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Was wissen wir schon von Menschen, denen noch im Angesicht des Todes die übelsten Kreaturen nachriefen, sie seien jüdischer Dreck? Wer sorgt für einen, wenn man dennoch überlebt, aber kein Geld, keine Papiere, keine Heimat, keine Kleidung und Essen hat und die Liebsten ermordet wurden oder verschollen blieben? Was hilft gegen die Schreie vor Angst und Schrecken, die immerzu nachhallen? In welcher Sprache teilt man sich mit, wenn einen niemand versteht? An wen wendet man sich, wenn man ausgerechnet im Land der Mörder von Terror, Demütigung und Vernichtung befreit wird? Was heilt die zutiefst verletzte Seele? Jeder und jede Einzelne war eine Anklage an die Weltgemeinschaft. Sie hatte es zugelassen hatte, dass sechs Millionen Juden von deutschen Nationalsozialisten, ihren Helfern und Helfershelfern in ganz Europa in Ghettos und Konzentrationslagern ermordet werden konnten. Die Geschichte Überlebender des Holocaust im Nachkriegsdeutschland ist immer noch komplex, kompliziert und unübersichtlich.
Deutschland lag in Trümmern. Alte Ordnungen waren zerstört und neue noch nicht in Sicht, genauso wenig wie jüdische Hilfsorganisationen. Der im Auftrag der amerikanischen Regierung erstellte Harrison-Report kam im Herbst 1945 zu dem erschütternden Ergebnis, die Amerikaner behandelten die Juden wie es die Nazis getan hätten, nur, dass sie sie nicht ermordeten. Der robuste Nachkriegs-Antisemitismus der Besiegten brauchte keinen Verweis auf linke oder rechte Ränder, er speiste sich direkt aus der Mitte der Gesellschaft. Der Landsberger Landrat Bernhard Müller-Hahl konnte in seiner offiziellen Biografie noch 1983 - und bis in die Gegenwart allenfalls achselzuckend zur Kenntnis genommen - behaupten: »Die vielen Milliarden DM, die nach Israel und an einzelne Bürger gezahlt wurden, hat schließlich jeder Deutsche mitgetragen. Leben kann damit freilich nicht wieder gutgemacht werden. Die Judenverfolgung hat allerdings auch nicht Deutschland erfunden. Deswegen gab es gerade bei uns und auf dem Lande keine Kollektivschuld gegenüber den Juden und nicht von Katholiken im Zusammenhang mit der Hinrichtung Jesu. Trotzdem hätten auch jüdische Bösewichte bestraft werden müssen. Gleiches Recht für alle!1
Der Antisemitismus und die deutsche Selbstherrlichkeit, die bald wieder aufleben sollte, waren nur zwei von zahlreichen Problemen, denen sich jüdische Displaced Persons, heimatlos Gewordene, ausgesetzt sahen. Dieses Buch versucht am Beispiel eines jüdischen Orchesters die Auswirkungen des Holocaust nachzuzeichnen und die Überlebensstrategien aufzuzeigen, derer sie sich bedienten, um sich und ihren Tausenden von Zuhörern und Schicksalsgenossen bis 1949 in Bayern, Teilen Baden-Württembergs, Hessens oder Niedersachsens, Mut und Kraft für eine noch ungewisse Zukunft zu geben. Sie waren anfangs nur ein kleines Häuflein von acht Musikern, acht von insgesamt rund 1000 jüdischen Displaced Persons in der französisch besetzten Zone, circa 16 000 in der britischen und rund 200 000 in der amerikanischen Zone. Abgesehen von gemeinsamen Gegnern und Feinden waren die aus Polen, Tschechien, Ungarn oder dem Baltikum stammenden Überlebenden unterschiedlich, wie man unterschiedlicher nicht sein kann: liberal, konservativ, sozialistisch, religiös, zionistisch, apolitisch, zweifelnd und verzweifelt, apathisch, aktiv, humorvoll, streitbar, liebevoll, praktisch und handwerklich begabt wie intellektuell brillant, ebenso konziliant wie kompromisslos. Dabei lagen sie sich oft genug in den Armen wie in den Haaren. Ihr großes gemeinsames Credo aber war: Nie wieder! Nie wieder Demütigungen, nie wieder fremdbestimmt sein, nie wieder Opfer von Terror und Gewalt werden. Mit ihrem Befreiungskonzert vom 27. Mai 1945 auf dem von den Amerikanern teilweise beschlagnahmten Gelände der Benediktinerabtei von St. Ottilien hatten die Musiker einen ersten Appell an die Welt gerichtet: Wir sind hier! Das ist unser Volk, das ist unsere Religion, unsere Kultur, unsere Geschichte. Ihr Orchester setzte seinen schon in Ghettos und Konzentrationslagern erprobten geistigen Widerstand für ein nach Trost und Hoffnung dürstendes Publikum mit seinen Konzerten fort, während sich in DP-Lagern und Kibbuzim vor allem die Jüngeren formierten, um die Gründung und den Aufbau eines eigenen Staates Israel vorzubereiten und ihn auch schon in den DP-Lagern, zwar nur ansatzweise, doch bereits deutlich erkennbar, zu leben. Auch wenn nicht alle nach Eretz Israel auswandern wollten, waren sie von der absoluten Notwendigkeit eines eigenen Staates Israel überzeugt. Für die einen als neue Heimat, für die anderen als Zufluchtsort für den Fall aller Fälle.
