Schweitzer Fachinformationen
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Mein Vater hat keine Bücher gelesen. Deshalb kann ich heute nicht genau sagen, wer er war. Er arbeitete als Messner in einer der vielen katholischen Kirchgemeinden unserer Stadt, und außer den Evangelien, in denen ich ihn vor dem Gottesdienst manchmal blättern sah, als würde er darüber nachdenken, wie viel er noch zu lesen habe, nahm mein Vater nie ein Buch zur Hand. Er hielt sich gern im Freien auf. Sein Fahrrad war ihm das Wichtigste, wichtiger als alles, was irgendwo geschrieben stand, wie er immer sagte, sein Ein und Alles. Es war gelb, hatte einen geschwungenen Lenker und einen Ledersattel mit quietschender Federung. Jeden Tag fuhr er damit zur Arbeit, zum Mittagessen kam er nach Hause, und am Nachmittag fuhr er pünktlich wieder los, auch bei Regen und Schnee. An den Samstagnachmittagen radelte er manchmal zum Fußballplatz am Waldrand und schaute meinem Bruder bei den Spielen zu, aber es kam auch vor, dass meine Mutter ihn bat, einmal etwas ohne das Fahrrad zu unternehmen. Dann spazierte er stumm neben uns im Wald oder an einem Fluss entlang, rauchte auf einer Bank seine Zigarre und starrte in die Landschaft hinaus. Er sprach wenig, und es war unsere Mutter, die auf diesen kurzen Ausflügen mit uns Kindern spielte und uns Geschichten erzählte.
Abends, bevor mein Vater um sieben noch einmal in die Kirche ging, um die Glocken einzuläuten, blätterte er manchmal in einer Sportzeitung, die er abonniert hatte, aber was er las, schien nie etwas mit unserer Welt zu tun zu haben, er zeigte beim Lesen keinerlei Regungen, und ich erfuhr nie, ob ihn das, was er aus der Zeitung erfuhr, freute oder verstimmte. Ich erträumte mir manchmal einen Vater wie Tilney oder Knightley. Aber im Grunde war mein wortkarger Vater ein freundlicher und schamhafter Mensch, der nichts Strenges an sich hatte, deshalb lösten sich diese Träumereien rasch in Luft auf. Wenn ich mich in späteren Jahren, mit vierzehn oder fünfzehn, bei meiner Großmutter beklagte, weil er noch immer nur das Nötigste mit mir sprach und auch meinen manchmal heftigen Gefühlsausbrüchen und weitschweifigen Erklärungen keine Aufmerksamkeit zu schenken schien, tröstete sie mich jeweils damit, das sei nur in der Meinung. Mein Vater, sagte sie zu mir, sei ein Verstummter, ich müsse Geduld haben mit ihm, eines Tages würde ich dafür belohnt werden. Ich wusste nicht, was sie damit meinte, aber ich merkte doch, dass eine Zuversicht in ihren Worten lag, die mich hoffen ließ, es verberge sich tatsächlich ein Geheimnis hinter den sparsamen Äußerungen des Vaters, das ich bloß noch nicht enthüllt hatte.
Ich liebte meine Großmutter, ich liebte ihren Duft nach Dachkammer und ihre langen weißen Haare, die sie tagsüber mit vielen Klammern hochsteckte und abends vor dem Schlafengehen entfaltete und minutenlang vor dem Spiegel kämmte. Ich liebte ihren runden Körper und die schlaffe Haut an ihren Armen. Ich liebte ihr Frühstück, denn auch für uns Kinder gab es warmen Milchkaffee und gezuckerten Riebel zum Eintunken. Ich liebte es, wenn sie mit mir einen Spaziergang unternahm und mir dabei die Namen der Blumen und Sträucher am Wegrand aufsagte. Das ist der Ehrenpreis, das die Klatschnelke und dort der Storchenschnabel, und dann schaute ich auf die blauen und weißen Wesen hinab und fragte mich, was sie denn so bedeutungsvoll machte. Meine Großmutter schien eine ganz persönliche Beziehung zu den Blumen zu haben und konnte sich sogar darüber ärgern, wenn sie nicht in ganzer Pracht blühten oder wenn sie an einer Stelle, an der sie sie vermutet hatte, plötzlich nicht mehr zu finden waren. Diese bösen Schlüsselblumen, schimpfte sie dann, wohin sind die nun wieder verschwunden! Diese unartigen Stiefmütterchen, im letzten Jahr blühten sie doch viel voller! Von den verschiedenen Arten von Schneeglöckchen waren ihr die gefüllten am nächsten, alle anderen bezeichnete sie als gemein, was mir zwar spaßig, gleichzeitig aber etwas gespenstisch vorkam. Wie die Zauberin aus Rapunzel, dachte ich dann.
