Schweitzer Fachinformationen
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Von Rückschlägen und Neuanfängen - ein Plädoyer für die Frauenfreundschaft
1949. Die unmittelbare Besatzungszeit ist beendet, die Republik gegründet; ein erster Aufschwung zeichnet sich ab. Auch die Telefonistinnen der Kölner Versicherung Pering hoffen auf gute Zeiten. Charlie setzt sich mit aller Kraft für die Gleichberechtigung der Frau ein, will einen Betriebsrat gründen und den Arzt Michael heiraten. Gisela und Anton haben sich nach langer Heimlichtuerei endlich zueinander bekannt und planen vorsichtig die nächsten Schritte. Hanni hingegen ist enttäuscht von der Liebe und konzentriert sich mit Julias Hilfe auf die Gründung ihres Nähateliers. Doch Julias Aufmerksamkeit wird auf ein altes, sorgfältig verborgenes Familiengeheimnis gelenkt ...
Charmant, nostalgisch, liebenswert - ein stimmungsvoller Blick in eine entscheidende Zeit der deutschen Geschichte
Köln, im Juni 1949
Julia war berauscht von ihrer Unabhängigkeit, dem Ausmaß ihrer Freiheit. Sie verdiente ihr eigenes Geld, konnte sich kaufen, was sie wollte: Sunshine-Ho-Crackers, Nylons und französisches Parfüm. Und sie wollte tanzen, in ihren neuen roten Schuhen mit der Rundkappe, die sie sich hatte maßanfertigen lassen und die sie auf klappernden Absätzen durch die Kölner Straßen trugen. Das berauschende Leben spüren, dessen Tore sich für sie geöffnet hatten. Lachen, über die Stränge schlagen, mehr essen, als gut für sie war, unanständige Lieder singen, mit Männern schäkern. Sie war von einem neuen Lebensgefühl durchdrungen und hatte sich Stück für Stück aus der wachsamen Obhut ihrer Eltern befreit. Am 23. Mai war das Grundgesetz in Kraft getreten und die Bundesrepublik Deutschland gegründet worden, und obwohl Julia erst zarte siebzehneinhalb Jahre zählte und in einem behüteten Elternhaus lebte, spürte sie mit jeder Faser ihres Körpers die neue Unabhängigkeit, die seit drei Wochen wie eine Blaskapelle durch die Stadt marschierte. Veränderung lag in der Luft, so befreiend wie dieser Junitag, an dessen Morgenstunden der Sommer hing.
Gelenkig sprang Julia von ihrem Fahrrad. Am Ende mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehend, vermied sie, dass sie ins Straucheln geriet, und schob das Rad die letzten Meter die Friesenstraße entlang. Sie war kein Mädchen, das schlenderte - wie Hanni Angersbach, ihre Freundin aus der Telefonzentrale -, sondern ein Wirbelwind, der auf dem Zweirad durch die Altstadt und mit ihren Ideen durch die Versicherung rauschte. Julias mandelförmige Augen blickten stets wachsam, und der goldene Ring um ihre haselnussbraune Iris glänzte im Sonnenlicht, als es gleißend auf ihre hohe Gestalt traf. Fast zu groß war sie für eine junge Frau, weshalb sie ihre Schultern immer ein wenig krümmte. Das hellgelbe Sommerkleid, das ihre Knie umspielte, bot einen Kontrast zu ihrem karamellfarbenen Teint, der im Winter seinen goldenen Schimmer behielt. Demnächst würde Julia ihr einjähriges Dienstjubiläum als Telefonistin in der Versicherungsanstalt Pering feiern, was sie mit ihren Kolleginnen und Freundinnen Gisela, Hanni und Charlie zelebrieren wollte. Auch Erna, die Empfangsdame, die sich in den letzten Wochen regelrecht in Julias Herz gezwängt hatte, war eingeladen. An der guten Erna führte eben kein Weg vorbei.
