Loch zwischen Karlsruhe und Mannheim nach Deutschland einflog. Das Bild der anfliegenden Bomber beeindruckte ihn jedes Mal aufs Neue. Diesmal waren es über 1000 »Fliegende Festungen«, die ihm »dreistöckig«, das heißt auf drei unterschiedlichen Flughöhen, und in einer Länge von 300 Kilometern entgegenkamen. Der Strom wandte sich ostwärts, und nach 40 Kilometern löste sich der riesige Verband in die einzelnen Combat Wings auf, die ihren vorgegebenen Zielen entgegenflogen.
Blackmore begleitete drei Verbände, die sich von dem riesigen Bomberstrom getrennt hatten: die 379th, die 303rd und die 384th Bomb Group. Zusammen waren es 117 schwere B-17-Bomber, die auf Bruchsal zuflogen.
Mit deutscher Gegenwehr rechnete er nicht. Die feindlichen Piloten verloren seit einigen Monaten jeden Luftkampf gegen die Mustangs. Die Krauts litten unter Treibstoffmangel, und wegen des Treibstoffmangels konnten sie ihre Piloten nicht mehr ausbilden. Hitler schickte sie mit nur wenigen Flugstunden in den sicheren Tod.
Sie bemerken uns zu spät. Wenn wir von hinten kommen, sehen sie uns gar nicht.
Blackmore hatte in diesem Jahr bereits drei Messerschmidt abgeschossen, und sie waren leichte Beute gewesen.
Auch die einstmals gefürchtete Flak war stumm geworden. Die deutschen Städte lagen wehrlos unter ihnen. Nur selten standen noch die kleinen weißen Wölkchen am Himmel, die entstanden, wenn eine Flakgranate explodierte und sich in ihre gefährlichen Splitter zerlegte. Die gefürchteten Granatteppiche, die die Piloten der B-17-Bomber früher in Panik versetzten, gab es schon lange nicht mehr. Wenn jetzt Flakfeuer eröffnet wurde, dann schossen die Krauts planlos und ungenau. Waters hatte ihnen erklärt, die Deutschen hätten die Flakbesatzungen komplett an die Ostfront verlegt. Im Westen würden nun Kinder und Jugendliche die Flugabwehrkanonen bedienen. Die Piloten hatten stumm dagesessen, und nicht alle glaubten Waters.
Die drei amerikanischen Bombergruppen, die Blackmore mit seiner Fighter Group zu schützen hatte, flogen gestaffelt hintereinander, zuerst die 379th, dann die 303rd und schließlich die 384th Bomb Group. Jede der drei Gruppen bestand wiederum aus drei Schwadronen, die unterschiedlich hoch flogen. Zunächst kam auf einer mittleren Höhe die Lead Squadron mit 12 Bombern. Hinter ihr, nach links versetzt und tiefer fliegend, folgte die Low Squadron mit 13 Maschinen. Dahinter rechts versetzt und am höchsten flog die High Squadron mit 14 Maschinen. Dann folgte die nächste Bomb Group mit wiederum drei Squadrons. Die drei Bomb Groups hielten fünfzehn Kilometer Abstand, nicht mehr als drei Flugminuten Distanz.
Blackmore zog seine Mustang an die Spitze des ersten Verbandes. Um 13.41 Uhr bog er mit der Lead Squadron der 379th Bomb Group, die die erste...