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Der Mensch ist ein zur Einsamkeit fähiges Tier.1 Homo sapiens empfindet sie, sie schmerzt und lockt ihn, er sucht und meidet sie, kultiviert sie als Privileg und nutzt sie als Strafe. Als rohe Empfindung zählt das Gefühl des Mangels an und in Beziehungen zunächst zwar eher zu den bitteren Erfahrungen menschlicher Existenz. Aber kein Geschmack ist so facettenreich wie das Bittere. Die folgenden Kategorisierungen sind daher sicherlich zu grob. Sie sortieren frech einige Spielarten des Einsamseins und ordnen sie als dominante Formen in gesellschaftshistorische Zusammenhänge ein. Die darin implizierte These, eine bestimmte Art der Einsamkeit sei für eine bestimmte Zeit die übliche gewesen, bitten wir mit einer gewissen Großzügigkeit zu lesen: Im schlimmsten Fall ist die kurze Geschichte der Arten der modernen Einsamkeit, die hier folgt, ein Kuriositätenkabinett, im besten Fall versammelt sie einige wesentliche Variationen des Einsamseins in etwas zugespitzten Darstellungen.
Einsamkeit galt angeblich lange als etwas »Gutes«. Die Wissenschaft unterscheidet denn auch grob die »positive« von der »negativen« Einsamkeit.2 Viele Forscher und Forscherinnen halten den Begriff der »positiven« Einsamkeit allerdings für einen Kategorienfehler, der aus einem Teekesselchen resultiert: Gemeint sei in dieser Verwendung des Wortes die Freude am selbst gewählten Alleinsein.3 Mit dem schmerzhaften Gefühl des Mangels an und in Beziehungen habe die »positive« Einsamkeit daher nur die Bezeichnung gemeinsam, die beide Formen sich aus sprachgeschichtlichen Gründen teilen. Ein Blick in die Geschichte des Einsamseins zeigt jedoch, dass es nicht ganz so einfach ist. In der frühen Neuzeit ist das »Positive« an der Einsamkeit gar nicht so leicht zu finden. Francis Bacon zitierte schon Anfang des 17. Jahrhunderts das lateinische Sprichwort »magna civitas, magna solitudo« - »Große Stadt, große Einsamkeit«.4 Er beobachtete, wie in den Metropolen - Paris und London waren damals in etwa so groß wie heutige Mittelstädte - der organische Zusammenhalt der Gesellschaft schwindet. Die Freunde leben verstreut, die Nachbarschaften bieten keine Möglichkeiten der sozialen Verwurzelung mehr, und das durch Verwandtschaftspflichten zusammengehaltene gesellschaftliche Solidarsystem wird brüchig. Zugegeben: Bacon fand das nicht unbedingt schlecht. Es liegt an Autoren wie ihm, dass oft vermutet wird, in der Frühen Neuzeit habe eine »positive« Sicht auf die Einsamkeit vorgeherrscht. Für den Vater der wissenschaftlichen Methode war weniger das Leiden am Verlust von Gemeinschaftlichkeit ein Problem, sondern eine ambivalente, mitunter gefährliche Lust am Alleinsein. Das kann man vielleicht auf seine Person zurückführen. Er galt als eher schwieriger, enorm ehrgeiziger und kaltherziger Zeitgenosse, der sich nur dann um die Meinung seiner Mitmenschen scherte, wenn sie ihm nützlich sein konnten.5 Die große Stadt bot ihm größere Unabhängigkeit von der Antipathie seiner Zeitgenossen. So gesehen war die »magna solitudo« in der Metropole für ihn tatsächlich ein Vorteil. Auch war Francis Bacon kein echter Ausnahmefall. Für die sozialen Eliten des 17. Jahrhunderts war die Vorstellung einer einsamen Existenz nicht zuletzt deshalb so attraktiv, weil man sich mit dem selbst gewählten Rückzug aus sozialen Zusammenhängen der niederen Pflichten und weltlichen Dinge entledigen konnte, die einen nur von dem erhabenen Zustand einer virtuosen Lebensführung abhielten.
