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Anstelle eines Vorwortes
Manchmal sieht man im tibetischen Hochland einen Mönch am Ufer eines Flusses stehen. Von weitem hat es den Anschein, als ob er angelte. Doch er senkt an einer Schnur eine Art Tafel ins Wasser, lässt sie ein Stück davontreiben und holt sie dann wieder ein, um sie erneut davontreiben zu lassen. An der Unterseite der Tafel sind Stechformen befestigt, die sonst dazu dienen, das Bildnis Buddhas in Lehmziegel einzuprägen.
Andere wiederum benutzen Druckstöcke der heiligen Schriften und stempeln damit das Wasser. Auch sie stehen über Stunden am Ufer, versenken die Tafeln in die Fluten und sich in die Zeit. So erwerben sie spirituelle Verdienste. Dazu findet man allerorten wassergetriebene Gebetsmühlen, die, indem sie sich drehen, ein Mantra in die Welt setzen, nicht anders als ihre landgestützten Entsprechungen. Die Flüsse tragen diese Lobpreisung hinaus ins Land bis ins unendlich ferne Meer. Noch sind sie schmal und seicht, und ihre heimischen Namen dürften außerhalb des tibetischen Sprachraums nur wenigen ein Begriff sein: Senge Tsangpo, Yarlung Tsangpo, Dza Chu, Dri Chu, Ma Chu. Als Indus, Brahmaputra, Mekong, Jangtsekiang und Huang He aber kennt sie alle Welt.
Flüsse sind Trägermedien, sie speichern und übermitteln Informationen. Das kann mit traditionellen Mitteln geschehen wie im Fall der frommen Mühlen. Oder wie beim Fischervolk der Gbanzili an den Ufern des Ubangi, das, wie wir sehen werden, die »Hüter des Flusses« mit Tänzen und Gesängen so lange herbeiruft, bis sie erscheinen. Oder etwa mit einer Flaschenpost. Oder mit eimerweiser Farbe und schwimmenden Korkstückchen, mit deren Hilfe man im 19. Jahrhundert versuchte, Flüssen wie der Reka auf die Schliche zu kommen, die unter dem slowenischen Karstplateau abtauchen und erst kurz vor der Adria wieder zum Vorschein kommen. Es kann aber genauso mit moderner Technik geschehen. Bei einem denkwürdigen Abendessen in den Ruinen der Kraftwerksstadt Prypjat erzählten mir drei Hydrobiologen, dass ihre Sonden wenige Stunden nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im Fluss Prypjat und kurz darauf auch im Dnjepr erhöhte Radioaktivität anzeigten. Am nächsten Tag flogen sie mit einem Hubschrauber von Kiew aus ein, um die Verseuchung der Gewässer zu überprüfen. Zu diesem Zeitpunkt war noch nichts von dem Unfall nach außen gedrungen; erst zwei Tage später brachte die Prawda eine unscheinbare Meldung, dass es bei einem Brand im Kraftwerk zwei Tote gegeben hätte. Sie aber wussten es besser.
Der Fluss als Herold. Das wäre ein erster Wesenszug, einer von etwa einem halben Dutzend, die in diesem Buch eine tragende Rolle spielen. Natürlich gäbe es mehr, doch sie alle zu behandeln wäre weder möglich noch wünschenswert. Leonardo da Vinci plante ein Leben lang ein Werk über die Sprache des Wassers, doch bei den Plänen ist es dann auch geblieben. Der 2023 erschienene UNESCO-Report über »Flusskultur« in aller Welt umfasst neunhundert Seiten, und dennoch lernt man diese langgezogenen Großlandschaften darin nicht wirklich kennen. Das Thema geht zwangsläufig gegen unendlich, und es lässt sich weder mit den Mitteln der Wissenschaft noch mit denen der Poesie auch nur annähernd ausschöpfen.
Ich bin vor allem jenen Eigenarten von Fließgewässern nachgegangen, die meinen Neigungen entsprechen. Das beginnt mit ihrer immensen geographischen Bedeutung. Flüsse gehören zu den prägenden Zügen in der Physiognomie einer Landschaft. Sie durchziehen jeden bewohnten Kontinent, und selbst die Antarktis kennt saisonale Schmelzwasser. Ihre geschichtsbildende Kraft manifestierte sich am Nil, im Zweistromland und am Indus ebenso wie am Jangtsekiang und am Hoang He. In dieser Phase der frühen Hochkulturen waren Gewässer und Kultur fast Synonyme. Der Fluss als eine elementare Geländeform also. Der Fluss als Lebensgrundlage. Der Fluss als Schöpfer.
Zugleich haftet ihnen stets etwas Unsolides, Asoziales an, sie bilden eine nie ganz geheure Alternative zum Festland, stehen für das große Andere, die nomadische Verheißung. Zudem sind sie eingeschworene Anarchisten; die einzige Macht, der sie gehorchen, ist die Gravitation. Von Land aus erscheinen sie als Hindernis, vom Wasser aus als Weg. Einerseits erschweren oder unterbinden sie den Kontakt der Menschen untereinander - die Klage, »das Wasser war viel zu tief«, schallt durch die Jahrhunderte. Andererseits dienen sie als Handels- und Kulturrouten erster Ordnung. In manchen Regionen stellten sie lange die einzigen Fernverbindungen dar; im Amazonastiefland, im Kongobecken sowie in weiten Teilen Sibiriens und des subarktischen Kanada sind sie es bis heute.