Julia lehnte das Fahrrad an die Wand und ließ ihren Blick an der Fassade des Versicherungsgebäudes hochgleiten, das durch den Umbau in den nächsten Monaten von der Größe eines schlichten Bürohauses zum herrschaftlichen Pering-Quartier anwachsen würde. Ein repräsentatives Viertel, das Viktor, der Sohn des Gründers in seiner Funktion als Generaldirektor mit einem Architekten geplant und bei einer Mitarbeiterversammlung im Februar bei Musik und Tanz vorgestellt hatte.
Anlässe zum Feiern gab es mittlerweile zur Genüge. Zumindest waren die Fräuleins recht einfallsreich, wenn es darum ging, einen Grund zu finden, um sich im Café Reichard zu verabreden. Zuletzt hatten sie mit Sekt und Schorle - Julia bekam von Alkohol rote Flecken im Gesicht - auf die Gründung der Bundesrepublik angestoßen.
Zur Feier ihres Dienstjubiläums würde Julia in absehbarer Zeit mit ihren Freundinnen ins Heaven einfallen, das zur Lieblingslokalität der Fräuleins geworden war. Der Tanzhimmel war von den Alliierten im Jahr 1945 gegründet worden und zählte mittlerweile zu den besten Adressen in der Stadt, wenn man auf der Suche nach einem Tanzparkett war, das die Sorgen regelrecht in sich aufsaugte und in Freude und Gelächter transformierte. Beim Boogie-Woogie konnten sich die Seelen vom Ballast befreien. Zumindest in den Minuten, in denen sich Julia den Takten der Musik hingab, als hätte sie jegliche Bodenhaftung verloren. Allen Fräuleins aus der Telefonzentrale ging es ähnlich. Selbst Erna konnte ihre Leidenschaft für die früher geschmähte Lokalität, die sie immer als Teufelslokal bezeichnet hatte, nicht mehr verbergen. Die Heaven-Krankheit hatte auch vor Ernas Mann, dem Franz, nicht haltgemacht. Hatte Erna ihn noch vor wenigen Wochen hineinschubsen müssen, durfte sie ihn nun nach Mitternacht hinauszerren, weil er eine Vorliebe für den A Dream of Scotland entdeckt hatte, einen erlesenen Single-Malt-Whiskey aus Schottland, der ihm sanft die Kehle hinunterglitt und den man nur im Heaven serviert bekam.
»Chérie, rasch, komm rein! Nicht, dass dich noch wer sieht«, sagte Erna leise und sah wie eine Spionin an Julia vorbei. Als sie sicher war, dass der Telefonistin niemand gefolgt war, öffnete Erna die Tür zum Präsentationsraum weiter und winkte die Jüngste in den Raum. Seit geraumer Zeit verwendete Erna Schmitz nicht mehr das Wort Darling in ihrer Ansprache, sondern den französischen Ausdruck Chérie, immerhin war sie - wie sie im Februar erfahren hatte - Großmutter eines deutsch-französischen Enkelsohns namens Raphaël, der eine bildhübsche - très chique - Mutter hatte und das Kind von ihrem verstorbenen Sohn Theo war. Zugute kam Ernas sprachlicher Neuausrichtung, dass die Briten nach und nach die Stadt verließen, dem musste sich eine Empfangsdame natürlich in ihrem Vokabular anpassen. Etwas französische Eleganz hat noch keinem geschadet, verkündete Hanni immer, die sich als begnadete Schneiderin an der modischen Sprache, an Christian Diors femininem Stil, dem New Look, orientierte.
»Ist Charlie nicht bei dir?« Erna sah an Julia herab, als verstecke sie das Fräulein von Siebenthal unter ihrem Unterrock.
»Nein. Wundert's dich?« Julia schlüpfte an Erna vorbei und hielt Ausschau nach Kuchen. Deshalb war sie heute gekommen.
»Dabei hat Charlie eine Sondereinladung von mir bekommen!« Erna zog finster ihre Brauen zusammen.
»Hoffentlich mit Kniefall«, bemerkte Julia, denn eine von Siebenthal liebte besondere Ansprachen und Darbietungen, die ihrer Person galten.