Dahinter steht ein Trend zur Verweltlichung einer christlichen Theorie der Einsamkeit, den man mindestens bis ins 12. Jahrhundert zurückverfolgen kann.6 Für die christliche Tradition ist die Erfahrung der Einsamkeit - etwas vereinfacht ausgedrückt - ein Prozess mit drei Stufen: Reinigung, Erleuchtung und Gnadenbeweis Gottes. Mustergültig kann dies an der »Vita Antonii«7, der Erzählung vom Leben des heiligen Antonius, abgelesen werden: Der Heilige zieht aus in die Wüste, bezwingt die Dämonen, wirkt Wunder und erfährt durch die Vorsehung den Zeitpunkt seines Todes. Das stille Motiv hinter der christlichen »Drei-Stufen-Theorie« der Einsamkeit ist die Nachahmung des Lebens Christi.8 Christus geht in die Wüste, um dort den Anfechtungen des Teufels zu widerstehen und die Nähe Gottes zu suchen, dann kehrt er zurück in die Gemeinschaft und offenbart das Wort und Wirken des lebendigen Gottes. Am Ende seiner irdischen Existenz leidet er im Garten Gethsemane für die Sünden der Menschen und erfährt, dass die Zeit gekommen sei, für diese zu sterben. Strukturell liegt dieses Motiv auch den verweltlichten Varianten der christlichen Einsamkeit zugrunde. Oft beginnt das Missverständnis von der »positiven« Einsamkeit schon hier.
An dieser Stelle muss zwischen der gesellschaftlichen Würdigung und dem psychischen Gehalt einer Erfahrung unterschieden werden. Was sich gut anfühlt, ist unter dem Gesichtspunkt seiner gesellschaftlichen Akzeptanz nicht unbedingt gut. Sicher löst ein Druck Heroin ein tolles Gefühl aus, trotzdem werden Eltern ihren Kindern nicht dazu raten. Genauso wäre es ein großes Missverständnis, religiöse und spirituelle Arten der gesuchten Einsamkeit als »positiv« zu bezeichnen. Passender wäre es, von »gewürdigter Einsamkeit« zu sprechen. Weder die Anfechtungen des Teufels noch die Gnade, den Zeitpunkt des eigenen Todes zu erfahren, sind in einem hedonischen Sinn »angenehm«. Die christliche Einsamkeit ist eine fürchterliche Erfahrung von heiligem Ernst. Daraus resultieren die »positiven« Deutungen. Durch die säkuläre Aneignung und Übersetzung des christlichen Formats in die Form der Gelehrteneinsamkeit entstand irgendwann der Eindruck, die gesuchte und gewürdigte sei auch eine positiv erfahrene Art der Einsamkeit gewesen.9 Wie dieses Missverständnis in die Welt gekommen ist, lässt sich gut an der Figur Michel de Montaignes ablesen. Zu seiner Zeit ein Mitglied der aufsteigenden Klasse des Verwaltungsadels, galt er anders als Bacon als eher gut gelaunter und fröhlicher Zeitgenosse. In seinem einflussreichen Versuch über die Einsamkeit (»De la solitude«) klingt die Erfahrung des Einsamseins daher auch in Dur an: Rückzug ins Gelehrtenzimmer, Gespräch mit den Toten, glückselige Ruhe im Selbst.10 Montaigne hatte einen großen Teil seines Lebens als politischer Beamter in den Dienst anderer gestellt. Am Ende seines Lebens blieb nun ein kleiner Rest - ein Endstück (»ce bout de vie«), das nur ihm gehörte.11 Die Einsamkeit versteht er als Privileg, das er sich durch die vielen weltlichen Dienste verdient hat. Das ist der Sound des standesgemäßen Vorrechts auf sozialen Rückzug und Unterbrechung sozialer Verpflichtungen - also jenes Ausdrucks der Steigerung persönlicher Autonomie, der bis heute in bildungsbürgerlichen Schichten in der Betonung der »positiven« Einsamkeit nachhallt. Durch die Deutung der Einsamkeit als Privileg bringt Montaigne das Selbstbewusstsein einer Klasse von professionellen Gelehrten zum Ausdruck, deren Wissen und Sachverstand für die sich allmählich bürokratisch rationalisierenden Staaten der Frühen Neuzeit zugleich gefährlich und unerlässlich war. Die »positive« Einsamkeit bestand also zunächst einmal in der Verweltlichung einer Praxis autonomer Vereinzelung, die in bestimmten Hinsichten der religiösen Muße ähnelte und deren Freuden durch den heiligen Ernst der Einsamkeit gerechtfertigt wurden. Eine »positive« Erfahrung in einem lustvollen Sinn wurde die Einsamkeit dadurch aber nicht. Ganz im Gegenteil: Die Gegenstände der Meditationen, die Montaigne für seinen Rückzug ins Gelehrtenzimmer wählt, machen überdeutlich, dass es sich auch hier - wie bei der christlichen Einsamkeit - nicht um ein Vergnügen, sondern um eine äußerst ernste Angelegenheit handelte. Der Rückzug ins Gelehrtenzimmer erlaubt es dem Gelehrten, sich auf die letzten Fragen zu besinnen und der Flüchtigkeit des Lebens der Menschen ins Auge zu blicken. Montaigne geht es um die eher ungemütliche Vorbereitung auf die Trennung von geliebten Menschen und den eigenen Tod, indem er im Rahmen...
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