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Auftakt
Tourrettes-sur-Loup, September 2011
Im alten Rom galt der Spruch, daß auch die Bücher ihr eigenes Schicksal besäßen. »Habent sua fata libelli.« Diese Aussage läßt sich auf die vorliegende Veröffentlichung übertragen, denn als ich die ersten Zeilen schrieb, beabsichtigte ich, eine weltumfassende Betrachtung über die neuen Vernetzungen und Gegensätze einer multipolaren Welt zu verfassen, in der die Europäer keinen Vorbildsanspruch mehr erheben können und die gewaltige Kraft Amerikas einer fatalen Überanstrengung erliegt.
In den Jahren 2010 und 2011 hatte ich zum Sammeln von Erkenntnissen einige globale Reisen unternommen - von den bolivianischen Indios am Titicaca-See und am venezolanischen Orinoco bis zu den aufstrebenden Massen Chinas zwischen Macao und dem Yangtse-Becken von Szetschuan. Dazu kamen die Länder des »Broader Middle East«: Sudan und Ägypten, Algerien, Libanon, Syrien, Irak, Iran und Afghanistan sowie das ehemals sowjetische Zentralasien. Da geschah das Unerwartete: der Ausbruch einer revolutionären Volksbewegung in Tunis, die sich bis zum Persischen Golf ausweitete und hoffnungsvoll »Arabischer Frühling« genannt wurde.
Seitdem hat sich jenseits des Mittelmeers und im ganzen Orient eine verblüffende Serie von politischen Umbrüchen vollzogen, der die Europäer ratlos gegenüberstehen, zumal die Deutschen, die sich in ihren internen Querelen - »les querelles allemandes«, wie die Franzosen sagen - zusehends verstricken. Das Kapitel über den Sudan, der ja auch der Arabischen Liga angehört, war bereits geschrieben und brauchte auch nicht verändert, sondern allenfalls aktualisiert zu werden. Inzwischen hat tatsächlich die staatliche Abspaltung des Süd-Sudans von der Regierung von Khartum mit internationaler Zustimmung stattgefunden. Wie zu erwarten war, verwandelte sich die Trennungslinie sehr schnell in eine Front zwischen den arabisierten Muslimen des Nordens und den teils animistischen, teils christlichen Stämmen des Südens. Schon werden in den Provinzen Süd-Kordofan und Blue Nile die ersten Kämpfe ausgetragen, während das umstrittene Erdöl-Revier von Abyei durch Präsenz äthiopischer Soldaten neutralisiert werden soll. Jenseits der Demarkationslinie, am Rande der urweltlichen Sumpflandschaft des Bahr el Ghazal, flackern die uralten Fehden auf zwischen den schwarzen Niloten-Völkern der Dinka, die ihren Führungsanspruch durch die Gründung einer neuen Hauptstadt festigen wollen, und den Ethnien der Nuer und der Shilluk.
Diese vielfältigen Konfrontationen haben auf die ganze Sahel-Zone übergegriffen, jenen breiten Steppen- und Savannengürtel jenseits der Sahara, der bis zum Atlantik reicht. Die ehemaligen französischen Kolonien Tschad, Niger und Mali, deren nördliche Wüstenregionen durch islamische Kampfgruppen längst destabilisiert sind, dürften durch den Zustrom schwarzer Söldner, die für Qadhafi kämpften, und auch durch die sogenannten Loyalisten, die im Raum zwischen Sirte und Sebha einen erstaunlichen Widerstand gegen die libyschen »Freiheitskämpfer« leisteten, in einen Zustand wachsender Anarchie und Unsicherheit hineingerissen werden.
Meine Absicht ist es nicht, die jüngsten Ereignisse in ihren Einzelheiten darzustellen. Da ich den arabischen Raum seit nunmehr sechzig Jahren regelmäßig in all seiner Vielfalt bereist habe, lege ich Wert auf eine historische, kulturelle und religiöse Einordnung, die oft ins ferne Mittelalter zurückreicht. Dennoch wollen wir eine Momentaufnahme skizzieren vom jetzigen Stand der sogenannten »Arabellion«. Bei näherem Zusehen wird sich die ursprüngliche Begeisterung des Westens über den »Arabischen Frühling« schnell eintrüben. Um mit Tunesien zu beginnen: Dort kündigt sich innerhalb einer Myriade von Partei-Neugründungen die traditionelle islamische Bewegung »En Nahda« - zu Deutsch »Aufschwung« oder »Erneuerung« - laut Meinungsumfragen als die stärkste Formation an.
In Ägypten hat der Verteidigungsminister des gestürzten Diktators Mubarak, Feldmarschall Tantawi, die Machtausübung übernommen und die Euphorie des Tahrir-Platzes einer kalten Dusche ausgesetzt. Vom Ausgang der angekündigten Wahlen - falls sie nicht, wie in der Vergangenheit, grob gefälscht werden - hängt es ab, ob die straffe Organisation der Muslimbrüder sich als bedeutendste politische Kraft durchsetzen wird und ob diese neuerdings zur Mäßigung neigenden »Ikhwan« durch Haßprediger aus Saudi-Arabien in eine militante »Salafiya« abgleiten. Unklar bleibt die Frage, welches Verhältnis sich zwischen dem politischen Islam und dem herrschaftsgewohnten Militär herausschälen wird.
