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Besichtigung der Narben Schon unser Geburtsausweis ist eine Narbe. Dieser Umbilicus, wie Mediziner den Bauchnabel nennen, zeigt die erste Verletzung an, die jedem Lebenden zuteilgeworden ist. »Warum hast du mich aus meiner Mutter Leib kommen lassen?« hat im Alten Testament der leidende Hiob geklagt - »Ach dass ich umgekommen wäre und mich nie ein Auge gesehen hätte! So wäre ich wie die, die nie gewesen sind, vom Mutterleib weg zum Grabe gebracht.« Ich weiß von Stunden, in denen man sich das wohl wünschte: Ohne unsere früheste Narbe wäre uns keine der späteren mehr zugefügt worden (auch nicht die unsichtbaren, die man nur metaphorisch so nennt). Aber von Kindesbeinen an sind sie doch Überlebens- und Verheilungszeichen. Von denen will ich hier erzählen.
Als ich vor Jahren mit unserem Sohn am Strand der Ferieninsel Sylt lag, wurde Tobias auf eine meiner Narben aufmerksam und fragte danach. Damals haben wir gesucht und abgezählt, wie viele davon ich mit mir herumtrage. Die kaum noch erkennbaren eingerechnet, kamen wir auf mehr als vierzig. Nach Erkundigungen bei Freunden und Bekannten geht das entschieden über den Normalbefund hinaus. Fast ließe sich meine Lebensgeschichte anhand dieser Narben abhandeln. Ganz so weit möchte ich es nicht treiben.
An das erste Überlebenszeichen, das chirurgische Eingriffe an mir hinterlassen haben, heftet sich meine früheste Kindheitserinnerung. Ungelöscht im Gedächtnis wohl nur, weil ich unseren Vater dabei auf ungewohnte Weise schreien hörte. Vierjährig hatte man mich aus Barby an der Elbe in eine Magdeburger Kinderklinik gebracht, spezialisiert auf Mittelohrentzündungen, die in der Flussnähe wohl besonders häufig auftreten. Sie konnten zu dieser Zeit noch nicht mit einem Antibiotikum geheilt werden, mussten in bedrohlichen Fällen also operiert werden. Zweimal war mir damals schon der Schädel aufgemeißelt worden, ohne dauerhaften Erfolg. Als ich danach in meinem Krankenbett lag, hörte ich bei offener Tür über den Flur hinweg aus einem gegenüberliegenden Zimmer die übermäßig laute Stimme meines Vaters. Wie man mir später erzählte, hatte ihm der behandelnde Chirurg eröffnet, dass ein weiterer Eingriff aussichtslos erscheine. Aber so heftig hat der Verzweifelte ihn angeherrscht, dass er nachgab und ich durch eine dritte Operation denn doch gerettet wurde. - Viel später stellte sich auch noch heraus, dass etwa zur gleichen Zeit in dieser Klinik das kleine Mädchen lag, das ich 23 Jahre danach heiraten durfte. Ich denke mir, dass unsere Rollbetten damals auf dem Flur aneinander vorbeigeschoben wurden, und möchte glauben, dass wir dabei einander wahrgenommen haben. Liebe ist doch wohl eine Art Wiedererkennen.
Viele solcher Operationsnarben trage ich mit mir herum. Kriegsnarben nur wenige, davon später. Vor allem aber Unfallnarben - die meisten keineswegs selbst verschuldet durch einen Leichtsinn, den Freunde und Anverwandte mir manchmal vorhalten. Sechsjährig saß ich in Naumburg auf einer kleinen Mauer, als sich von hinten ein Schäferhund in mein Hinterteil verbiss und mich gar nicht mehr loslassen wollte. So fing es an. Ich konnte wahrhaftig nichts dafür. Und wenigstens zwei solche Unschuldsfälle will ich hier noch memorieren.
Einundzwanzigjährig spaltete ich für den Kachelofen des Schwenningdorfer Pfarrhauses Brennholz in schmale Scheite. Mein Vater, mit dem ich nach dem Krieg dort aufgenommen worden war, las mir dabei Jean Paul'sche Aphorismen vor. Diese kleine Feldpostausgabe habe ich noch, kann deshalb die beiden dort angestrichenen, wirksamsten Stellen rekapitulieren. »Kleider«, ließ der einarmige Vorleser mich hören, »sind die Waffen, womit die Schönen streiten und die sie gleich den Soldaten dann nur von sich werfen, wenn sie überwunden sind.« Und dann: »Liebet eure Feinde; heißt bei den Weibern: besucht eure Freundinnen und trinkt Tee.« Einander ansteckend lachten wir so sehr, dass ich nicht mehr aufpassen konnte und mir mit dem Beil ein schmales Stückchen Fleisch und Knochen vom linken Daumen abhackte. Für immer erinnerte mich diese schmale Narbe daran, dass auch die schöne Literatur Spuren hinterlassen kann in der handfesten Wirklichkeit.
Nach der Mittelohr-Operation 1929 (mit meiner Schildkröte)
Fünfzigjährig traf mich dann mit dem Hufschlag eines Pferdes die bedrohlichste meiner Unfallverletzungen. Mit der Reiterei also hing das zusammen, von der ich, um meine Schreckensmeldungen etwas abzupolstern, zunächst doch Fröhliches erzählen will. Mein Vater, schlesischer Husar im ersten Weltkrieg, hatte mich schon als kleinen Jungen auf ein Pony gesetzt, und dieses »größte Glück der Erde«, das nach dem Sprichwort »auf dem Rücken der Pferde« liegt, ist mir fast lebenslang zuteilgeworden. Ich habe viele herrliche Erinnerungen daran.
