[Die Kunst, glücklich zu sein oder] Eudämonologie
[Die Kunst, glücklich zu sein oder] Eudämonologie1
Die Lebensweisheit als Doktrin wäre wohl ziemlich synonym mit Eudämonik.2 Sie sollte3 lehren, möglichst glücklich zu leben, und zwar die Aufgabe noch unter zwei Beschränkungen lösen: nämlich ohne Stoische Gesinnung und ohne Machiavellismus anmuten zu sein. Erstere, den Weg der Entsagung und Entbehrung nicht, weil die Scienz auf den gewöhnlichen Menschen berechnet ist, und dieser viel zu willensvoll (vulgo sinnlich) ist, als daß er auf jenem Wege sein Glück suchen möchte: letzteren, den Machiavellismus, d.h. die Maxime, sein Glück auf Kosten des Glückes aller Übrigen zu erlangen, nicht, weil eben beim gewöhnlichen Menschen die hiezu nötige Vernunft nicht vorausgesetzt werden darf.4
Das Gebiet der Eudämonik läge also zwischen dem der Stoik und dem des Machiavellismus, beide Extreme als zwar kürzere, aber ihr versagte Wege zum Ziel betrachtend: sie lehrt, wie man möglichst glücklich leben kann, ohne große Entsagung und Selbstüberwindung, und ohne grade Andre für gar nichts anderes als mögliche Mittel zu seinen Zwecken zu achten.5
Oben an stände der Satz, daß positives und vollkommnes Glück unmöglich; sondern nur ein komparativ weniger schmerzlicher Zustand zu erwarten. Die Einsicht hievon kann aber sehr beitragen, uns des Wohlseins, welches das Leben zuläßt, teilhaftig zu machen. Sodann daß selbst die Mittel hiezu nur sehr teilweis in unsrer Gewalt sind: t? µ?? ?f' ?µi? [das in unserer Macht Stehende].6
Sodann zerfiele sie in zwei Teile:
1) Regeln für unser Verhalten gegen uns selbst
2) für unser Verhalten gegen andre Menschen.7
Vor dieser Trennung in zwei Teile wäre noch das Ziel näher zu bestimmen, also zu erörtern, worin das als möglich bezeichnete menschliche Glück bestände und was dazu wesentlich.
Obenan: Heiterkeit des Gemüts, e?????a, glückliches Temperament. Es bestimmt die Kapazität für Leiden und Freuden. 8
Ihm zunächst Gesundheit des Leibes, die mit jenem genau zusammen hängt und beinahe unumgängliche Bedingung dazu ist.
Drittens Ruhe des Geistes. ????? tò f???ei? e?da?µ???a? p??t?? ?p???e? [«Verständig zu sein ist der Hauptteil des Glücks», Sophokles, Antigone, 1328 (vv. 1347-48)]. '?? t? f???ei? ??? µ?d?? ?d?st?? ß??? [«In der Gedankenlosigkeit besteht das angenehmste Leben», Sophokles, Aiax, 550 (554)].
Viertens Äußere Güter: ein sehr kleines Maß. Epikuros: Einteilung in
1) natürliche und notwendige,
2) natürliche und nicht notwendige,
3) weder natürliche noch notwendige Güter.9
In den oben angegebenen zwei Teilen sollte nur gelehrt werden, wie dies alles zu erlangen: (Das Beste tut überall die Natur: jedoch was an uns liegt.) Dies geschähe durch Aufstellung von Lebensregeln: diese müßten aber nicht pêle mêle folgen, sondern unter Rubriken gebracht sein, die jede wieder Unterabteilungen hätte. Das ist schwer, und ich kenne keine Vorarbeit dazu. Daher ist das beste, Regeln dieser Art zu erst wie sie kommen niederzuschreiben und sie nachher zu rubrizieren und einander unterzuordnen.