Noch ist zur Stunde nicht entschieden, ob die ehemalige »Jamahiriya« Libyen durch tribale Gegensätze und den Streit über das Verhältnis von Staat und Religion auf einen Bürgerkrieg zutreibt. Das Gleiche gilt in stärkerem Maße für die Arabische Republik Syrien, wo die Ausschaltung des Präsidenten Bashar el-Assad und seiner alawitischen Glaubensbrüder unübersehbare Folgen nach sich zöge. Im Irak wiederum sind die Attentate gegen die amerikanische Rest-Garnison fast ganz eingestellt worden, aber der schiitische Eiferer Muqtada es-Sadr hat bereits angekündigt, daß seine »Mehdi-Armee« gegen die US-Truppen losschlagen würde, falls deren Abzug aus Mesopotamien sich über die vereinbarte Frist hinauszögert. Der weit abgelegene Jemen wiederum, der den Durchlaß des Bab el-Mandeb bedroht, steht im Begriff, auf Grund seiner chaotischen Divergenzen ein »failed state« zu werden.
Seltsamerweise hat sich innerhalb der westlichen Allianz keine Stimme von Gewicht gemeldet, um die extrem reaktionäre und unduldsame Dynastie Saudi-Arabiens an den Pranger zu stellen, obwohl sich inzwischen erwiesen hat, daß aus den Reihen der fanatischen Wahhabiten, die dort die höchste religiöse Autorität ausüben, die nebulösen Terrorgruppen von »El Qaida« hervorgegangen sind. Zur völkerrechtswidrigen Invasion gegen die revoltierende Insel Bahrein durch saudische Panzerkolonnen hat sich kaum eine Stimme des Protestes erhoben. An dieser Stelle hüllen sich die westlichen Prediger von Menschenrechten und freier Volksentscheidung in das bislang praktizierte heuchlerische Schweigen. Wundert es da, wenn ein hoher Funktionär der »Nationalen Befreiungsfront«, die einst die Unabhängigkeit Algeriens von Frankreich erkämpfte, dem noch in Tripolis ausharrenden Oberst Qadhafi zu Hilfe kam und sich vor laufender Kamera zu dem Ausruf hinreißen ließ: »Allah möge die Demokratie verfluchen«, eine Äußerung, die im Westen als Gotteslästerung empfunden wird.
Schon werden in Deutschland Stimmen laut, man müsse den zur Demokratie erwachten Arabern mit guten Ratschlägen helfen, ihnen bei der Abwehr radikal-islamistischer Einflüsse zur Seite stehen. Nichts wäre törichter und verhängnisvoller. Die Araber müssen jetzt wirklich selbst entscheiden, wie sie regiert werden. Falls die Wahl auf eine islamische Staatsform fiele, dann sollen sie dieses Experiment ausleben und eines Tages aus eigener Erkenntnis, auf dem Wege des »Ijtihad«, zum Verzicht auf diverse verkrustete Überlieferungen der Scharia gelangen. Angesichts der sterilen Debatten und der Handlungsunfähigkeit des deutschen Bundestages wie auch des amerikanischen Kongresses erweist sich unsere Form der Demokratie für den Neuaufbau einer orientalischen Gesellschaft, für die Überwindung der gewaltigen Probleme wirtschaftlicher und sozialer Natur als recht untauglich.
Amerika hat den zehnten Jahrestag von »Nine Eleven«, den Rückblick auf die Vernichtung des World Trade Center und eines Flügels des Pentagon, mit ungeheurem Pomp begangen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber die rund dreitausend Opfer dieser schändlichen Angriffe waren keine Helden, wie man suggerieren möchte, sondern Opfer mit Ausnahme der wackeren Feuerwehrleute, die sich zur Rettung ihrer Mitbürger in die Flammen stürzten. Die damalige Präsidentschaft der USA hat auf die Herausforderung von Nine Eleven in hysterischer Weise überreagiert und in der Stunde der Krise keine imperialen »römischen Tugenden« an den Tag gelegt, wie es ihr gut angestanden hätte.
Vielleicht war der Feldzug gegen die Taleban psychologisch unvermeidbar, aber nach der geglückten Operation gegen das afghanische Emirat des Mullah Omar hätten die NATO-Truppen schleunigst vom Hindukusch wieder abrücken müssen, statt sich in eine aussichtslose, zeitlich unbegrenzte Partisanenbekämpfung einzulassen. Noch verhängnisvoller wirkte sich die Ausweitung des »Krieges gegen den Terror« auf den Irak Saddam Husseins aus. Wer erinnert sich heute noch daran, daß im Jahre 2003 Condoleezza Rice, die engste Vertraute des Präsidenten George W. Bush, nach der fast kampflosen Besetzung Bagdads durch die U.S. Marines behauptete, der Irak habe den tugendhaften Pfad der freiheitlichen Emanzipation beschritten. Von diesem »Leuchtturm der Freiheit« aus werde ein demokratischer »Frühling« in der ganzen arabischen Welt erblühen.
Da berührt es peinlich, wenn Barack Hussein Obama bei den Feierlichkeiten am »Ground Zero« - ein wenig wie sein glückloser Vorgänger mit dessen irreführendem Spruch »Mission accomplished« - von einem amerikanischen Sieg über die Kräfte des Terrorismus fabuliert. An dieser Stelle sollte noch einmal die kluge Analyse Zbigniew Brzezinskis, des ehemaligen »National Security Advisor« von Präsident Jimmy Carter zitiert werden, der schon bei Einleitung des Feldzugs »Iraqi Freedom« erklärte: »In den vergangenen Monaten haben die Vereinigten Staaten eine Erfahrung gemacht,...
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