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Die Tatsache, dass die Gemeinsamkeit in gleicher Weise Zumutung wie Versprechen in der Demokratie ist, zeigt das komplexe Verhältnis an, in dem Individuum und Gemeinschaft seit jeher stehen - nicht nur, aber eben auch in der Demokratie. Die Krise der demokratischen Gemeinschaft lässt sich daher nur begreifen, wenn man nicht nur das Kollektiv, sondern auch die Einzelnen in den Blick nimmt, das Ich und das Wir, oder eben auch das Ich und das Ihr, die in einer schwierigen, wechselvollen Beziehung zueinander stehen. Die abnehmende Bereitschaft, den Anderen auszuhalten, zeigt dabei eine schleichende Bedeutungsverschiebung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung dieser Pole an. Selbstentfaltung und Selbstdarstellung gewinnen in der spätmodernen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung, Konformität und soziale Anpassung verlieren parallel dazu ihre Leitbildfunktion und werden immer stärker negativ konnotiert. Der Begriff der Freiheit innerhalb der Gesellschaft, der auch Grundlage eines demokratischen Freiheitsbegriffes ist, löst sich an vielen Stellen aus seiner sozialen Einbettung und wird daher mitunter als Grundlage der Gemeinsamkeit prekär. Auf demokratisch-politischer Ebene zeigt sich diese Entwicklung besonders deutlich in der nationalen wie internationalen Stärkung populistischer Strömungen, in denen sich das Wir zunehmend auflöst in einer strikten Dichotomie zwischen Ich und Ihr.
In der Spätmoderne, wie unsere gegenwärtige Epoche gern genannt wird, ist das Individuum nicht nur immer weniger bereit, den Anderen mit all seinen abweichenden Ansichten, Verhaltensstandards und Ideen auszuhalten. Er oder sie muss sein eigenes Verhalten auch immer weniger an solchen sozialen Zwängen ausrichten, die noch im 20. Jahrhundert das alltägliche Leben auf intensivste Weise geprägt haben. Damit entstehen für ein bestimmtes soziokulturelles Milieu ganz erhebliche geistige Freiräume, die nun in besonderer Weise dafür genutzt werden, sich mit sich selbst, der eigenen Situation und den eigenen Befindlichkeiten auseinandersetzen - auf emotionaler[1] und auf psychologischer Ebene.[2] Die Idee der Selbstentfaltung, die aus dieser Selbstbeschäftigung resultiert, bleibt allerdings nicht auf die subjektive Ebene des Ich beschränkt, sondern sucht über das Mittel der Selbstdarstellung unmittelbar wieder einen sozialen Bezug.
In unserer Gegenwart, in der soziale Zwänge schwinden und der Beschäftigung mit der eigenen Person ein historisch vermutlich einzigartiger Raum zugebilligt wird, sind Selbstentfaltung und Selbstoptimierung zum gesellschaftlichen Leitbild und zum Mittelpunkt individueller Sinnwelten geworden.[3] Die Arbeit an sich selbst, mit der das Ich optimiert werden soll, steht dabei unter der normativen Erwartung der Individualität. Der aufgeklärte spätmodernde Mensch, dem die wirtschaftlichen, zeitlichen und kulturellen Ressourcen zur Verfügung stehen, um dieses Erwartungsmuster für sich überhaupt als relevant einordnen zu können, soll nicht nur fitter, gesünder, gebildeter, achtsamer und ausgeglichener in seinem oder ihrem Leben sein. Er oder sie soll dabei auch gerade die eigene Persönlichkeit zur bestmöglichen Entfaltung bringen, also die Selbstoptimierung in den Dienst der Individualität stellen.
Objekte und Verhaltensweisen, die ansonsten eher der Befriedigung elementarer Bedürfnisse oder aber der Einordnung in gesellschaftliche Erwartungen dienen, werden auf diese Weise zu besonderen Markern, mit denen sich das Individuum von anderen absetzen kann. Anders als es in bürgerlichen Schichten sehr lange Zeit der Fall war, wird Konformität so von der sozialen Norm zum kulturellen Schreckensbild. Nicht die Anpassung an die herrschenden Standards in Mode, Bildung, Beruf, Ernährung, Familie und Freizeit erscheint erstrebenswert, sondern umgekehrt die maximale Verwirklichung der eigenen Person durch Individualität in all diesen Bereichen.
