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Ungeduldiges Klopfen riss den Jungen aus seinem Halbschlaf. Er erhob sich langsam vom Küchentisch, wo er über einer Schale mit kaltem Haferbrei eingenickt war, rieb sich mit der Hand über das Gesicht und huschte in die Diele hinaus. Oben war alles ruhig; auch das laute Poltern an der Tür hatte Veronika nicht aus ihrem fiebrigen Schlaf zurückholen können. Schuldbewusst sah der Junge die Stiege hoch. Wie hatte er nur einschlafen können, anstatt zu seiner Krankenwache zurückzukehren! Gleich, gleich würde er wieder zu ihr hochgehen, sich an ihr Bett setzen und ihre heiße Hand halten, ihr vertrautes Gesicht betrachten, hinter dessen unruhig zuckenden Lidern sie sich weiter und weiter von ihm entfernte . Es klopfte erneut, noch heftiger jetzt.
«He! Niemand zu Hause?» Der Junge wandte sich zum Eingang und öffnete die Klappluke. Ein Mann stand vor der Tür im Regen, das Gesicht von einer Kapuze beschattet, sodass man ihn nicht erkennen konnte.
«Was wollt Ihr? Es ist schon spät, und wir erwarten keinen Besuch.»
«Ich will zu Magister Crantz - ist er zu Hause?» Der Junge nässte die Lippen und schluckte.
«Ihr - habt Ihr es nicht gehört? Der Magister ist gestorben, vor drei Tagen schon. Gestern haben wir ihn beerdigt, auf dem Johanniskirchhof» Der Mann draußen machte eine ruckartige Bewegung.
«Tot, sagst du?»
«Ja. Es war - es war ein Fieber, es hat ihn in wenigen Tagen umgebracht .» Mühsam unterdrückte der Junge ein Schluchzen.
«Dann benachrichtige die Meisterin, dass ich hier bin. Mein Name ist Adrian Piscator, Doktor Adrianus Piscator. Vor eine Woche hat der Magister mir eine Nachricht geschickt und mich hergebeten.» Der Mann hatte sich wieder gefasst und sprach jetzt ruhig und bestimmt.
«Du bist der Lehrjunge hier, nicht wahr?» Der Junge nickte. Er mochte vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre zählen; ein erster flaumiger dunkler Schatten lag schon auf seiner Oberlippe, die doch zitterte wie bei einem Kind.
«Die Meisterin ist nicht da», flüsterte er. «Sie ist nach Frankfurt gereist, zur Frühjahrsmesse . sie will dort das Rechenbuch verkaufen, das der Meister verfasst hat . sie weiß noch nicht . ich habe ihr geschrieben .» Seine Stimme überschlug sich, seine Augen schimmerten feucht.
«Und jetzt bist du ganz allein?» Der Junge schüttelte den Kopf.
«Veronika und ich . sie ist die Tochter. Aber sie ist jetzt auch krank, seit gestern Abend . es ist wie bei dem alten Crantz .» Piscator beugte sich vor.
«Hör zu, Junge . ich kann vielleicht etwas für sie tun. Lass mich herein», sagte er beschwörend. Misstrauisch starrte der Junge in das Dunkel vor der Tür.
«Seid Ihr ein Arzt, Herr?» Der Fremde lachte freudlos auf.
«Haben die Ärzte Crantz denn geholfen? Also. Ich bin ein Mathematicus, ein alter Freund des Magisters . ein ehemaliger Schüler. Crantz hat mich gebeten zu kommen, als er krank wurde. Er wusste, dass ich auf meinen Reisen viel gelernt habe, mehr vielleicht als der Stadtmedicus und alle seine gelehrten Kollegen zusammen. Mach auf» Immer noch zögernd griff der Junge nach dem Riegel und schob ihn mit zitternden Händen zur Seite. Die Tür schwang auf; Piscator trat ein, stellte sorgfältig seine große Ledertasche auf dem Boden ab und schlug seine Kapuze zurück.
Der Junge musste einen unwillkürlichen Ausruf des Schreckens unterdrücken, als er das Gesicht erblickte: ein Gesicht, das er nie wieder vergessen würde. Der Doktor war von abstoßender Hässlichkeit. Zwar fiel ihm das graubraune Haar immer noch voll und lockig bis auf die Schultern, doch seine Züge wurden von dickwulstigen, fleischigen Narben entstellt, zwischen denen sich rot und glänzend die Haut spannte wie dünnes Pergament. Von den Augenbrauen war ihm noch ein Rest geblieben, aber seine braunen Augen blickten wimpernlos wie die eines Reptils zwischen schwarzen Einsprengseln hervor, mit denen sein Gesicht übersät war, als hätte ein besonders widerwärtiges Ungeziefer sich in seiner Haut festgebissen. Es war ein Gesicht, bei dessen Anblick die alten Weiber sich bekreuzigen und die jungen die Hand nach ihren Kindern ausstrecken würden. Der Junge wich zurück, als stünde er dem Gottseibeiuns persönlich gegenüber. Piscator hielt den Blicken stand, ohne die Miene zu verziehen, hängte seinen Mantel auf einen Haken und knetete seine Hände.
«2260 Schritte vom Spittlertor bis hierher waren es immer», bemerkte er. «Heute habe ich an die 2500 gebraucht. Aber mein Schritt ist auch nicht mehr der eines jungen Mannes.» Er kniff die Augen zusammen und sah dem Jungen scharf ins Gesicht.
«Und, wie heißt du?»
«Ich bin Daniel Amberger, Herr. Seit drei Jahren Lehrling bei Magister Crantz.» Die Erinnerung an seine Position flößte dem Jungen wieder etwas Mut ein; er straffte die Schultern.
