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Schlaf und insomnische Beschwerden beschäftigen viele Patient*innen. Sie werden im Gesundheitssystem sowie in der Öffentlichkeit breit diskutiert. Oft ist dies mit Unsicherheit und problematischen Erwartungen verbunden. In den folgenden Abschnitten werden Grundlagen von Schlaf und Gesundheit vorgestellt, die für das Behandlungsprogramm SLEEPexpert wichtig sind.
Schlaf und psychische Gesundheit stehen in einem Wechselspiel. Die klassische medizinische oder psychotherapeutische Sichtweise betont, dass insomnische Störungen ein Symptom einer psychischen Erkrankung sind. Dies beruht auf der allgegenwärtigen klinischen Beobachtung (und dem Ergebnis zahlreicher Studien), dass die große Mehrheit von Patient*innen mit psychischen Erkrankungen insomnische Störungen hat. Dabei treten Ein- und Durchschlafstörungen bei nahezu allen psychischen Erkrankungen auf (Baglioni et al. 2014). Entgegen anfänglichen Hoffnungen konnten umfangreiche Untersuchungen kein Schlafmuster identifizieren, das für eine Diagnose, zum Beispiel Depression, charakteristisch und somit für die Diagnosestellung oder Auswahl der Behandlung nützlich wäre. Tatsächlich können insomnische Beschwerden an eine Episode einer psychischen Erkrankung gebunden sein. Das heißt, sie können mit einer Krankheitsepisode beginnen und enden. In dieser Konstellation ist eine Behandlung der psychischen Erkrankung oftmals ausreichend. Eine weitergehende Diagnostik oder Behandlung einer solchen insomnischen Störung ist nicht notwendig.
Andere klinische Beobachtungen und zahlreiche Studien der letzten Jahre zeigen jedoch, dass es auch eine umgekehrte Beeinflussung gibt, nämlich dass eine chronische Insomnie das Risiko für psychische Erkrankungen erhöht, oft nicht vollständig zurückgeht und den Verlauf von psychischen Erkrankungen verschlechtert. Beispielsweise kann sie das Risiko, Jahre später an einer Depression zu erkranken, in etwa verdoppeln (Baglioni et al. 2011; Hertenstein et al. 2019).
Nun könnten diese klinischen Beobachtungen darauf beruhen, dass insomnische Störungen nur Ausdruck eines schweren Erkrankungsverlaufs sind, aber den Krankheitsverlauf nicht beeinflussen. Hier sind Arbeiten der letzten Jahre wichtig, die zeigen, dass deren Behandlung die psychische Gesundheit verbessern kann. Im Speziellen kann eine Kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie (KVT-I) bei Patient*innen mit chronischer Insomnie nicht nur deren Schlaf verbessern, sondern auch das Risiko mindern, neu beispielsweise an einer Depression zu erkranken. Darüber lässt sich mit KVT-I als Zusatz zu einer Standardbehandlung bei Patient*innen, die bereits an einer psychischen Erkrankung, wie Depression, Angststörungen oder Alkoholabhängigkeit, leiden, nicht nur der Schlaf, sondern auch der Verlauf der psychischen Erkrankung verbessern (Hertenstein et al. 2022). Eine eigenständige Behandlung der Insomnie mit KVT-I kann also über Schlaf hinaus die psychische Gesundheit und Lebensqualität verbessern.
Die geschilderten Beobachtungen haben zu einer Änderung in den neuen Diagnosesystemen, wie DSM-5 (APA 2013, S. 5) und ICD-11 (WHO 2019), geführt. Das Krankheitsbild ist hier als insomnische Störung vom Symptom auf die Ebene der Diagnose gehoben worden. Dies betont, dass eine eigenständige Diagnostik und Therapie für eine insgesamt optimale Behandlung wichtig sind.
Die genauen Mechanismen des klinischen Zusammenhangs von Schlaf und psychischer Gesundheit sind nicht ausreichend bekannt. Diskutiert wird unter anderem, dass Schlaf mitbestimmt, wie Nervenzellen (Neurone) im Gehirn miteinander in Kontakt treten. Hier ist ein grundlegender Mechanismus, dass Verbindungen zwischen Nervenzellen (Synapsen), die für die Informationsübertragung im Gehirn wichtig sind, in ihrer Übertragungsstärke angepasst, also gestärkt oder geschwächt, werden. Diese sogenannte synaptische Plastizität gilt als Basis für Lernen und Gedächtnisbildung und allgemeiner als Voraussetzung für Anpassungsfähigkeit in der Umgebung. Schlaf scheint die Übertragungsstärke zwischen Nervenzellen zu beeinflussen, sodass informationstragende Synapsen gestärkt und andere geschwächt werden (Tononi & Cirelli 2006). Das führt zu einem verbesserten Signal-zu-Rausch-Verhältnis der Informationsübertragung im Gehirn und zur Möglichkeit, nachfolgend wieder neue Informationen aufzunehmen. Darüber hinaus scheint Schlaf für die »Reinigung« des Gehirns wichtig zu sein. Liquor cerebrospinalis (umgangssprachlich auch Gehirn- oder Nervenwasser) umspült das Gehirngewebe und trägt zum Abtransport von schädlichen Stoffwechselprodukten bei. Das Protein Beta-Amyloid ist ein bekannteres Beispiel für ein Abbauprodukt, das bei einer ungenügenden Zersetzung oder einem unzureichenden Abtransport Verbindungen (Plaques) bilden kann, die mit der Entwicklung der Alzheimer-Demenz in Verbindung gebracht werden. Die Reinigungsaktivität durch Nervenwasser ist im Schlaf deutlich ausgeprägter als im Wachzustand (Xie et al. 2013). Zusammenfassend könnten beispielsweise Störungen der synaptischen Plastizität oder der Reinigungsfunktion zu den klinisch beschriebenen Verbindungen von insomnischen Störungen und Problemen der Leistungsfähigkeit oder psychischen Gesundheit beitragen.
