Schweitzer Fachinformationen
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Eins
Batavia, Java
Vor dem Salon strich ich das blaue Gewand glatt, das Frau Leuven mich gezwungen hatte anzuziehen. Viel lieber hätte ich meinen schlichten Rock und mein braunes Leibchen getragen und Anna und den anderen Mädchen bei der Zubereitung des Frühstücks geholfen. Der Anblick der schweren Eichentür erfüllte mich mit Furcht, aber ich wusste, dass ich hineingehen musste. Mit meinen siebzehn Jahren hielt man mich für bereit.
Vom oberen Fenster aus hatte ich beobachtet, wie andere Mädchen diesen Moment bewältigten, wenn Männer ins Waisenhaus kamen, um sich eine Braut auszusuchen. »Die niederländischen Herren von der Verenigde Oost-Indische Compagnie brauchen anständige niederländische Ehefrauen«, hatte Frau Leuven mir sechs Monate zuvor mitgeteilt, als ich von Amsterdam nach Batavia gekommen war. Und nun war ich an der Reihe. Ich legte die Hand auf die Klinke, holte tief Luft und öffnete die Tür.
Ich hatte erwartet, einen Raum voller Männer mit schwarzen Hüten - Zimmerleute und Schmiede - zu betreten, an deren Schuhen der Schmutz der Welt haftete und deren Augen lüstern leuchteten. Doch im Salon sah ich zu meiner Überraschung nur einen einzigen Herrn. Er stand am Kamin, Frau Leuven neben ihm. Er wirkte alt, wie mindestens fünfzig. Die Ränder seines weißes Spitzenkragens waren ausgefranst, und trotz der Hitze trug er eine schwarze, bis obenhin zugeknöpfte Jacke.
Bei meinem Anblick verzog er den Mund, als hätte er saure Milch getrunken. Frau Leuven flüsterte ihm etwas zu. Er musterte mich und nickte.
»Komm her, Mädchen«, forderte er mich auf.
Ich rührte mich nicht von der Stelle. Alles war ganz anders als erwartet. Wo waren die anderen Männer? Den Gesprächen der älteren Mädchen hatte ich entnommen, dass ich zwischen mindestens zwei oder drei Herren würde wählen können.
Am Vorabend hatte ich Anna versprochen, mich für einen freundlichen Mann zu entscheiden. Wie Anna und die anderen litt ich Tag für Tag unter der Abwesenheit von Mutter und Vater. Es war, als befände sich ein kleines Schlüsselloch in meiner Brust, durch das kalter Wind hereinblies. In der Ehe hoffte ich, jemanden zu finden, der in der Lage wäre, diese Wunde zu schließen, jemanden, mit dem ich vielleicht eine eigene Familie gründen könnte.
Doch zu meiner Bestürzung war da nur dieser eine abstoßende Mann. Er trat auf mich zu, stellte sich vors Fenster, legte die Hand um mein Kinn. Seine Finger waren schwielig. Als mir der Geruch von Schweiß und Wein und fettigen Haaren in die Nase stieg, wich ich unwillkürlich zurück.
»Mach den Mund auf«, wies er mich mit stinkendem Atem an.
Frau Leuven stand mit verschränkten Armen dabei, ihr silbernes Kruzifix schimmerte im Licht der Sonne. Sie nickte mir voller Ungeduld zu. Ich tat, wie mir geheißen, und schluckte, während er meine Zähne zählte.
»Sie scheint gesund zu sein«, meinte er und ließ mein Kinn los, das schmerzte, weil er es so fest gepackt hatte.
»O ja, Heer Vos«, bestätigte Frau Leuven. »Marta gehört zu unseren robusteren Mädchen. Das Klima scheint ihre Arbeitsfähigkeit nicht zu beeinflussen.«
Sein Blick wanderte über meinen Körper.
Über das, was Männer wollten, wusste ich nur wenig. Als Anna Fragen über die Ehe stellte, hatte die Köchin lachend mithilfe ihres Fingers und des weichen Brotteigs, den wir gerade kneteten, demonstriert, was wir zu erwarten hatten. Bei der Vorstellung, dass Heer Vos das mit mir machen würde, wurde mir übel. Er kratzte sich am Bart. Am liebsten hätte ich mich sofort gewaschen.
»Kann sie Buchstaben und Zahlen schreiben, kochen und putzen?«, erkundigte er sich.
»Ja, und ich selbst habe ihr beigebracht, das Virginal zu spielen. Aber für noch wichtiger halte ich, wie ich Euch in meinem Brief mitgeteilt habe, ihre Verbindungen.«
Ich sah Frau Leuven an. Verbindungen? Soweit ich wusste, besaß ich keinerlei Familie oder Kontakte. Man hatte mich gleich nach der Geburt ausgesetzt, und ich war als Mündel der Vereinigten Niederlande in Amsterdam aufgewachsen.
»Genau das hat mich veranlasst hierherzukommen«, sagte Heer Vos. »Ihr habt Virginal-Noten erwähnt, die sie mit einer bekannten Familie in Verbindung bringen.«
»Ja. Das Manuskript lag zwischen ihren Wickeltüchern«, bestätigte Frau Leuven.
Ich schaute sie verblüfft an. Zum ersten Mal hörte ich etwas von einem Manuskript oder einer Familie. Mein Herz schlug schneller.
»Natürlich muss ich es zuerst sehen, bevor wir weiterverhandeln«, erklärte Heer Vos.