Als Form des Protestes ist diese Form der Abkehr vom (bürgerlichen) Mainstream keineswegs neu und vor allem bei Jugendlichen seit langem bekannt.[4] Allerdings steht diese ältere Form der Abkehr von der bürgerlichen Konformität meist in einem Zusammenhang, in dem es nicht um maximale Individualität geht, sondern um die Suche nach Identität durch Einordnung in eine andere Gruppe, die sich eben von der Herkunftsgruppe - vor allen Dingen der bürgerlichen Kleinfamilie - unterscheidet. Der Teenager der 1980er Jahre, der sich zum Schrecken seiner Mittelschichteltern der Punkszene anschloss, seine Jeans zerriss und seinen grün gefärbten Irokesenschnitt nach oben gelte, wollte sich ohne Zweifel äußerlich wie innerlich maximal von den Konformitätserwartungen seiner Familie befreien. Als Mittel der Loslösung wählte er dabei aber gerade nicht eine größtmögliche Individualisierung oder gar den Versuch der Selbstoptimierung. Vielmehr stand hier die Einordnung in eine andere Gruppe mit eigenen ästhetischen und sozialen Standards im Vordergrund, sodass vor allen Dingen divergierende Modelle kollektiver Identitäten in Konflikt miteinander gerieten.
Als erwachsenes, dezidiert nicht widerständiges Projekt hat die gegenwärtige Form der Selbstentfaltung eine deutlich andere Bedeutung. Das liegt vor allen Dingen daran, dass sie sich in gewisser Weise gerade von stereotypen kollektiven Identitätsmustern befreien will und an ihre Stelle in starkem Maße eine individuelle Optimierungsideologie setzt. Nur das Singuläre, das Einzigartige zählt, nicht das Standardisierte oder Massenhafte, das als unauthentisch erlebt und gebrandmarkt wird. Dabei fällt freilich auf, dass diese Zielrichtung in gewisser Weise paradox erscheint. Denn ohne Zweifel stecken letztlich auch in dieser Ideologie der Individualisierung ein kollektives Identitätsmuster und ein nicht unerheblicher Konformitätsdruck ganz eigener Art, die sich nur auf eine andere Form von Konformität und eine andere Form von Druck beziehen.
Diese Paradoxie ist somit Ausdruck einer komplexen Struktur, in der zwei im Grunde gegensätzliche kulturelle Muster miteinander kombiniert werden: Denn im gegenwärtigen Modell von Selbstentfaltung und Selbstoptimierung geht es gerade nicht nur darum, sich nach seinen Wünschen und Möglichkeiten bestmöglich zu entfalten, sondern auch darum, einen hohen sozialen Status zu erreichen.[5] Die Entfaltung der Individualität stellt hier also keinen reinen Selbstzweck dar, sondern ist aufs Engste verbunden mit dem Streben nach sozialem Erfolg. In der Gesellschaft der Selbstoptimierer stellt sich dieser soziale Erfolg dadurch ein, dass die eigene Individualität und Selbstentfaltung zum Gegenstand der Bewunderung und Anerkennung werden. Dies kann allerdings nur dadurch gelingen, dass das bessere, das optimierte und entfaltete Selbst nach außen getragen wird. Die Selbstdarstellung ist somit das entscheidende Mittel, über das sich die scheinbar widersprechenden Ziele wieder verbinden lassen.
Nun ist menschliches Miteinander ohne eine Form der Selbstdarstellung schlicht nicht denkbar. Wir alle spielen eine Rolle, wenn wir uns in Begegnung und Beziehung zu anderen Menschen setzen, und stellen uns in einer bestimmten Weise dar - vielleicht nicht immer besonders gekonnt, aber nichtsdestoweniger in irgendeiner und sei es noch so defizitären Weise in Szene gesetzt.[6] Gleichwohl ist durch die sozialen Medien in den letzten Jahren eine digitale Bühne für die Selbstdarstellung entstanden, die in dieser Form historisch neu ist. So viel Inszenierung, so viele Fotos, Videos, Sinnsprüche und mehr oder weniger lustige Anekdoten des eigenen Lebens von und für jedermann gab es tatsächlich noch nie.
Dieser gegenwärtige Boom kann dabei anknüpfen an eine vorhergehende Entwicklung, die eng mit der beschriebenen Entwicklung der Ökonomisierung verbunden ist: der immer stärker werdenden Dominanz der Konsumkultur. Auch die Konsumkultur und die auf ihr aufbauende Konsumgesellschaft sind in ganz erheblichem Ausmaß auf Selbstdarstellung ausgelegt. Denn in ihr lösen sich die Produkte gerade von ihrer reinen Gebrauchsfunktion und werden in ganz erheblichem Maße zu Objekten, die nicht nur nach innen gerichtet emotionale Bedürfnisse befriedigen,...
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