Dass die kleine Garnisonsstadt Landsberg am Lech zu ihrem Schicksalsort werden sollte, konnten die aus Litauen stammenden Musiker nicht ahnen, als sie im Sommer 1944 mit Sammeltransporten aus Kaunas zur Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie in unterirdischen Bunkern ins Oberbayerische deportiert worden waren. Ein Fleckchen Erde, auf dem sich das Wesen der Provinz auf das Unrühmlichste entfaltet hatte und es auch weiterhin tun sollte. Soziale Dichte und Kontrolle gingen einher mit Minderwertigkeitskomplexen und Größenwahn. Einerseits nur ein Nest mit knapp 10 000 Einwohnern, andererseits ein Ort, der sich mit Adolf Hitlers Festungshaft, operettenhaft inszenierten Aufmärschen der Hitlerjugend, dann dem größten Außenlagerkomplex des Konzentrationslagers Dachau und nach der Befreiung mit einem der größten DP-Lager der Nachkriegszeit sowie dem zum Kriegsverbrechergefängnis der Amerikaner umfunktionierten ehemaligen Hitlergefängnis verband. Die Landsberger DP-Lagerzeitung berichtete im Februar 1947, dass einer der ihren, der später weltweit als »Dichter des Holocaust« verehrte Avraham Sutzkever aus dem Ghetto von Vilnius, als erster jüdischer Zeuge überhaupt, am 27. Februar 1946 bei den Nürnberger Prozessenausgesagt hatte. Gut zwei Monate später fuhr das Orchester auf Einladung der Amerikaner vom Lech aus nach Nürnberg, um in der dortigen Oper vor Juristen des internationalen Militärtribunals mit einem Konzert musikalisch Zeugnis von ihrem Schicksal in Ghettos und Konzentrationslagern abzulegen. Bereits im Januar hatte es in München im Beisein von David Ben Gurion ein Konzert gegeben.
Im DP-Lager Landsberg gab das jüdische DP-Orchester auch sein letztes offizielles Konzert, am 10. Mai 1948, vier Tage vor Gründung des Staates Israel. Geleitet wurde es von dem aufstrebenden jungen amerikanischen Dirigenten Leonard Bernstein mit jüdisch-ukrainischen Wurzeln. Nachdem auch Länder wie Amerika, Australien oder Kanada ihre bis dahin restriktiven Einwanderungsbestimmungen gelockert hatten, löste sich der außergewöhnliche Klangkörper zunehmend auf. Mit ihrer Auswanderung zerstreuten sich die Musiker rund um den Globus und mit ihnen ihre Geschichte und Geschichten. Dokumente, Fotos, Interviews finden sich zwar im YIVO-Institut, im Museum of Jewish Heritage, beide New York, im United States Holocaust Memorial Museum, Washington D. C., Fragmente in Yad Vashem, dem Ghetto Fighters' House Museum in Israel, im Bayerischen Staatsarchiv, München, im NS-Dokumentationszentrum Nürnberg, in der KZ-Gedenkstätte Dachau, den Arolsen Archives, im Vilna Gaon States Jewish Museum sowie in Privatsammlungen oder persönlichen Erinnerungen für den familiären Gebrauch. Ein zusammenhängenderes Bild über das Wirken und die Bedeutung des Orchesters erhielt ich jedoch erstmals mit der Lektüre des autobiografischen Buches »Symphony on fire« von Sonia P. Beker, der Tochter der DP-Musiker Fania Durmashkin und Max Beker. Nach ihrer Auswanderung liefen in der kleinen New Yorker Wohnung der Bekers viele Fäden zusammen, sie hielten auch Kontakt zu jenen, die nie im Vordergrund gestanden hatten, sondern einfach nur Orchestermusiker waren.
Wie unterschiedlich der Umgang mit der Geschichte des spirituellen wie physischen Widerstands noch heute ist, verdeutlichte mir eine Begegnung mit der ehemaligen Partisanin Fania Brankovskaja in Vilnius. Sie war zeitweise die Nachbarin der Musikerfamilie Durmashkin im Vilna Ghetto und kannte Künstler wie Avraham Sutzkever oder den Partisanenanführer Abba Kovner persönlich. In Litauen lebten im Juni 1941 etwa 230 000 Juden. Über 90 Prozent wurden von den Deutschen ermordet. Dass dieser »Erfolg« der Kollaboration litauischer Antisemiten zu verdanken war, ist ein bis in die Gegenwart nicht aufbereitetes Kapitel der Geschichte des baltischen Staates. Ehemalige jüdische Partisanen und Partisaninnen wurden nach dem Beitritt Litauens 2004 in die Europäische Union als Kriminelle und Landesverräter diffamiert, während litauische Antikommunisten, die oftmals mit den deutschen Besatzern kollaboriert und sich an den Massenmorden beteiligt hatten, als Widerstandskämpfer geehrt wurden. Erstes prominentes Opfer wurde 2006 der ehemalige Partisan und langjährige Chef von Yad Vashem, Yitzhak Arad. Er hatte im Rahmen einer litauischen Untersuchungskommission die Beteiligung litauischer Kollaborateure am Holocaust erforscht und sich vehement gegen eine Gleichsetzung von NS- und Sowjetregime ausgesprochen. Arad wurde als Kriegsverbrecher beschuldigt und aus der Kommission entfernt. Zwei Jahre später ordnete die litauische Staatsanwaltschaft die Vernehmung von Fania Brankovskaja an, die nach der Befreiung durch die Rote Armee in Litauen geblieben war. Nachdem sie 2009 für ihre Versöhnungsarbeit in Deutschland mit dem Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland geehrt worden war, erhielt sie im Jahr 2017 (!) das Ritterkreuz des Ordens für Verdienste um Litauen.2
Jiddische Volkslieder sowie Ghetto- und Partisanensongs aus dem Vilna Ghetto gehörten zum Repertoire des...
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