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Der erste europäische Regierungschef, der den Begriff «illiberale Demokratie» für sich reklamierte, war der ungarische Premierminister Viktor Orbán. In seiner jährlichen Sommeransprache erklärte er am 26. Juli 2014, Ungarn sei unter seiner Führung ein «illiberaler, nicht-liberaler» Staat geworden und grenze sich damit klar von den anderen EU-Ländern ab. Wer dabei sofort an Diktatur oder gar Faschismus denke, liege jedoch falsch: Die Demokratie werde in Ungarn durch den illiberalen Staat nicht eingeschränkt, sondern im Gegenteil sogar gestärkt. «Nur weil ein Staat nicht liberal ist, bedeutet das nicht, dass er keine Demokratie sein kann», so Orbán.[1]
Die Rede trug maßgeblich dazu bei, dass der Begriff der «illiberalen Demokratie» bis heute allgegenwärtig ist. Während Kritiker ihn als Euphemismus für den Abbau demokratischer Strukturen betrachten, sehen Befürworter darin eine neue, volksnahe Regierungsform, die verkrustete Strukturen aufbricht. Fest steht, dass Orbán mit seiner Rede mehr Fragen aufwarf, als er beantwortete. Die wichtigste davon lautet: Kann es eine Demokratie ohne Liberalismus geben? Oder ist die Vorstellung einer «illiberalen Demokratie» nicht ein Widerspruch in sich?
Für sogenannte Populisten, zu denen auch Orbán zählt, ist die Unterscheidung zwischen Demokratie und Liberalismus ein zentraler Bestandteil in ihrem politischen Denken. Ihrer Ansicht nach stehen liberale Rechte und liberale Institutionen dem angeblichen Volkswillen im Weg und müssen daher geschwächt werden. Ihr Plan beinhaltet die Aushöhlung aller Prozesse und Instanzen, die die Macht der Exekutive beschränken, sodass die «liberalen Eliten» die Durchsetzung des Volkswillens nicht mehr behindern können. Der Widerspruch in diesem Ansatz ist, dass sich ein authentischer Volkswille ohne liberale Rechte und Institutionen gar nicht bilden kann und - mehr noch - dass gerade liberale Institutionen den gesellschaftlichen Pluralismus schützen, durch den er zum Ausdruck kommt.
Demokratietheoretisch bewegen sich Populisten deshalb auf dünnem Eis: Kritik an einem - wie auch immer definierten - liberalen «Establishment» oder «den Eliten» ist völlig normal, legitim und vielleicht sogar notwendig, doch wenn dem gesamten System dadurch sein (liberales) Fundament entzogen wird, gerät nicht nur der Liberalismus ins Wanken - sondern auch die Demokratie.
Populismus gehört zu den am häufigsten verwendeten, aber oftmals unscharf definierten Begriffen im aktuellen politischen Diskurs. Seine Wurzeln reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück, mit frühen Vertretern wie der «People's Party» in den USA, die sich gegen wirtschaftliche Eliten und Banken stellte. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich in Lateinamerika ähnliche Bewegungen, und ab der zweiten Hälfte gewann der Populismus dann auch in Europa an Bedeutung, vor allem mit dem Aufstieg rechtspopulistischer Parteien. Seit den 2000er Jahren sind Populisten in allen Kulturen und auf allen Kontinenten zu finden. Was sie verbindet, ist keine fixe Weltanschauung und kein bestimmtes politisches Programm, sondern die Erzählung von einem scheinbar unüberbrückbaren Gegensatz zwischen dem «wahren Volk» und den vermeintlich korrupten, abgehobenen Eliten.[2]
Doch wer genau sind diese Eliten? Die Definition ist oft unklar und kann je nach Thema und politischer Ausrichtung variieren. Manchmal ist sie so weit gefasst, dass daraus regelrechte Verschwörungstheorien entstehen (siehe Kapitel 3). In erster Linie bezieht sich der Begriff jedoch meist auf politische und wirtschaftliche Eliten, die objektiv mächtige Positionen besetzen, also Politiker, Finanz- und Wirtschaftsbosse. Hinzu kommen administrative Eliten wie zum Beispiel hochrangige Beamte und Richter (die den sogenannten Deep State verkörpern) sowie - je nach Kontext - Journalisten, Wissenschaftler und Experten. Bei Rechtspopulisten stehen außerdem kulturelle Aspekte im Fokus: Als Eliten gelten dann nicht nur Personen mit tatsächlicher Macht, sondern alle, die den «progressiven Zeitgeist» verkörpern, wie etwa Vertreter von NGOs, Künstler, Lehrer, Aktivisten, linke Christen und andere vermeintliche «Gutmenschen» (siehe Kapitel 2). Aus populistischer Perspektive haben all diese Gruppen jegliche Verbindung zu den Wünschen und Bedürfnissen der breiten Bevölkerung verloren: Sie leben angeblich in ihrer eigenen Welt, verfolgen eigennützige, oftmals verdeckte Interessen und betreiben ideologische Projekte, die mit der Lebensrealität der meisten Menschen nichts zu tun haben. Nach Ansicht des amerikanischen Populismusbefürworters Christopher Lasch sind sie «wie eine Aristokratie - aber ohne deren Tugenden».[3]