«Ihr seid nicht zum ersten Mal hier in Nürnberg?»
«Nein, bei Gott nicht. Vor Jahren habe ich hier gelebt.» Dann, ohne weitere Erklärung, griff Piscator nach seiner Tasche und wandte sich zur Stiege.
«Das kranke Mädchen ist dort oben?»
«Ja, aber ich - ich weiß nicht, ob es der Meisterin recht wäre -» Jetzt, wo er den Doktor von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, schien es dem Jungen geradezu ausgeschlossen, dass dieser Mann Veronika gesund machen würde, im Gegenteil - aber bevor er Piscator in den Weg springen, ja ihn auch nur am Zipfel seiner Jacke zurückhalten konnte, kletterte der missgestaltete Fremde bereits die Stiege hinauf zur Schlafkammer. Der Junge beeilte sich, ihm zu folgen.
Augenblicke später standen sie in der dunklen Kammer; die Läden waren zugeklappt, und nur auf einer Truhe brannte ein kleines Öllicht. In dem großen Bett an der Wand wirkte das kranke Mädchen zerbrechlich und verloren. Sie schlief einen unruhigen Schlaf; das kastanienbraune Haar hing wirr und verschwitzt um ihr gerötetes Gesicht, das zerwühlte Federbett war halb auf den Boden gerutscht.
«Veronika», flüsterte der Junge atemlos und versuchte unbeholfen, die Decke wieder festzuziehen.
«Lass.» Erstaunlich behutsam, aber entschieden schob Piscator den Jungen zur Seite. Er legte Veronika erst die Hand auf die Stirn, dann tastete er nach dem Puls an ihrem Handgelenk und zählte leise und konzentriert mit. Schließlich beugte er sich über sie und lauschte an ihrem Brustkorb dem mühsamen Geräusch ihres Atems.
«Es scheint das Fieber zu sein, das auch im Ansbachischen grassiert . ich habe auf dem Weg hierher viele gesehen, die es niedergeworfen hat.» Unmöglich, den Ausdruck dieses Gesichts zu lesen.
«Dann - dann gibt es keine Hoffnung mehr?»
«Das habe ich nicht gesagt. Ich werde tun, was ich kann. Hol mir einen Eimer kaltes Wasser aus der Küche und ein paar Tücher und setz unten den Kessel auf.»
Als der Junge kurze Zeit später mit dem Gewünschten zurückkehrte, hatte Piscator mehrere kleine leinene Säckchen aus seiner Tasche geholt und vor sich aufgebaut.
«Salbei, Lindenblüten und Weidenrinde», erklärte er. «Dazu noch die getrockneten Blätter eines indischen Strauches, dessen Heilkraft bei uns viel zu wenig bekannt ist . Wir werden einen Aufguss daraus zubereiten. Das wird das Fieber senken und sie zur Ruhe kommen lassen.» Seine Stimme klang so selbstsicher, sein ganzes Gebaren war so zuversichtlich und überzeugt, dass der Junge sich ein wenig beruhigte, während Piscator die herbeigeschafften Tücher in kaltes Wasser eintauchte und auswrang. Er schlug die Decke zurück; der glühende Leib vor ihm war nicht mehr Kind und doch noch nicht Frau, mit zart vorgewölbten Brüsten und rundlichen Hüften. Sanft tupfte er mit den Tüchern über die ausgetrocknete Haut, während der junge Lehrling nicht mehr wusste, wohin mit seinen Augen.
«Du willst etwas für sie tun, oder nicht? Dann vergiss, was du gerade gedacht hast, und schau zu, was ich mache.» Der Doktor faltete die Tücher zu kleinen Paketen, die er auf Veronikas Leisten legte und ihr unter die Achseln schob, dann warf er das Federbett auf den Boden und deckte sie nur mit einem dünnen Laken zu. Er warf dem Jungen einen prüfenden Blick zu.
«Achte darauf, dass die Tücher ausreichend kühl sind. Du musst sie immer wieder in frisches Wasser tauchen. Ich gehe jetzt hinunter und bereite den Aufguss zu.» Er nickte Daniel einmal zu und verschwand durch die Kammertür; der Junge starrte ihm nach wie einer Erscheinung.
Wenig später kehrte Piscator zurück, in den Händen ein Tablett mit zwei dampfenden Krügen, Tassen und Löffeln. Er goss ein wenig aus dem einen Krug in ein Schälchen, tunkte dann einen Lappen hinein und strich damit sanft über Veronikas Lippen.
«Sobald sie wach wird, sollte sie davon trinken. Und du selbst» - hierbei nahm er eine Tasse und goss sie aus dem anderen Krug voll - «trinkst dies hier: Johanniskraut und Baldrian. Es wird dich beruhigen.» Folgsam, fast wie im Bann eines übermächtigen Zaubers, nahm der Junge die Tasse entgegen und leerte sie in einem Zug; wohltuende Wärme kroch durch seine Glieder und machte sie müde und schwer.
«Wie alt, sagst du, ist das Mädchen?»
«Vierzehn. Sie ist vierzehn Jahre alt.» Die Zunge wollte dem Jungen nicht mehr gehorchen.
«Wir werden abwechselnd wachen», erklärte Piscator, zog sich einen Hocker heran und setzte sich ans Krankenbett. «Leg dich jetzt auf das Federbett und versuche zu schlafen.» Ohne ein weiteres Wort streckte der Junge sich auf dem Boden aus, zu Füßen von Veronika, und schloss die Augen.
Eingehend betrachtete der Doktor das kranke Mädchen. Es waren nicht nur die wohl...
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