Eine weitere, damit zusammenhängende Funktion ist die der Verortung. Eine eigene Disziplin, die Hydronymie, befasst sich mit der Herleitung von Gewässernamen. Oft bilden sie die ältesten Namen in der Region überhaupt, und vielfach entstammen sie Idiomen, von denen sonst kaum etwas übriggeblieben ist, auch ihre Sprecher nicht. Doch deren klangvolle Wortschöpfungen - Tunguska, Athabasca, Niagara, Guadalquivir, Mamberamo, Iguaçu - erwiesen sich als unzerstörbar. Riesige Staatsgebilde in Afrika bezogen ihre Namen von Flüssen, zwei vom Niger, zwei vom Kongo, aber auch kleinere wie Gambia und Senegal. Indien und selbst Indonesien leiten sich vom Indus ab. In Südamerika zeugen etwa Paraguay (»Wasser, das zum Wasser geht«) und Uruguay (»Fluss des bunten Vogels«) davon. In Nordamerika gaben Flüsse zahlreichen Bundesstaaten und Provinzen ihre Namen, von Minnesota (»Trübes Wasser«) bis Ohio (»Großer Fluss«) und von Yukon über Saskatchewan bis Québec. Im kleinteiligen Europa kam das dagegen kaum je vor, allenfalls als Beiname. So fungiert das vielgerühmte Österreich laut Bundeshymne als das Land am Strome, zuvor war es als Donaumonarchie geläufig. Oft dienen Flüsse als Adresszusatz für Städte in Verwechslungsgefahr, etwa Frankfurt an der Oder, Marburg an der Drau, Rothenburg ob der Tauber, Kirchheim unter Teck oder Verden an der Aller, obwohl es gar kein zweites Verden gibt, nur Verdun. Davon dann allerdings mehrere: Verdun-sur-Meuse, Verdun-sur-Garonne, Verdun-sur-le-Doubs. Der Fluss als Pate; getauft wird nun einmal mit Wasser.
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie Flüsse Identität stiften und der Selbstvergewisserung dienen können, lieferte China in den achtziger Jahren, als es seine beste, freieste Zeit erlebte. Eine kulturphilosophische Fernsehserie mit dem Titel Fluss-Elegie sorgte damals für landesweite Diskussionen. Der immer mehr versandende, immer mehr ins Hintertreffen geratende Huang He, oft als Wiege der chinesischen Zivilisation betrachtet, geriet zur zentralen Metapher für die Notwendigkeit einer geistigen und politischen Erneuerung.
Die nächste Eigenart wäre der Fluss als strategische Barriere. In den Geographischen Grundlagen der Weltgeschichte bemerkt Hegel: »Denn Ströme und Meere sind nicht als dirimierend (trennend) zu betrachten, sondern als vereinend.« Nun ist nicht jeder in Dialektik geschult, und als eingefleischte Fußgänger erleben wir Fließgewässer sehr wohl als skandalöse Hindernisse. Coronados Mannen irrten wochenlang am Grand Canyon entlang und mussten schließlich unverrichteter Dinge kehrtmachen, woraufhin die Conquista Nordamerikas für anderthalb Jahrhunderte zum Erliegen kam. Und die Wolga hielt die Reiterheere der Mongolen, denen weder westliche noch chinesische Truppen Paroli zu bieten vermochten, ein halbes Jahr lang in Schach, bis sie zufror und ihnen so den Weg nach Europa eröffnete.
Wer einen solch übermächtigen Gegner bezwingt, den kann nichts mehr aufhalten. So überschritt Cäsar den Rubikon, so geriet Leutzes Washington Crossing the Delaware zum berühmtesten Gemälde der Vereinigten Staaten, so besiegelte die Vereinigung sowjetischer und amerikanischer Truppen an der Elbe die Niederlage Deutschlands. Flüsse haben das Schicksal ganzer Imperien entschieden. Alexanders Rückzug entlang des Indus geriet ebenso zum Fiasko wie der Napoleons über die Beresina. Die Nibelungen marschierten mit dreizehntausend Mann die Donau abwärts bis zum Hof des Hunnenkönigs Etzel. Nur »der Pfaffe schwamm nach Kräften: er hoffte zu entgehn«. Und kam als Einziger mit dem Leben davon. Für andere erwies sich General Wasser als Verbündeter. Nachdem Hannibals Armee handstreichartig die Rhone überquert hatte, trieb sie mit ihren Elefanten und ihrer Kavallerie die römischen Fußtruppen in die reißende Trebbia. Im Ersten Weltkrieg brachte das »Wunder an der Marne« den deutschen Vormarsch auf Paris zum Stillstand. Zwei Jahrzehnte später fand Japans Invasion in Südostasien im Nu Jiang ihren Meister.
Seen sind sesshaft, Flüsse nomadisch. Reine Bewegungsenergie; der Wasserkreislauf als Perpetuum mobile. In diesem Buch folge ich einigen von ihnen, in Schiffen und Booten, zu Fuß, per Fahrrad, auch mal im Auto oder zu Pferd. Dabei handelt es sich um Reisen entlang von Reisen, um Erzählungen von Erzählungen: jeder Bach eine Geschichte, jeder Fluss ein Roman, jeder Strom ein Epos. Vom Wasser haben wir's gelernt. Warum aber muss der, dem das Wandern niemals einfiel, ein schlechter Müller sein? Warum ist es nicht des Maurers oder des Metzgers Lust? Weil sie, die Müller, ohnehin an Wasserläufen leben? Weil ihre Mühlen, klipp, klapp, an rauschenden Bächen rattern, Metronome verflossener Zeitläufte? Oder vielleicht einfach nur, weil Wilhelm Müller, der Verfasser der Wanderschaft, seine Freude an diesem Kalauer hatte?
Der Fluss als Fluchthelfer. Von allen Funktionen liegt dieser heillos romantische Wesenszug...
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