Ich verbrachte viel Zeit bei meiner Großmutter. Sie wohnte in einem Haus mit großem Garten etwas außerhalb des Dorfes auf einem Hügel, von wo aus man einen Blick auf den See bis zur Stadt und in der anderen Richtung auf die Flussebene und die Alpen hatte. Wenn ich bei ihr zu Besuch war, hatte ich das Gefühl, in einer anderen Zeit zu leben. Zuhause gab es breite Straßen und viele andere Menschen; unsere Wohnung hatte Zentralheizung, einen elektrischen Herd, Bad und Toilette mit Wasserspülung. Vom Garten meiner Großmutter aus konnte man den Ort, an dem ich wohnte, am Horizont sehen, mit dem Zug fuhr man bloß eine halbe Stunde von der Stadt bis zu ihrem Dorf, und doch eröffnete sich bei ihr eine ganz andere, alte Welt: Meine Großmutter versorgte sich weitgehend selbst, bis auf das Salz, das Mehl und den Zucker wurde nichts gekauft, sondern allenfalls mit den Nachbarn getauscht. Das Klo war in der Tenne, die ans Haus grenzte, und bestand aus einem Brett mit einem großen Loch, das mit einem schweren Holzdeckel versehen war; als Klopapier schnitt meine Großmutter Streifen aus alten Zeitungen. Als ich lesen konnte, bemerkte ich, dass ich die zerschnittenen Fragmente nebeneinanderlegen konnte und sich daraus eine Geschichte ergab. Zum Anfeuern wurde ebenfalls Papier benutzt, gekocht wurde auf einem Herd mit Feuer, und waschen musste man sich kalt, in der Küche am einzigen Wasserbecken des Hauses. Es gab einen Gemüsegarten, ein paar Hühner und einen Keller mit Kartoffeln und Äpfeln. Es gab eine Speisekammer voll unzähliger Gläser mit Eingemachtem. In den Schlafzimmern im oberen Stock unter dem Dach, wo ich mein Bett hatte, roch es nach Sonne, Stroh und manchmal nach gedörrten Bohnen. Im Sommer war es dort oben unerträglich heiß und im Winter unerträglich kalt. Meine Großmutter schlief unten, in einer kleinen Kammer neben der Küche, in einem schmalen Bett.
Der Großvater war, genau wie der andere Großvater, der Vater meines Vaters, wenige Tage vor meiner Geburt gestorben; meine Mutter konnte nicht zu den Beerdigungen gehen, weil sie, wie sie mir, als ich größer war, ohne jeden Vorwurf erzählte, die Wochen vor meiner Geburt im Bett habe verbringen müssen. Meine beiden Großväter waren immer genauso lange tot, wie ich auf der Welt war, und wenn ich von irgendjemandem gefragt wurde, wie alt ich war, dann fügte meine Mutter oder mein Vater oder sogar mein Bruder einer Antwort von mir immer noch schnell den Satz hinzu: So lange ist Großvater schon tot. Der eine Großvater war in einer Wirtschaft vor den Augen mehrerer anderer Menschen, die sich ebenfalls in der Wirtschaft aufhielten, an einem Croissant erstickt. Angeblich hatte er unter einer schweren Schluckstörung gelitten. Der andere Großvater war an einem Herzinfarkt gestorben, nachts in seinem Bett.
In der Familie wurde nie über den einen Großvater, den Vater meiner Mutter, gesprochen, und in dem Haus, das Großmutter, seit ich mich erinnern kann, zusammen mit ihrem Bruder bewohnte, gab es kein Bild und keinen Gegenstand, der an ihn erinnert hätte. Wenn ich meine Mutter oder meine Großmutter nach Großvater ausfragte, sagten sie beide, er sei kein schlechter Mensch gewesen, und der Tonfall, in dem sie dies sagten, schien mir vorzuwerfen, ich hätte das Gegenteil behauptet.
Auch meine Mutter las keine Bücher, aber sie las Geschichten im Gelben Heft und in Zeitschriften, die sie von Freundinnen oder Nachbarinnen wegen der Strickmuster darin ausgeliehen hatte. Ganz anders als der Vater verwandelte sich die Mutter, wenn sie las. Sie las die Geschichten in den Heftchen so, als hätte sie der Autor speziell für sie geschrieben und dort hinterlassen, wo meine Mutter sie erreichen konnte. Sie nahm das, was sie las, wörtlich und persönlich und verglich, wenn sie sich dazu äußerte, das Gelesene immer mit ihrem eigenen Leben. Aber so bin ich doch nicht!, hörte ich sie manchmal ausrufen. Das würde ich nie tun! Oder sie sagte: Das ist gut verdient! Was will ich denn noch mehr! Erst viel später, als ich selbst eine Leserin war, las sie manchmal hinter mir her, aber sie nahm nur solche Bücher von mir zur Hand, von denen sie sicher sein konnte, dass sie nichts Ausgedachtes waren. Sie teilte nie mit, was ihr an einem Buch aufgefallen war, aber über die Geschichten im Gelben Heft äußerte sie sich hin und wieder. Auf diese Weise erfuhr ich etwas über sie, wenn ich die Geschichten hinter ihr herlas. Ich erinnere mich, wie ich versuchte, aus dem Hinterhergelesenen und ihren Erinnerungsbruchstücken, die ihr zu dem Gelesenen einfielen, ihre Vergangenheit nachzuzeichnen, aber das Leben, das ich mir auf diese Weise erriet, war mir unheimlich, es machte mir Angst. Meine Mutter lachte häufig, und häufig lachte sie sehr laut, zum Beispiel, wenn sie mit mir oder meinen Geschwistern in ein Spiel vertieft war. Aber in ihrem erinnerten Leben gab es nichts, was sie zum Lachen brachte, und so war ich im Grunde froh, wenn ich sie nicht lesen, sondern irgendeine Arbeit verrichten sah.
Meine Eltern lasen nicht nur keine Bücher, sie sagten auch nie etwas gewollt Bedeutungsvolles. Mein Vater verstieg sich höchstens in eine Übertreibung, und meine Mutter war mit Sprichwörtern und kleinen Liedern über Liebe, Leid und Waldesrauschen zufrieden. Sie logen oder schwindelten nie, um ihre Geltung in den Augen anderer Leute zu vergrößern oder überhaupt nur einzubringen, und sie behaupteten auch nie Dinge, die sie im nächsten Augenblick widerriefen. Wir Kinder konnten immer davon ausgehen, dass das, was sie sagten, auch so gemeint war, und wurden selten vor die Aufgabe gestellt, zwei unterschiedliche Darstellungen miteinander zu vereinen. Ironische Bemerkungen waren ihnen beiden fremd. Und wenn sie bei anderen Leuten...
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