Von den karolingischen Haimonskindern wird berichtet, dass sie zu viert auf dem gleichen Pferd saßen. So ist einmal auch unsere zwölfjährige Tochter mit mir zusammen geritten. Bei einer der jährlichen Vereinsmeisterschaften unseres Göttinger Kreisreitervereins hatte ich es bis in die Ehrenrunde des siegreichen Pferdes und seines Reiters geschafft. Bettina wurde damals Jugendmeisterin, und weil wir das gleiche Pferd hatten, half ihr bei der Siegerehrung einer der Turnierrichter zu mir herauf. Sie saß auf der Kruppe und hielt sich fest, indem sie mich von hinten umarmte. So galoppierten wir in unsere beklatschte Ehrenrunde, und für uns beide war das ein ziemlich großes Glück dieser Erde.
Auch unsere beiden ersten Enkelkinder habe ich, als sie noch klein waren, nacheinander oft mitgenommen, wenn es durch die Göttinger Wälder ging. Vor dem Sattel war dann ein Deckenpolster über den Widerrist gelegt. Von beiden Seiten durch meine zum Zügel ausgestreckten Arme gesichert, waren sie völlig sorglos, trauten ihrem Großvater damals noch alles zu. Das ging anfangs behutsam im Schritt, später auch rascher, sogar mit vorsichtigen Sprüngen über gefällte Bäume. Einmal, im 'leichten Trab', bei dem sich der Reiter mit jedem zweiten Tritt des Pferdes in den Steigbügeln aufrichtet, drehte sich die sonst immer nach vorn schauende, vielleicht vierjährige Henriette zu mir um, sah diese Bewegung und rief mit fröhlichem Staunen: »Großvater! Du wächst und schrumpfst!« Wie recht sie da hatte - ohne schon zu wissen, dass das Emporwachsen und wieder Zusammenschrumpfen fürs ganze Leben gilt (ich bin nur noch 170 cm groß, wenn ich das schreibe, und hatte es 1943 bei der militärischen Musterung immerhin auf 176 cm gebracht).
Ganz herrlich, das will ich nicht unerwähnt lassen, war dann im Herbst 2001 ein großer Rundritt mit unserer Tochter und ihren beiden ältesten, inzwischen schon sattelfesten Kindern durch das Land der Kaschuben. Über Küstrin waren wir dazu mit dem Auto in ein einsames polnisches Forsthaus gefahren (wo am ersten Abend aus Grass' >Blechtrommel< vorgelesen wurde: die Geschichte von der Großmutter auf dem kaschubischen Kartoffelacker, unter deren Röcken sich der kleine Brandstifter Koljaiczek versteckt hat und ungehörig zu schaffen macht). Von der Förstersfrau geführt, sind wir auf deren Trakehnern dann eine Woche lang durch die Kaschubei geritten, jede Nacht mit Schlafsäcken in einer anderen Försterei übernachtend, tagsüber viele Stunden lang im Sattel, in einer wunderschönen, von Menschenhand noch fast unberührten, wald- und seenreichen Landschaft. Auch das ging ohne nennenswerte Unfälle ab.
Aber: Lange zuvor schon war einmal der Göttinger Pferdepfleger krank geworden, und reihum mussten die Reiter selber den Futterdienst übernehmen. So fuhr ich im Februar 1975 frühmorgens zu unserem Vereinsstall, um Hafer in alle Krippen zu schütten. Bei einer der engen Boxen war dieser Trog von der Stallgasse aus nicht erreichbar. Ich öffnete die Stalltür, und weil sich das mir unbekannte Pferd nicht, wie gewohnt, gleich an meinen Futtereimer drängte, sondern mir unbewegt die Hinterhand zukehrte, schob ich mich sehr vorsichtig hinein. Drin leerte ich die Haferkörner aus, drückte mich rückwärtsgehend wieder an der Stallwand entlang zum Ausgang und redete begütigend auf den Sonderling ein. Aber als ich genau hinter ihm stand, keilte er aus, offensichtlich gezielt. Ein Hinterhuf traf mich in den Unterleib und warf mich durch die offene Tür auf die Gasse. In den Ställen der alten Kavallerie trugen solche Schlägerpferde ein warnendes rotes Band um die Schweifrübe, »Füttern vom Wachtmeister an aufwärts!« sollte das heißen. Dieses Warnzeichen gab es hier leider nicht. Laut vor mich hin stöhnend lag ich auf der Stallgasse, bis zwei Mädchen kamen, die morgens reiten wollten und nun den restlichen Futterdienst übernahmen. Ich fuhr noch selber nach Hause, wurde aber rasch in die Chirurgische Universitätsklinik verfrachtet. Ohne äußere Verletzung. Innen war ein kleiner Knochenteil von der Wirbelsäule abgesplittert, das wurde als harmlos bewertet. Auch zeigte sich die linke Niere etwas eingerissen. Vor allem aber und noch unbemerkt war die Milz geborsten und blutete langsam in ihre Kapsel hinein. Für solche Fälle, sagte mir damals ein altgedienter Oberarzt, gelte die medizinische Bauernregel: »Stumpfes Bauchtrauma - Aufmachen und nachsehn, was los ist!« Um mich als einen Professor ihrer Universität waren freilich die medizinischen Ordinarien selber bemüht: der Röntgenologe, der Internist, der Nephrologe und der Chirurg. Drei Tage lang untersuchten und beobachteten...
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