»Gleich.«
Frau Leuven griff in die Falten ihres schwarzen Gewands und holte einen großen Eisenschlüssel heraus, der mittels eines Bands an ihrem Gürtel befestigt war. Damit öffnete sie eine Schublade in dem Mahagonischrank beim Kamin und nahm ein gebundenes Manuskript, nicht dicker als eine Glasscheibe, heraus.
Sie reichte es Heer Vos. Am liebsten hätte ich es ihm aus der Hand gerissen, doch ich musste danebenstehen, während er die Seiten überflog.
»Wusstest du von diesen Noten?«, fragte Heer Vos mich.
»Nein, Herr«, antwortete ich.
»Wir erlauben unseren Waisen, Kacheln und andere Dinge zu behalten, die keinen Hinweis auf ihre Herkunft geben«, erläuterte Frau Leuven, »aber ein Manuskript wie dieses erachten wir als gefährlich. Wir wollen nicht, dass die Mädchen sich einbilden, etwas Besseres zu sein.«
Heer Vos klappte die Noten zu und hielt sie mir hin. Ich trat einen Schritt näher. Um sie zu nehmen, musste ich seine Finger berühren. Er lächelte; dabei kamen seine gelben Zähne zum Vorschein.
Als ich die Noten aufschlug, fiel mein Blick auf mehrere per Hand für Virginal transkribierte Musikstücke. Ich wandte mich dem Vorsatzblatt zu. Der Eigentümer des Manuskripts hatte es mit einem Namen und einem Datum versehen. In schwarzen Buchstaben stand dort: Susanne van Soldt. 1599. Mein Herz setzte einen Schlag aus. Wer war Susanne? Und wie waren die Noten in meinen Besitz gelangt?
»Natürlich erhoffe ich mir aufgrund dieser Verbindung eine nennenswerte Spende für das Waisenhaus«, meinte Frau Leuven.
»Warten wir's ab«, entgegnete Heer Vos und nickte mir zu. »Spiel das erste Stück aus dem Manuskript, die >Brande Champajne<. Wollen doch mal sehen, ob du das Instrument wirklich so gut beherrschst, wie Frau Leuven behauptet.«
Frau Leuven schob mich zu dem Virginal in der Ecke, das von außen wie ein einfacher rechteckiger Holzkasten ausschaute. Als sie den Deckel öffnete, kam ein lebhaftes Innenleben zum Vorschein. Aufs Holz geklebtes Schmuckpapier zeigte eine Waldszene, und die Tasten glänzten. Ich setzte mich auf den Hocker, schlug die Noten auf und begann zu spielen. Weil meine Finger in dem überheizten Raum feucht waren und ich meine Künste unter dem aufmerksamen Blick der beiden vorführen musste, geriet ich ins Stocken.
»Ich habe genug gesehen und gehört«, verkündete Heer Vos, als ich mit dem Stück fertig war, und schloss den Deckel des Virginals mit einem Knall. »Wenn Ihr mir das Manuskript gebt, nehme ich sie.«
»Sehr wohl, mein Herr. Ich veranlasse sofort alles Nötige.«
Ich erhob mich entrüstet; der Hocker scharrte über die Bodenfliesen.
»Ich kann Heer Vos nicht heiraten«, erklärte ich mit bebender Stimme.
»Halt den Mund, Mädchen. Du verbringst dein Leben doch sicher lieber als Gattin eines bekannten Kaufmanns denn als Dienstmädchen«, erwiderte Frau Leuven in drohendem Tonfall. »Wie schnell wollt Ihr sie heiraten, Heer Vos?«
»Mir wäre es recht, wenn die Trauung in zwei Tagen stattfinden könnte. In den kommenden Wochen bin ich sehr beschäftigt.«
»Gut«, meinte Frau Leuven.
Nein, ich würde lieber ein Leben als Dienstmädchen führen, als diesen widerwärtigen Mann zu ehelichen. Also zwang ich mich, noch einmal den Mund aufzumachen.
»Ich werde ihn nicht heiraten.« Meine Stimme hallte in dem karg möblierten Raum wider.
Das Gesicht von Frau Leuven erstarrte, ihr glattes Lächeln wirkte verbittert. Sie packte mich an den Haaren und zerrte mich hinaus auf den Flur.
»Du undankbares Ding«, schrie sie mich an. »Du wirst deine Lektion noch lernen.«
Sie zog mich den Gang entlang und über den Hof zur Kapelle. Dort öffnete sie den Schrank, in dem der Wein aufbewahrt wurde, stieß mich hinein, schlug die Tür zu und verschloss sie, sodass ich in völliger Dunkelheit verharren musste.
Ich rieb mir die schmerzende Kopfhaut und sank auf den Boden. Zwischen Euphorie und Furcht schwankend, versuchte ich, Luft zu holen. Irgendwo, das wusste ich nun, hatte ich eine Familie. Ich hatte mir immer gewünscht, irgendetwas aus meiner Vergangenheit zu besitzen: ein Gefühl, einen Geruch oder auch nur die Erinnerung an eine Hand, die die meine hielt. Anna hatte wenigstens eine halbe Kachel, die sie in einer Holzschachtel aufbewahrte. Darauf war ein Teil eines Schiffs abgebildet. Anna glaubte fest daran, dass die andere Hälfte sich im Besitz ihrer Mutter befand.
Doch ich besaß nichts. Keinerlei Verbindung zu irgendjemandem da draußen in der Welt, abgesehen von der Organisation, die sich seit meiner Geburt um mich kümmerte. Bis vor wenigen Minuten war meine Vergangenheit völlig leer gewesen; nun gab es die Noten und Susanne.
Als ich ihren Namen laut aussprach, ging mein Atem schneller, und in meinem Kopf bildete sich ein Gedanke heraus. Konnte es sein -...
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