Die enge Pforte
Kanal von Korinth
Am dritten Seetag kam endlich die griechische Küste in Sicht. In der Morgenröte, der "rosenfingrigen" wie sich Homer ausdrückt, zeichneten sich vor uns die geschwungenen Bergprofile von Achaia im Gegenlicht ab. Rötliche Schatten waren es, die eher Wolken über dem Horizont glichen als wirklichen Bergen.
Wir fuhren in den Golf von Korinth ein, unser aus Italien kommendes Schiff passierte das noch morgendliche Patras an Steuerbord. Ich stand an Deck, um diese erste Begegnung mit dem griechischen Land in mich aufzunehmen. Es sollten noch viele folgen, aber dies war das erste Mal. Ein frischer Wind, ja, ein als kühl zu bezeichnender Wind wehte mir um die Nase und ließ mich ein wenig frösteln. Die aufgehende Sonne schickte aber mit ihren ersten Strahlen Vorboten jener spätsommerlichen Wärme zu uns, die diese Tage kennzeichnen sollte.
Also wirklich Griechenland? Meine bescheidene Philhellenie hatte bereits im Kindesalter begonnen. Sonntags, wenn die Ruhe in der Familie eingekehrt war, saß ich mit meinem Vater häufig auf der Eckbank unserer Küche oder auf seinem Schoß und hörte den Geschichten zu. Von Zeus, dem Ikarus, dem bösen Minotauros, Odysseus und anderen Göttern oder Helden.
Dabei war mein Vater durchaus kein Schöngeist oder humanistisch gebildeter Gelehrter. Aber seinen Interessen erstreckten sich weitgreifend von der Erdgeschichte bis zur Menschheitsgeschichte, von Sagen und Mythen bis zu den neuesten technischen Errungenschaften. Daher kannte ich Dinosaurier lange bevor die moderne "Dinomania" begann und der Minotauros war mir schon ein Begriff, bevor sich amtlich bestallte Erzieher bemühten, uns ein Minimum an Bildung beizubringen.
Als dann mein Vater plötzlich starb, versandete dieses Interesse noch bevor ich in die Pubertät kam. Vielleicht wäre es damit ganz vorbei gewesen, wenn nicht etliche Jahre später die Odyssee als Vierteiler im Fernsehen gelaufen wäre. Das "zündete" mich wieder an.
Nach der Serie kaufte ich mir die Odyssee als Reclamheftchen und arbeitete mich durch die Hexameter in der wunderbaren Übersetzung von Johan Heinrich Voß.
Was für eine Sprache! "Sage mir Muse die Taten des vielgewanderten Mannes / Welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung." Das sprach mich im wahrsten Sinne des Wortes an. Ich kann die Anfangszeilen immer noch auswendig.
Nach der Odyssee ging es dann an die Illias. Aber dies war nichts für mich. Nur Krieg, Mord, Zerstörung. Städteverbrennen ist nicht mein Ideal - auch wenn es elegant dargeboten wird und von Homer stammt.
Viel lieber identifizierte ich mich mit Alexis Sorbas, jenem Schelm, der zwischen Leichtlebigkeit und Tragik hin und her schwankt. Zunächst der Film mit Anthony Quinn und Irene Papas - noch heute so etwas wie meine Traumfrau -, dann das Buch.
Dies erschloss mir die Werke des Nikos Kazantzakis, den ich dann auch als Wahldichter für das Abitur wählte, nachdem ich eine ganze Reihe seiner Bücher gelesen hatte. Viel Griechenland also in der Theorie, aber gesehen hatte ich das Land noch nicht.
Das änderte sich jetzt. Mittlerweile waren die Berge der zentralen Peloponnes, der Insel des Pelops (Pelops war der Sohn von Tantalus - das ist der mit den Qualen), zurückgetreten, und vor uns wurde ein eher flacher Küstenstrich sichtbar: Der Isthmus von Korinth.
Und etwa genau in der Mitte der Landzunge ein tiefer Einschnitt mit völlig glatten Wundrändern. Wie von einem Fallbeil in das Fleisch gehackt. Es war der Kanal von Korinth, jener Durchstich, der die Reisezeit nach Athen um rund 330 Seemeilen verkürzt, was immerhin so ein bis anderthalb Tage bringt.
Rechts neben dem Eingang zum Kanal stand ein großes Schild, das die Umrisse der Insel Zypern zeigte. Von dem blutrot eingefärbten Nordteil liefen Blutnasen in den hellen südlichen Teil. Darunter die Aufschrift "Remember Cyprus". Die Besetzung Nordzyperns durch türkisches Militär lag gerade drei Jahre zurück und führte mir jenen "ewigen" Konflikt zwischen türkischen und griechischen Menschen vor Augen, von dem auch das Werk Kazantzakis' immer wieder spricht.
Das Schild war der jüngste Ausdruck des griechischen Traumas. Mehr als dreihundert Jahre Besatzung durch die Türken hinterlassen Narben in einem Volk, die umso schwerer wiegen, je häufiger ähnliche Erfahrungen gemacht werden. Immer wieder musste sich Griechenland mit allen Mitteln und mit seiner ganzen Kraft gegen jene Heere aus dem Osten verteidigen, die das Land erobern wollten.