Zum Versuch:
LEBENSREGEL NR. 1
10 d.h. wir treten in die Welt voll Ansprüche auf Glück und Genuß und bewahren die törichte Hoffnung, solche durchzusetzen, bis das Schicksal uns unsanft packt und uns zeigt, daß nichts unser ist, sondern alles sein, da es ein unbestreitbares Recht hat nicht nur auf allen unsern Besitz und Erwerb, sondern auf Arm und Bein, Auge und Ohr, ja auf die Nase mitten im Gesicht. Sodann kommt die Erfahrung und lehrt uns, daß Glück und Genuß bloße Chimären sind, die eine Illusion uns in der Ferne zeigt, hingegen das Leiden, der Schmerz real sind, sich selbst unmittelbar kundgeben, ohne der Illusion und Erwartung zu bedürfen. Fruchtet ihre Lehre, so hören wir auf, Glück und Genuß zu suchen, und sind allein darauf bedacht, dem Schmerz und Leiden möglichst zu entgehen. ?? tò ?d?, ???? tò ???p?? d???e? ? f????µ?? [«Nicht nach Lust, sondern nach Schmerzlosigkeit strebt der Kluge», Aristoteles, Nikomachische Ethik, VII, 11, 1152 b 15]. Wir sehn ein, daß das Beste, was auf der Welt zu finden sei, eine schmerzlose, ruhige erträgliche Gegenwart ist: wird uns solche, so wissen wir sie zu schätzen, und hüten uns wohl, sie zu verderben durch ein rastloses Sehnen nach imaginären Freuden oder durch ängstliches Sorgen für eine stets ungewisse Zukunft, die doch ganz in der Hand des Schicksals ist, wir mögen ringen, wie wir wollen.>11 - Dazu: und wie sollte es töricht sein, stets dafür zu sorgen, daß man die allein sichere Gegenwart möglichst genieße, da ja das ganze Leben nur ein größeres Stück Gegenwart und als solches ganz vergänglich ist? Hiezu Nr. 14.
LEBENSREGEL NR. 2
Vermeidung des Neides: numquam felix eris, dum te torquebit felicior [«Niemals wirst du glücklich sein, wenn es dich quält, daß ein anderer glücklicher ist», Seneca, De ira, III, 30, 3]. Cum cogitaveris quot te antecedant, respice quot sequantur [«Wenn du bedenkst, wie viele dir voraus sind, so denke daran, wie viele dir folgen», Seneca, Epistulae ad Lucilium, 15, 10]. Siehe Nr. 27.
Neid: und doch sind wir unaufhörlich hauptsächlich bemüht, Neid zu erregen!>12
LEBENSREGEL NR. 3 Erworbener Charakter (S. 436 des Werks)13
erworbene Charakter, den man erst im Leben, durch den Weltgebrauch, erhält, und von dem die Rede ist, wenn man gelobt wird als ein Mensch, der Charakter hat, oder getadelt als charakterlos. - Zwar könnte man meinen, daß, da der empirische Charakter, als Erscheinung des intelligibeln, unveränderlich und, wie jede Naturerscheinung, in sich konsequent ist, auch der Mensch ebendeshalb immer sich selbst gleich und konsequent erscheinen müßte und daher nicht nötig hätte, durch Erfahrung und Nachdenken, sich künstlich einen Charakter zu erwerben. Dem ist aber anders, und wiewohl man immer der Selbe ist, so versteht man jedoch sich selbst nicht jederzeit, sondern verkennt sich oft, bis man die eigentliche Selbsterkenntnis in gewissem Grade erworben hat. Der empirische Charakter ist, als bloßer Naturtrieb, an sich unvernünftig: ja, seine Äußerungen werden noch dazu durch die Vernunft gestört, und zwar um so mehr, je mehr Besonnenheit und Denkkraft der Mensch hat. Denn diese halten ihm immer vor, was dem Menschen überhaupt, als Gattungscharakter, zukommt und im Wollen, wie im Leisten, demselben möglich ist. Hiedurch wird ihm die Einsicht in dasjenige, was allein von dem allen, er, vermöge seiner Individualität, will und vermag, erschwert. Er findet in sich zu allen noch so verschiedenen menschlichen Anstrebungen und Kräften die Anlagen; aber der verschiedene Grad derselben in seiner Individualität wird ihm nicht ohne Erfahrung klar: und wenn er nun zwar zu den Bestrebungen greift, die seinem Charakter allein gemäß sind, so fühlt er doch, besonders in einzelnen Momenten und Stimmungen, die Anregung zu gerade entgegengesetzten, damit unvereinbaren, die, wenn er jenen ersteren ungestört nachgehen will, ganz unterdrückt werden müssen. Denn, wie unser physischer Weg auf der Erde immer nur eine Linie, keine Fläche ist; so müssen wir im Leben, wenn wir Eines ergreifen und besitzen wollen, unzähliges Anderes, rechts und links, entsagend, liegen lassen. Können wir uns dazu nicht entschließen, sondern greifen, wie Kinder auf dem Jahrmarkt, nach Allem was im Vorübergehen reizt; dann ist dies das verkehrte Bestreben, die Linie unseres Wegs in eine Fläche zu verwandeln: wir laufen sodann im Zickzack, irrlichterlieren hin und her und gelangen zu nichts. - Oder, um ein anderes Gleichnis zu gebrauchen, wie nach Hobbes' Rechtslehre, ursprünglich jeder auf jedes Ding ein Recht hat, aber auf keines ein ausschließliches; letzteres jedoch auf einzelne Dinge...