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Sankt Vigilius, 30. März 1407
Der Sonnenstrahl traf sein gesundes Auge, Oswald sah nichts mehr. Langsam öffnete er das geschlossene Lid und erblickte vor sich das tiefschwarze Gebäude des turmlosen Kirchleins Sankt Vigilius, über dem ihn hell die Frühlingssonne anlachte. Ihre Strahlen hatten ihn geblendet, als er aus dem Schatten des Waldes trat.
Oswald entließ den Atem, den er kurz angehalten hatte, und merkte erst jetzt, dass seine Hand den Schwertgriff umklammert hielt. Grimmig schüttelte er den Kopf. Er war halt Kämpfer und Ritter, und wenn er so voll des Zornes war wie heute Morgen . Leonhard von Lebenberg! Die Arroganz dieses Ritters hatte ihn wirklich wütend gemacht; beinahe hätten sie die Schwerter gekreuzt!
Diesen Zorn wollte er hier loswerden, in der Ruhe der Kapelle, im Gebet an die Jungfrau Maria, ehe er weiter nach Bozen zu seinen Bundesbrüdern vom Falkenbund reisen und ihnen von seinem Scheitern berichten würde. Jähzorn war nicht nur eine Todsünde, der er sich nicht selten schuldig gemacht hatte; seine Wut und sein Zorn hatten ihm schon oft Schwierigkeiten beschert. In den letzten Jahren hatte er zwei Wege gefunden, sich seiner Wut zu entledigen: das Gebet und die Musik. Beide würde er hier und jetzt beschreiten.
Kurz vor dem Eingang der kleinen Kirche lag der Steinblock, der Oswald wie immer eine willkommene Sitzgelegenheit bot. Der Aufstieg zum Vigiljoch war jedes Mal anstrengend. Die Kapelle würde er erst betreten, wenn er sich angemessen beruhigt hatte. Das Gotteshaus war Sankt Petrus und Sankt Vigilius geweiht, aber in den wunderbaren Fresken hatte er die Muttergottes entdeckt, in einer Kreuzigungsgruppe an der Nordwand. Maria stand ihm schon immer viel näher als der Herrgott oder dessen Sohn.
Oswald legte das Schwert neben dem Stein nieder, zog aus einer Innentasche seines Wamses die Flauto dolce und entfernte die lederne Hülle. Wie immer, ehe er sie spielte, betrachtete er sie einen Augenblick andächtig. Geschnitzt aus spanischem Buchsbaum war sie neben seinem Schwert sein wertvollster persönlicher Besitz. Er wärmte das Instrumentum ein wenig in den Händen, dann setzte er die gut armlange Blockflöte an den Mund. Bei seinem musikalischen Ritual zur Beruhigung spielte er stets als erstes die Ballata Questa fanciulla amor, langsam und gefühlvoll. Er erinnerte sich daran, wie er sie von Francesco Landini gelernt hatte.
Der blinde Kaplan von San Lorenzo war schon über siebzig Jahre alt, als er ihn vor zehn Jahren in Florenz hatte spielen hören dürfen; er beherrschte alle seine Instrumenta noch meisterlich und sein Gesang klang makellos. Das Orgelspiel des alten Mannes entzückte Gelehrte, Adelige, mächtige Kaufleute und das gemeine Volk gleichermaßen - ganz besonders, wenn Landini auf seinem kleinen Portativ spielte. Dass eine solche Knieorgel, ein Organetto, für ihn selbst nicht das richtige Instrumentum wäre, hatte Oswald schnell eingesehen. Nicht umsonst waren die Portativer die angesehensten und am besten bezahlten Instrumentalisten. Orgelspielen war eine Kunst, die zu beherrschen lange Zeit des Lernens und des Übens erforderte. Er würde sich wohl eher für eine Harfe oder eine Fidel zur Begleitung seines Gesanges entscheiden. Beides aber lag weit jenseits seiner finanziellen Möglichkeiten - und die Harfe zu schlagen oder die Fidel zu streichen über die einfachen Grundlagen hinaus, die er bereits beherrschte, musste er erst noch lernen.
Immerhin hatte er die Flauto dolce aus Florenz mitgebracht und die spielte er ganz passabel. Er hatte Landini so oft wie möglich gelauscht, viel von dem Komponisten über moderne Mehrstimmigkeit gelernt und sich einige Stücke des berühmten Musicus eingeprägt und notiert.
Oswald musste lächeln, während er spielte. Es war die Umkehrung eines alten Sprichwortes gewesen: Nicht der Einäugige war König unter den Blinden; der Blinde war dem Einäugigen in jeder Hinsicht weit überlegen und ein hervorragender Lehrmeister. Zu Oswalds bei seinen Standesgenossen beliebtesten Liedern gehörte »Weiß, rot und braun durchglänzt«, in dem er die Vorzüge eines Frauenleibes pries - eine auf zwei Stimmen reduzierte Kontrafaktur von Landinis Balata »Questa fanciulla amor«, bei der es ja auch um die Liebe ging: Questa fanciulla Amor fallami pia Che m'a ferito 'l cor nella tuo via - Dieses Mädchen, Amor, sei mir gewogen, denn durch deine Schliche hat sie mein Herz verletzt.
Oswald schloss den ersten Teil seines Beruhigungsrituals ab. Welche Melodie er nach der Ballata spielte, hing immer von seiner Stimmung ab; meistens eine, die er erst kurz zuvor verfasst hatte, heute ein ruhiges Lied, das er vor einigen Monaten geschrieben hatte. Sein Zorn schwelte immer noch, nun wollte er ihn bekämpfen, indem er sich die Ereignisse von gestern ruhigen Blutes vor sein inneres Auge rief.