Die Perserkriege sind bei Schülern berühmt und berüchtigt und alles Leid wird entweder humanistisch-heldenhaft überstilisiert oder in flotten, aber griffigen Schülersprüchen a la "333 bei Issos Keilerei" verharmlost. Nach den Persern kamen die Römer, die allerdings aus dem Westen, dann die Araber wieder aus dem Osten, die Seldjiuken, die Mongolen klopften an die Tür und zum Schluss die Türken.
Das griechische Volk hat das alles überstanden. Auch die deutsche Besetzung, und gelegentlich brach Griechenland über andere herein. Alexanders Feldzug nach Asien zerstörte Persien und das spätrömisch-byzantinische Reich war unter Justinian in seiner Ausdehnung dem Alexanderreich ebenbürtig. Aber im Grunde sind dies Ausnahmen geblieben. Die meisten Jahrhunderte stand Griechenland unter Druck.
Und dennoch - der Grieche fühlt sich als Grieche und nur als Grieche. Auch wenn im täglichen Leben und in der Kultur viel aus den östlichen Kulturen übernommen wurde. Was gut ist, denn der Austausch beschenkt die Tauschenden. Aber die Anbindung des Griechen an seine antike Vergangenheit, an die "goldenen Zeitalter", an die Errungenschaften des byzantinischen Reiches, der orthodoxe Glaube, ja auch die Einheit in den Feindbildern, haben Griechenland durch alle Zeitläufte geprägt, gestärkt und vor dem Untergang bewahrt.
Während dieser Gedankenkette hatte ein Schlepper unser Schiff auf den Haken genommen und es ging in den Kanal. Was für ein Erlebnis! Was für eine grandiose Vorstellung! Niemals wieder habe ich eine derart beeindruckende künstliche Wasserstraße befahren.
Das Schiff zwängte sich auf engstem Raum zwischen den Felswänden hindurch. Unsere Breite betrug elf Meter, zu beiden Seiten blieben daher nur jeweils sechs Meter freien Wassers. Das ist für den Nautiker so gut wie nichts. Hier ist präzises Steuern angesagt, jedes Abweichen vom Kurs kann zur Havarie führen. Unser Schiff hatte noch ein richtiges Steuerrad, keine Joysticks wie heute üblich.
Alle Passagiere drängelten sich am Schanzkleid oder auf den Decks, um dem Spektakel beizuwohnen. Die Felswände waren anscheinend zum Greifen nahe und ragten turmhoch und fast senkrecht neben dem Schiff in die Höhe. Der Himmel hatte sich zu einem schmalen, langen Band verkleinert und die ersten Sonnenstrahlen schienen in den künstlichen Canyon.
Neben dem Schiff schlurfte das Wasser an den Felsen oder Uferbefestigungen vorbei und machte hin und wieder ein saugendes Geräusch. Dabei umfing uns eine grandiose Stille - wenn nicht irgendein Tourist in einen Begeisterungsschrei ausbrach: "My god, is this exciting".
Der Kanal ist auf Wasserebene nur 25 m breit, die umgebenden Felswände steigen in einem Winkel von etwa 75° nach oben - das ist "gefühlt" fast senkrecht. Die Höhe dieser Wände oder auch die Tiefe des Einschnitts beträgt bis zu 80 m, je nach der Form des Geländes "oben".
Die Abstürze sind völlig glatt, nur hier und da gibt es eine Vertiefung, eine Aushöhlung, einen Sims. Wo es die Umstände erlauben, hat sich ein Busch, ein kleines Bäumchen angesiedelt und wehrt sich mit krallenhaft in den Stein getrieben Wurzeln gegen den Sturz in den Kanal. Das Grün dieser Pflanzen kontrastiert hübsch mit den eher vorherrschenden Brauntönen der Kanalwände.
Für geologisch interessierte Passagiere bietet sich ein Kaleidoskop an Eindrücken, denn der künstliche Anschnitt in die Tiefe der Erde offenbart eine ganze Reihe an fein säuberlich waagrecht verlaufenden farbigen Schichten. Kein Anzeichen von Quetschungen oder Stauchungen, von Hebevorgängen oder ähnlichen Prozessen. Über Millionen von Jahren wurden hier die verschiedensten Sedimente ruhig abgelagert. Ganz oben erkenne ich eine dunkle Schicht, der humöse Boden direkt an der Oberfläche, dann folgen in die Tiefe abwechselnd hellbraune und dunkelbraune Schichten. Dazwischen zieht ein scharfes weißes Band durch die Wand. Im hohen Mittelteil des Kanals treten weitere Schichten hinzu, deren Farben auch je nach Sonnenstand etwas variieren. Gelbtöne treten jetzt auf, Rot, Schwarz, das ganze Spektrum.
Die Sonne scheint nun direkt in den Kanal. Es wird warm, denn die Reflektionen an den Felswänden verstärken ihre Kraft. Habe ich heute Morgen noch gefröstelt, so treten nun erste...