MERKE
Schlaf und psychische Gesundheit stehen in einem Wechselspiel. Die Behandlung von chronischer Insomnie mit KVT-I kann nicht nur den Schlaf, sondern auch die psychische Gesundheit verbessern.
Schlaf steht auch in einem engen Wechselspiel mit körperlicher Gesundheit. Zahlreiche körperliche Erkrankungen, wie Schmerzsyndrome, Herz-Rhythmus-Störungen, neurologische Erkrankungen, können insomnische Symptome verursachen. Hier steht zunächst die Behandlung der auslösenden Erkrankung im Vordergrund. Umgekehrt können insomnische Störungen bereits vor einer körperlichen Erkrankung vorliegen oder, einmal ausgelöst, weiter bestehen. Hier ist der Fall ähnlich wie bei psychischen Erkrankungen gelagert: Chronische Insomnie stellt einen Risikofaktor für die Neuentstehung vieler Erkrankungen dar, zum Beispiel von kardiovaskulären Erkrankungen oder Bluthochdruck (Benz et al. 2023). Beim Vorliegen dieser Erkrankungen kann eine zusätzlich vorliegende Insomnie den Erkrankungsverlauf verschlechtern.
Bei zahlreichen Studien zum Zusammenhang zwischen Schlafproblemen und körperlichen Folgeerkrankungen wurde eine Insomnie nicht klar diagnostisch abgeklärt. Vielmehr wurden hier isolierte Symptome wie Ein- oder Durchschlafstörungen als Risikofaktoren für eine körperliche Folgeerkrankung identifiziert (ebd.). Bei diesem Vorgehen bleibt unklar, ob wirklich eine Insomnie vorlag oder ob die untersuchten Patient*innen möglicherweise (auch) organisch bedingte Schlafstörungen wie ein Schlafapnoesyndrom aufwiesen. Es ist also fraglich, ob wirklich eine Insomnie für diese Zusammenhänge verantwortlich ist oder eher eine Schlafproblematik auf organischer Ebene. Inwieweit eine Behandlung der Insomnie nicht nur Schlaf, sondern auch den Verlauf von körperlichen Erkrankungen verbessen kann, ist zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht ausreichend untersucht.
Schlaf und körperliche Erkrankungen stehen in einem Wechselspiel. Chronische Insomnie ist mit einem erhöhten Risiko verknüpft, dass die betroffene Person verschiedene körperliche Erkrankungen entwickelt beziehungsweise einen schlechteren Erkrankungsverlauf aufweist. Es ist naheliegend, dass eine Behandlung und Linderung von insomnischen Störungen auch körperliche Erkrankungen verbessert. Dies ist allerdings erst aktuell Gegenstand größerer Untersuchungen.
Im Folgenden werden Grundlagen zur Schlafregulation und zum Schlafbedarf vorgestellt, die für ein Verständnis der Entwicklung des Programms SLEEPexpert und für die Therapieplanung mit Patient*innen unmittelbar wichtig sind.
Schlaf wird im Wesentlichen durch zwei Prozesse reguliert: einen vom Schlaf-Wach-Verhalten abhängigen (S) und einen circadianen (C), sprich: tagesrhythmischen ( Abb. 1.1). Kurz gesagt ist ein ausreichender Aufbau von Schlafdruck notwendig, um einschlafen zu können (Prozess S). Dies wird durch ein am späten Abend nachlassendes tagesrhythmisch bestimmtes Wachsignal begünstigt (Nachlassen der abendlichen Wacherhaltungsphase). Umgekehrt sorgt gegen Ende der Nacht und am frühen Morgen ein tagesrhythmisch bedingtes Schlafsignal für einen längeren Schlaf (Schlaferhaltungsphase). Ein gesunder Schlaf ergibt sich aus dem Zusammenspiel der beiden Prozesse mit ausreichendem Schlafdruck und einer geeigneten tagesrhythmischen (circadianen) Phase.
Abb. 1.1: Zwei-Prozess-Modell der Schlafregulation.
Der vom Schlaf-Wach-Verhalten abhängige Prozess S ist der stärkste und auch für das spätere Behandlungsprogramm wichtigste. Es handelt sich um einen grundlegenden physiologischen (homöostatischen) Prozess, der bei allen Menschen (und Tieren) abläuft. Bei langen Wachphasen steigt der Schlafdruck so stark an,...
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