2. Kapitel (Samstag)
Kajetan Vogel war bester Laune.
Nicht eigentlich aus beruflichen Gründen, obwohl er dazu allen Grund gehabt hätte, hatte er doch gerade wesentlich dazu beigetragen, den Chef eines österreichweit agierenden Rings von serbischen Drogenkurieren dingfest zu machen, wodurch immerhin nach fast einem halben Jahr mühsamer Ermittlungen ein lästiger Fall endlich zum Abschluss gebracht worden war.
Nein, der Bezirksinspektor hatte gestern Abend etwas begonnen, was man in Wien gemeinhin als »Pantscherl« bezeichnet.
Hinter diesem eher harmlosen Begriff verbirgt sich das, was im protestantisch-strengen Norddeutschland üblicherweise ein »Verhältnis« genannt wird, in dessen schierem Klang, mit verächtlichem Umlaut in der Mitte, sich schon die ganze Tragweite solch unmoralischen Tuns widerspiegelt. Im sorgloseren Österreich hingegen rückt die weitaus gefälligere Bezeichnung in ihrer Verniedlichung die angenehme Seite in den Vordergrund.
Und angenehm war es tatsächlich gewesen, mit Miriam Rossi, einer italienischstämmigen Journalistin aus Vorarlberg, auf die Vogel schon seit längerer Zeit sein begehrliches Auge geworfen hatte. Doch leider hatte sich bis gestern keine passende Gelegenheit gefunden, den Blicken auch Taten folgen zu lassen. Bis auf ein paar beruflich motivierte Treffen - sie hatte über die Wiener Drogenszene recherchiert -, in deren Verlauf der Tonfall allerdings immer privater wurde, hatte sich nichts Nachhaltiges ergeben können. Da gab es ja schließlich auch noch Vogels Gattin Martina.
Doch glücklicherweise hatte diese, mit der er seit knapp sechs Jahren verheiratet war und es des Kindes wegen auch bleiben wollte, kurzerhand beschlossen, vor dem langen Winter mit ihrem fünfjährigen Töchterchen Laura noch einmal in den Süden zu fahren. In diesem Vorhaben hatte Vogel sie natürlich bestärkt, obwohl er, wie er sagte, »leider nicht mitkommen« könne, der Pharisäer. Denn kaum hatte er die beiden zum Bahnhof gebracht - sie flogen von Graz aus, wo Martina bei einer Freundin übernachten wollte -, steuerte er seinen Rover schon in Richtung Hermanngasse im siebten Wiener Gemeindebezirk, wo er im rustikalen Gasthaus »Grünauer« eine exzellente Kalbsleber zu verspeisen gedachte. Als ausgesprochener Feinschmecker wusste Vogel nur zu gut, dass es geradezu ein Frevel wäre, einen solchen Genuss für sich alleine in Anspruch zu nehmen. Weshalb er die schwarz gelockte Miriam zur Teilhabe gebeten hatte, die sich dort auch schon bald nach seiner Ankunft einfand. Die geröstete Kalbsleber mundete auch ihr in besonderem Maße und wieder einmal erwies sich die Erkenntnis als zutreffend, dass ein gemeinsam eingenommenes Abendessen einfach das beste Entree zu einer gemeinsam verbrachten Nacht darstellt.
Vogels Frau wollte nur eine Woche auf Samos bleiben, rasches Handeln war also angesagt. So hatte er die kostbaren sieben Tage (zu mehr Urlaub hatte er Martina leider nicht überreden können) schon jetzt mit Verabredungen verplant, die zu einem guten Teil von der gestrengen Gattin nicht goutiert worden wären. Dazu gehörte, aus verständlichen Gründen, auch das Abendessen mit Miriam .
Allerdings hatte ihm die letzte Nacht so gut gefallen, dass er in seiner ursprünglichen Terminplanung wieder einiges abändern musste. So entflieht man freudig der einen Abhängigkeit und begibt sich unversehens in die nächste.
Den heutigen Abendtermin wollte er jedoch unbedingt einhalten, wobei die taktischen Gründe gegenüber Miriam nur eine untergeordnete Rolle spielten. Endlich einmal wollte er seinen Bridgepartner, mit dem er seit etwa einem halben Jahr im virtuellen Club einen überaus freundschaftlichen und regelmäßigen Umgang pflegte, persönlich treffen. Wie sich bald gezeigt hatte, spielte man nicht nur gut zusammen, sondern besaß auch den gleichen Sinn für Humor - was bekanntermaßen die beste Grundlage für eine tiefergehende Freundschaft darstellte.
Nachdem er an der Station Schottenring die U-Bahn Richtung Werdertorstraße verlassen hatte, fand er sich nach einem kleinen Spaziergang vor den Toren des »Bridge-Clubs Austria« am Rudolfsplatz im ersten Wiener Gemeindebezirk wieder. Vom Zentrum dieser Fläche, einem kleinen Park mit altem Baumbestand, der diesen Ort zur bevorzugten Wohngegend der wohlhabenderen Wiener Bürgerschicht machte, ging ein intensiver Herbstgeruch aus, den selbst Vogels aromatischer Pfeifentabak nicht zu überdecken vermochte.
Das Haus selbst, ein großzügiger Bau aus den Glanzzeiten der K.-u.-k.-Monarchie, hatte dereinst eine Schirmfabrik beherbergt, von deren schon längst dahingegangener Existenz nur mehr eine Fassadeninschrift zeugte, die stolz auf das Gründungsjahr 1879 verwies. Beim Lesen dieses Schriftzugs, den er heute übrigens zum ersten Mal bemerkte, seufzte Vogel unwillkürlich auf, denn wie jeder echte Wiener trauerte er der Zeit nach, als die - inzwischen größtenteils ausgestorbenen - heimischen Handwerksbetriebe sich noch eines weltweit erstrangigen Renommees erfreuten.
