Schweitzer Fachinformationen
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»Die alte Dame ist der festen Überzeugung, dass der Tod ihrer Enkelin keine natürliche Ursache hat«, sagte Georg Dengler.
Am frühen Nachmittag saßen Georg und Olga im Basta. Er hatte sich einen doppelten Espresso bestellt, sie nippte an ihrem schwarzen Tee und hörte ihm aufmerksam zu.
»Sie hat keinerlei Hinweise, die diese Überzeugung stützen - es ist nur eine Vermutung. Ihre Vermutung.«
Der Tod der Bundestagsabgeordneten Angelika Schöllkopf im Plenum des Bundestags hatte für einen Tag die Schlagzeilen beherrscht. Der Spiegel veröffentlichte eine zweiteilige Artikelserie über die Arbeitsbelastung von Abgeordneten, eine Idee, die der Stern dann aufgriff. Einige Fernsehmagazine folgten mit Sendungen über den Herzinfarkt, von dem immer mehr Menschen betroffen seien. Das war's dann. Nun war der Tod von Angelika Schöllkopf kein Medienthema mehr.
Olga runzelte die Stirn: »Eine Vermutung?«
»Bestenfalls.«
»Wo wohnt sie?«
»In Berlin.«
»Berlin? Wie kommt sie dann auf dich?«
»Ich sei ihr empfohlen worden, hat sie gesagt. Sie hat hier in Stuttgart ein Zimmer genommen. Im Hotel Sauer.«
»Georg, endlich hast du mal einen spannenden Fall«, sagte Martin Klein, der sich zu ihnen gesetzt hatte.
»Vielleicht was für deinen Kriminalroman?«, fragte Olga etwas spöttisch.
»Jedenfalls spannender als all der Erbschaftskram, als untreue Ehefrauen und diese langweiligen Mietsachen.«
Georg Dengler betrachtete seinen Freund. Die weiß gewordenen Schnurrbarthaare standen ab und schienen zu vibrieren. Klein wirkte angespannt und nervös. Seine Finger bewegten sich an der Tischkante entlang, als spielten sie auf einem unsichtbaren Flügel eine komplizierte Sonate.
»Ich weiß noch nicht, ob ich den Fall annehmen werde«, sagte Dengler schließlich.
Klein verdrehte die Augen.
»Jetzt hast du mal einen interessanten Fall, und dann zögerst du?«
Er schüttelte den Kopf.
Martin Klein, sein Freund und Nachbar, mit dem er Tür an Tür wohnte, schrieb Horoskope für Tageszeitungen und für Frauenzeitschriften. Aufmunternde, kleine Horoskope für die Tageszeitungen, die meist wöchentlich erscheinenden Frauenzeitschriften räumten ihm ein paar Zeilen mehr ein.
Seltsam, dachte Dengler, ich habe Martin nie gefragt, ob er an Astrologie glaubt. Ohne dass die beiden Freunde je darüber gesprochen hatten, ging Dengler stillschweigend davon aus, dass Martin Klein nichts von Horoskopen und Astrologie hielt. Es passte einfach nicht zu ihm. Er wirkte aufgeklärt und vernünftig, eher der Wissenschaft zugeneigt als der Esoterik. Aber sicher bin ich nicht, dachte Dengler. Obwohl ich Martin täglich sehe, weiß ich doch wenig über ihn.
Vor einigen Jahren, als er seinen ersten Fall bearbeitete, war Denglers Büro und Wohnung heimlich durchsucht worden. Damals verdächtigte er Martin zu Unrecht, der unbekannte Schnüffler gewesen zu sein. Das tut mir heute noch leid, dachte er. Er hatte Klein seinerzeit überprüft und herausgefunden, dass dieser zwei Kriminalromane veröffentlicht hatte. Leider machte der Verlag bald nach Erscheinen des zweiten Krimis Pleite, und beide Bücher waren nicht mehr lieferbar. Später, als sie Freunde wurden, erzählte ihm Klein, dass er fast alle seine Ersparnisse in diese beiden Romane gesteckt habe. Vier Jahre habe er an ihnen gearbeitet. Und da sei er froh gewesen, den Job mit den Horoskopen zu bekommen.
Doch Kleins heimliche Leidenschaft galt immer noch den Kriminalromanen. Einen Kriminalroman zu schreiben, sagte Klein einmal zu Dengler und Olga, sei das größte Glück auf Erden. Sich ein Verbrechen auszudenken, eine Geschichte zu konstruieren, Figuren zu erfinden . Dann das Schreiben selbst. Wenn man eine gute Szene geschrieben habe, sei dies das beste Gefühl, das er kenne. Nur mit Sex vergleichbar, fügte er schmunzelnd hinzu, aber daran könne er sich in seinem Alter nur noch unklar erinnern.
Hin und wieder zog Klein seinen Freund Georg damit auf, dass dessen Fälle für einen guten Krimi einfach nicht taugten. Und machte dabei immer die gleiche wegwerfende Handbewegung. Aber insgeheim, da war sich Dengler sicher, wartete Klein noch immer auf den ganz besonderen Fall, den er zu einem Kriminalroman verarbeiten konnte.
»Warum willst du den Fall nicht annehmen?«, fragte Olga.
Georg Dengler blickte zu Olga, die ihn anlächelte.
Diese Frau ist das Beste, was mir in meinem Leben passiert ist.