Und das Volk? Für Populisten zeigt sich der Volkswille nicht unbedingt in Wahlergebnissen oder Mehrheiten am Wahltag. (Sonst müssten sie ja, gemessen am eigenen Anspruch, viel erfolgreicher sein.) Stattdessen berufen sie sich auf eine Idee, die der Philosoph Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert als «allgemeinen Willen» (volonté générale) bezeichnete - eine Art unausgesprochener Konsens, der jedem Volk innewohne. Der amerikanische Präsident Richard Nixon artikulierte zweihundert Jahre später eine ähnliche Idee, als er von der «schweigenden Mehrheit» sprach - einer Gruppe, die in der öffentlichen Debatte kaum wahrnehmbar sei, aber dennoch die Mehrheitsmeinung vertrete. In beiden Fällen wird suggeriert, dass es eine Volksmeinung gibt, die von der «herrschenden Klasse» verschwiegen wird. Populisten inszenieren sich als Sprachrohr dieser imaginären Meinung und behaupten, sie allein würden die «wahren» Interessen der Bevölkerung repräsentieren.[4]
Die Erfolgschancen dieser Art von Ansprache sind in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen. Einer der Gründe ist, dass der Handlungsspielraum nationaler Regierungen durch Globalisierung und internationale Institutionen immer enger geworden ist. In zahlreichen Politikfeldern, wie etwa Währungs-, Handels- oder Migrationspolitik, ist die Souveränität vieler Staaten mittlerweile stark eingeschränkt, und etablierte Parteien haben darauf bislang keine überzeugende Antwort gefunden: Entweder sie betreiben «asymmetrische Demobilisierung» und erklären, dass es keine Alternativen zum bestehenden Kurs gebe. Oder sie versuchen, es den Populisten gleichzutun, indem sie wider besseres Wissen behaupten, sie könnten sämtliche Probleme im Handumdrehen lösen. Beide Szenarien spielen letztlich den Populisten in die Hände.
Hinzu kommen die zahlreichen Krisen. Von der Eurokrise und der «Flüchtlingswelle» über die Corona-Pandemie bis hin zu Russlands Überfall auf die Ukraine: Innen- und außenpolitische Schocks haben vielerorts Ängste und Verunsicherungen ausgelöst, die von Populisten gezielt aufgegriffen, verstärkt und für ihre Zwecke instrumentalisiert wurden - oftmals mit simplen Erklärungen wie «Die korrupten Eliten sind schuld!». Außerdem sind neue Interessengruppen entstanden, die im bestehenden politischen System entweder noch nicht oder nicht mehr ausreichend vertreten sind. Die Kombination aus Besitzstandswahrung und institutioneller Trägheit hat so ein politisches Vakuum geschaffen, das Populisten nutzen, um sich als Stimme der «Vergessenen» zu positionieren.
Ein weiterer Faktor ist das, was der Politikwissenschaftler Ronald Inglehart als «kognitive Mobilisierung» beschreibt.[5] Damit ist gemeint, dass Bevölkerungen heute mehr Zugang zu Informationen haben und kritischer sind als früher - mit der Folge, dass Autoritätspersonen wie Politiker oder Experten weniger Vertrauen genießen. Besonders wichtig ist dabei das Internet, das angeblich demokratischste Medium aller Zeiten. Es hat traditionelle «Gatekeeper» wie etwa Journalisten entmachtet und den Zugang zu Informationen massiv erleichtert. Dadurch können sich Menschen direkt mithilfe von sogenannten alternativen Medien informieren, die oftmals die Narrative der Populisten unterstützen. Gleichzeitig verstärken besonders die sozialen Medien Empörungsspiralen und begünstigen die populistische Rhetorik, wodurch ihre Botschaft noch mehr Reichweite und Wirkung erhält.[6] Populismus steht also nicht notwendigerweise im Widerspruch zu demokratischen Prozessen wie etwa Wahlen oder freien Medien: Er wäre ohne sie gar nicht vorstellbar.
Und tatsächlich: Kaum ein Populist versteht sich selbst als Antidemokrat. Im Gegenteil, fast alle halten Demokratie für wichtig und erstrebenswert, sind jedoch der Überzeugung, dass sie in ihrer aktuellen Form «defekt» ist. Eine «echte» Demokratie kann es aus ihrer Sicht nur dann geben, wenn die Eliten ausgeschaltet sind und eine mächtige Exekutive den «ungefilterten» Volkswillen umsetzt.
Die Logik hinter dieser Position ist einfach. Populisten beziehen sich auf die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Demokratie, der aus dem Altgriechischen stammt und sich aus den Worten demos (Volk) und kratos (Macht, Herrschaft) zusammensetzt. Ihrer Interpretation nach heißt Demokratie also nichts anderes als ungefilterte Volksherrschaft, was bedeutet, dass alles...
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