Doch anstelle der Erzeugung von elegantem Regenschutz betrieb man in den ehemaligen Geschäftsräumen nunmehr Sport - das Bridge-Spiel darf sich im Gegensatz zu allen anderen Kartenspielen, bei denen Fortuna ihr launisches Zepter führt, seltsamerweise mit diesem Begriff der Körperertüchtigung schmücken, obwohl die einzigen Muskeln, die dabei belastet werden, sich im Gesäß befinden.
Kurz bevor er die Räumlichkeiten im Mezzanin betrat, löschte Vogel seine Pfeife, steckte sie jedoch gleich wieder in den Mund, diente diese doch als das verabredete Erkennungsmerkmal.
Kaum hatte er, wie immer pünktlich, das Foyer betreten, näherte sich ihm zögerlich ein groß gewachsener und etwas feister blonder Mann, der ihn erst ein wenig mit zur Seite geneigtem Kopf betrachtete, bevor er zögernd das Wort an ihn richtete.
»Sind Sie vielleicht der Kajetan?«
Nachdem der Angesprochene bejaht hatte, streckte ihm der Musiker strahlend seine Pranke hin.
»Ich freue mich ganz außerordentlich, dass es endlich einmal mit uns geklappt hat.«
Aufmerksam musterte Vogel sein Gegenüber, das etwa 45 Jahre zählte und damit etwas älter war, als er es eigentlich erwartet hatte. An seinem schon mit reichlich Grau durchwirkten Vollbart konnte man unschwer seinen Status als Junggeselle erkennen. Kaum eine Frau würde einen solchen Wildwuchs im Gesicht des Partners tolerieren - es sei denn, sie liebte es ebenfalls naturbelassen (mit Jutesocken und Batik-Reizwäsche). Da er jedoch nicht die moralinsaure Miene zur Schau trug, die Gatten solcher Frauen üblicherweise zu eigen ist, mutmaßte Vogel mit kriminalistischem Scharfsinn, dass es sich in diesem Falle nur um einen Alleinstehenden handeln konnte. Doch nicht nur dieses Indiz deutete auf einen glücklich Unverheirateten hin. Ein solchermaßen geknechteter Ehemann würde mit Sicherheit kein Bridge spielen, das in solchen Kreisen bloß als alberne Zeitverschwendung betrachtet würde - in der Zeit, die ein Turnier in Anspruch zu nehmen pflegt, könnte man glatt ein Paar Socken aus ungebleichter Wolle stricken oder mit den Kindern zum Bio-Bauernhof fahren, um ihnen zu zeigen, woher denn ursprünglich die Milch für das morgendliche Müsli stammt.
Eines jedoch irritierte Vogel: Seiner Kleidung nach zu schließen - er trug über seinem offensichtlich selbst gebügelten weißen Hemd einen etwas abgetragenen schwarzen Anzug mit dunkler Krawatte - befand sich sein Gegenüber derzeit in Trauer, was jedoch im Widerspruch zu dem breiten Grinsen stand, das er zur Schau stellte. Dies zu hinterfragen, schien Kajetan zu einem solch frühen Zeitpunkt ihrer Bekanntschaft doch zu vermessen, und so grinste er eben zurück, während er seinem Partner die fleischige und etwas feuchte Hand schüttelte.
»Ich freue mich ebenfalls, Marius.« Sich verstohlen nach einer Gruppe lautstark debattierender Damen reiferen Semesters umblickend, fügte er noch leise hinzu: »Heute Abend sind ja wieder genug Bridge-Hyänen unterwegs, so gemütlich wie im Internet wird's sicher net. Aber nachher können wir dafür noch auf ein Bier gehen, oder?«
Volkhammers Grinsen ging in ein erfreutes Lachen über.
»Sehr gerne sogar, da können wir uns dann in aller Ruhe beschnüffeln. Einem Krimineser begegnet man ja auch nicht allzu häufig - in unseren Kreisen«, fügte er in nasalem Tonfall hinzu.
Vogel stieg sofort darauf ein.
»Ja, ja, ich weiß, Musiker sind in Wien ja seit jeher anderen Umgang gewöhnt. Aber unter Metternich, Gott hab ihn selig, da waren wir die Könige, vergessen Sie nur das nicht, Euer Liebden.«
Ihr Geplänkel wurde von einem unangenehmen elektronischen Signal und den Rufen des Turnierleiters unterbrochen, der lautstark den baldigen Beginn der Kartenpartie ankündigte. So meldeten sie sich rasch an und vertagten die Fortsetzung ihrer launigen Unterhaltung auf später. Ihre Gespräche zwischen den verschiedenen Spielen dienten ausschließlich dazu, das Geschehen zu erläutern und sich über die Art der »Konventionen« auszutauschen - und wenn es die Zeit erlaubte, auch über den einen oder anderen Gegenspieler.
Kurz nach zehn Uhr, nach der Bekanntgabe des Ergebnisses - die beiden hatten gar nicht schlecht abgeschnitten und einen achtbaren dritten Platz belegt -, flohen sie rasch den Ort des Geschehens, um sich in ein Gasthaus zu begeben. Da Vogel angesichts des großen Durstes, der ihn stets nach einer außerordentlichen Anstrengung zu befallen pflegte, mit der U-Bahn gekommen war, hatte sich...