Der Lebenberger hatte ihn wirklich wütend gemacht. Er war halt nur dem Namen nach ein Ritter! Am gestrigen Tag hatte er sich ausgesprochen unflätig über zahlreiche Tiroler Adelige geäußert, auch über Oswald von Wolkenstein und dessen Brüder Michael und Leonhard. Sie hatten doch wahrhaftig die Schwerter gezogen. Aber statt zu kämpfen, hatten sie sich besoffen.
Als Oswald für einen Augenblick die rechte Hand nicht zum Spielen brauchte, berührte er den silbernen Elefanten, den er über dem Herzen ans Wams geheftet trug: das Abzeichen des Elefantenbundes. Einundzwanzig Tiroler Adelige hatten sich im letzten August zum Schutz ihrer Standesrechte zusammengeschlossen; Leonhard von Lebenberg war nicht dabei gewesen. Vor gut einer Woche hatte sich der Bund aufgelöst, vorgestern, am Ostermontag, hatten stattdessen über hundertzwanzig Ritter, Adelige und Stadtherren den Falkenbund gegründet, darunter Oswald und seine beiden Brüder.
Dieser 28. März des Jahres 1407 sollte den Tiroler Adeligen endlich die Macht und Kraft verleihen, um gegen den Tiroler Landesfürsten, gegen Herzog Friedrich IV., bestehen zu können, doch dazu brauchten sie möglichst viele Verbündete.
Oswald hatte die Aufgabe übernommen, den Ritter Leonhard von Lebenberg vom Beitritt zu überzeugen. Dafür hatte er zwei Tage auf dessen Burg Lebenberg verbracht, herrlich gelegen über Tscherms, nahe Meran und bekannt für seine Weinberge, auf denen besonders süße Trauben wuchsen. Oswald hatte gut gegessen und getrunken, aber für den Falkenbund hatte er den Burgherrn nicht gewonnen.
Oswald grinste. Die zwei Tage waren der Erinnerung wert. Zunächst hatten Oswald und Ritter Leonhard sich ganz gut verstanden. Der Lebenberger hatte seinem Gast ein paar lustige Begebenheiten aus seiner Jugend erzählt, die er gemeinsam mit Oswalds Vater erlebt hatte. Dabei wies er immer wieder und zunehmend deutlicher darauf hin, dass er die neuen Zeiten gar nicht schätze. Für einen echten Ritter gehöre es sich, seinem Lehnsherrn treu zu sein.
»Ich finde es falsch, dass sich Adelige zu Bünden zusammenschließen, um sich gegen ihren Landesherren zu schützen oder gar wider ihn zu streiten.«
Oswald widersprach: »Zum Falkenbund gehören über einhundert Edelleute, die können nicht alle im Unrecht sein. Dazu gehören einige der edelsten und wichtigsten Ritter des Landes. Peter von Spaur, einer unserer Hauptleute, ist älter als Ihr und Landeshauptmann an der Etsch, was Ihr ja auch schon mal wart. Wollt Ihr sagen, der Hauptmann des Bistums Trient habe nur Fisimatenten im Kopf? Oder Graf Heinrich von Rottenburg, der Burggraf auf Schloss Tirol? Seid Ihr nicht eher zu sehr der alten Zeit verbunden?«
Das Gespräch war immer hitziger geworden, am Ende des ersten Tages trennten sich Oswald und Leonhard im Streit. Am nächsten Morgen brachten sie ihre Argumente immer heftiger vor. Um die Mittagszeit waren beide Ritter so erregt, dass der Lebenberger sein Schwert zog und Oswald zurief: »Du Gimpel, du unerfahrener Grünling! Mir willst du etwas beibringen? Ich zeige dir, wo die Erfahrung haust.«
Oswald zögerte keinen Augenblick, zog ebenfalls sein Schwert und nahm Kampfstellung ein. Nur etwa zwei Schritte trennten die Ritter. Er hatte keine Angst, aber einen Kampf mit dem erfahrenen Recken würde er lieber vermeiden.
In diesem Augenblick trat der Mundschenk des Lebenbergers furchtlos zwischen die beiden Männer und reichte jedem einen Kelch mit Wein. »Bitte, Ihr Herren!«, sprach er mit erhobener Stimme. »Gedenkt der Freundschaft eurer Familien. Hier geht es nur um Staatsangelegenheiten. Das sollte doch nicht zwischen zwei edlen Rittern stehen. Wollt Ihr dem Landesherrn die Freude gönnen, dass sich seine Widersacher selbst bekämpfen? Wollt ihr wegen Nichtigkeiten das Gastrecht brechen?«
Oswald und Leonhard ließen betroffen die Schwerter sinken, nahmen die Kelche und prosteten sich zu. Das war der Beginn eines wahnwitzigen Besäufnisses, an dessen Ende sich Oswald nicht erinnerte. Die Wut auf den Lebenberger hatte das nicht gemildert, und sie hatte Oswald bis hier hinauf begleitet. Der alte Leonhard war wirklich ein sturer Kopf. Wenn er es recht bedachte, war der Lebenberger nur dem Namen nach ein Ritter.
Bei diesem Gedanken stellte Oswald fest, dass sein Zorn verraucht war. Wie schön! Es war Zeit für einen Gesang. Er setzte die Flöte ab - leider konnte er nicht gleichzeitig singen und darauf spielen.
Das ist einer von drei Nachteilen, die mich an meiner Flöte stören, dachte er. Außerdem sind alle Flöten für jeweils einen bestimmten Grundton gefertigt. In den Städten und an den Fürstenhöfen gibt es meistens leider unterschiedliche Orgeltöne. So muss ein Flötenspieler verschiedene Flöten mit sich führen oder in der Lage...
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