»So weit sinke ich nicht, Chérie!«
»Natürlich nicht.« Kein Kuchen? Nur Gisela, die vor dem großen Holztisch stand und in ihren Händen eine der Mappen hielt, die Erna für jede von ihnen zusammengestellt hatte, lächelte gebannt auf die aufgeschlagene Seite hinab, als wäre es eine herrliche Buttercremetorte aus dem Reichard. Kein Kuchen. So was aber auch!
Es war Samstagnachmittag, niemand außer den Reinigungsdamen war mehr im Haus zugegen, und Julia hätte eigentlich an diesem Tag keinen Fuß in die Versicherung gesetzt, sondern säße mit ihrer Schwester Agnes schon längst am Tisch und spielte Karten. Doch eine Einladung von Erna schlug man nicht aus, das würde die üble Laune der Empfangsdame und einen erschwerten Alltag in der Versicherung nach sich ziehen. Die Freundinnen würden sogar mitmachen, wenn Erna um vier Uhr morgens an die Tür klopfte und sagte, dass sie eine Bank überfallen wolle.
Neben Gisela saß Hanni auf einem Stuhl und zupfte nervös an ihren Spitzenhandschuhen, als wären sie zu eng für ihre schmalen Finger. Auch sie hatte wegen Ernas Vorhaben Bedenken. Da war Julia nicht die Einzige.
»Und wer macht außer uns noch mit?«, fragte Julia, griff mutig nach ihrer Mappe und stellte sich neben Gisela, die sie um eineinhalb Köpfe überragte.
»Erst mal nur wir vier und Charlie . wenn sie denn noch auftaucht. Das weiß man bei ihr ja nie so genau. Hat ja viel zu tun in letzter Zeit. Die Hochzeit mit dem Doktor und dann diese Frauensachen, in die sie sich immer so reinsteigert. Da verliert man schnell den Blick fürs Wesentliche.«
»Eine wie Charlie? Der wachsen dadurch erst Flügel«, bemerkte Gisela, schob sich eine braune Locke hinters Ohr und gurgelte mit einem Schluck Wasser, als müsse sie bei der Wärme, die dank des Junitagtags im Präsentationsraum herrschte, ihre Stimmbänder kühlen.
Julia strich mit den Fingern über die Etiketten, die Erna auf der Vorderseite der grünen Mappen angebracht hatte, auf denen nicht nur ihr jeweiliger Name in geschwungenen Lettern stand, sondern auch das Vorhaben, weshalb sie heute zusammengekommen waren: die »Singenden Kölner Fräuleins«. Eine fatalere - und auch passendere - Bezeichnung hätte es für Ernas Vorhaben nicht gegeben. Eine Gesangstruppe waren sie plötzlich, und, wie Julia vermutlich in den nächsten Minuten feststellen würde, vollkommen talentfrei, nur schien das Frau Schmitz nicht von ihrer Mission abzuhalten. Für sie zählte nur, dass sie Stimmen gewonnen hatte. Erst mal wollte Erna die singende Truppe im kleinen Rahmen halten. Wenn sie dann irgendwann, nach wochenlanger, monatelanger Übung, die richtigen Töne treffen könnten, hatte sie vor, neue Gesangsmitglieder zu empfangen und Auftritte nicht nur versteckt an einem Samstagnachmittag im Präsentationsraum einer Versicherung abzuhalten, sondern in ganz Köln. Und als Draufgabe wollte sie mit den Singenden Kölner Fräuleins beim Karneval, Ernas jährlichem Höhepunkt, auftreten, so wie der Gesangsverein Polyhymnia, der auf dem Karnevalszug im Februar als Bund deutscher Maggler vertreten gewesen war. So der Plan, für den sich nur Erna und Gisela begeistern konnten. Julias sowie Hannis und offenbar auch Charlies Begeisterung, die durch Abwesenheit glänzte, verhielt sich hingegen wie ein zartes Pflänzchen, das erst eine Eisdecke durchbrechen musste, um emporzuwachsen. Aber daneben gab es ja auch den Gruppenzwang, und die Damen hielten in allen Wetterlagen des Lebens zusammen. Natürlich auch, wenn es darum ging, krächzend Lieder durch das Versicherungsgebäude zu schmettern, was die Kundschaft in Windeseile vergraulen...
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