Seit seinem letzten größeren Fall waren sie ein Paar. Trotzdem gab es Themen, über die er nichts wusste und über die sie nicht sprach. Sie schwieg, sooft er sie auch fragte. Ihre Kindheit in Rumänien - er wusste, dass sie sehr arm und nicht bei ihren Eltern aufgewachsen war. Als Kind war ihr der Zeigefinger der rechten Hand gedehnt und gezogen worden, bis er genauso lang wie ihr Mittelfinger war. Gleich große Zeige- und Mittelfinger sind ein strategischer Vorteil, wenn man in die Jackett- und Hosentaschen anderer Leute greift.
Olga hat mir nie erzählt, wie lange sie in ihrer Kindheit als Diebin arbeiten musste. Sie hat mir auch nie, außer einer kurzen Bemerkung, von der Ehe erzählt, zu der sie als Mädchen gezwungen worden war.
Und doch hatte Olga diese schwierigen Jahre offenbar ohne Schäden hinter sich gebracht. Nur manchmal wälzte sie sich schwer im Schlaf. Dann legte Georg ihr eine Hand auf die Stirn, und sofort atmete sie wieder ruhig und gleichmäßig.
Olga lebte, so schien es Dengler, frei und unbeschwert. Sie kannte keine Finanzprobleme. Wenn ihr Geld knapp wurde, spazierte sie ein- oder zweimal durch die Lobby eines großen Hotels - und schon reichte es wieder für die nächsten Monate. Jetzt arbeitete sie nur auf eigene Rechnung. Den Leuten, denen ich Geld stehle, tut das nicht weh, sagte sie zu Georg. Mache dir keine Sorgen! Sie erzählte Dengler nie, wann sie loszog, manchmal verschwand sie für zwei oder drei Tage. Und nie wurde sie geschnappt.
Während Klein sich über den Einzug eines privaten Ermittlers in das Haus gefreut hatte, hatte Georgs Erscheinen die schöne Olga beunruhigt. Es dauerte lange, bis sie mit ihm überhaupt ein Wort sprach. Doch als sie merkte, dass er, der Expolizist, sie in Ruhe ließ, half sie ihm sogar. Seinen ersten Fall hätte er ohne sie nicht lösen können. Und bei seinem zweiten großen Fall war sie ständig an seiner Seite.
All das bedachte Dengler in Sekundenbruchteilen, bevor er ihr antwortete: »Es ist in diesem Fall äußerst schwierig, an die nötigen Informationen zu kommen, außerdem habe ich im Augenblick einiges zu tun.«
Das stimmte. Nach der harten Zeit, in der Dengler jeden Fall annehmen musste, um sich über Wasser zu halten, hatte sich die Auftragslage gebessert. Mittlerweile war sein Minus auf dem Konto geschmolzen, und nun hegte er die kühne Hoffnung, es könne sich in einigen Monaten sogar in ein Plus verwandeln.
»Wie würdest du denn vorgehen? Ich meine - nur mal angenommen, du nimmst den Auftrag an?«, fragte Klein.
»Die klassische Methode - Motiv, Tatwaffe, Tatort. An diesen drei Tatmerkmalen würde ich ansetzen, aber das ist in diesem Fall besonders schwierig.«
»Warum?«
»Es gibt keine Tatwaffe, keine erkennbare zumindest. Die Frau geht zum Rednerpult und will eine Rede halten. Dann erleidet sie eine Herzattacke und stirbt. Wenn man den Medien glauben darf: an Erschöpfung oder Überlastung. Also keine Tatwaffe, die mich zu einem Täter führen könnte. Keine sichtbare, jedenfalls. Auch die Leiche hilft mir nicht weiter.«
Er sah das fragende Gesicht Kleins.
»Sie ist schon beerdigt. Und den Tatort? Den dürfte ich nicht einmal betreten.«
»Warum nicht?«
»Den Plenarsaal des Bundestages dürfen nur Abgeordnete oder Saaldiener betreten, nicht einmal Angestellte des Bundestages dürfen hinein.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Olga.
»Wahrscheinlich hat er in Gemeinschaftskunde aufgepasst«, sagte Klein.
»Falsch«, sagte Dengler, »ich hab im Bundestag angerufen und mich erkundigt. Bevor ich einen Auftrag annehme oder ablehne, will ich die äußeren Umstände kennen. Mittlerweile dürften jedoch am Tatort, wenn man ihn denn überhaupt so nennen kann, keine Spuren mehr zu sehen sein. Das ist alles schon zwei Wochen her.«
Martin Klein machte sich hastig einige Notizen.
»Bleibt die Frage nach dem Motiv«, sagte er dann und zog mit dem Kugelschreiber eine Linie unter das bisher Geschriebene.
»Konnte die Großmutter einen Anhaltspunkt für ein Motiv liefern?«, fragte Olga.
»Nein. Konnte sie nicht. Ihr einziges Argument ist ein medizinisches: In ihrer Familie hatte noch nie jemand ein schwaches Herz. Ich habe ihr gesagt, dass in ihrer Familie wahrscheinlich auch noch niemand den Belastungen eines Abgeordnetenberufs ausgesetzt war.«
»Und?«
»Was und?«
»Was hat sie daraufhin gesagt?«
»Sie habe den Heiligen Antonius gebeten, dass er ihr helfe. Ich solle in seinem Namen der Sache nachgehen.«
»Den Heiligen Antonius?«
Martin Klein blickte perplex von seinen Aufzeichnungen auf.
»Ja, sie sprach vom Heiligen Antonius und dass sie zuvor eigens an einer Kirche vorbeigefahren sei, Geld gespendet und ihn um Unterstützung gebeten habe: Er solle den Privatermittler dazu bringen, den Tod ihrer Enkelin...
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