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Berlin, im März 1919
In der Hussitenstraße meinte sie, den Ruf einer Amsel gehört zu haben. Regine blieb stehen, um zu lauschen - früher hatte es auf den Hinterhöfen des Berliner Brunnenviertels Vögel gegeben. Spatzen, Meisen, Amseln waren jeden Tag ihre Begleiter gewesen, aber inzwischen nicht mehr. Ihr Blick ging zu der alten Linde, die in diesem besonders kalten Winter dem harten Frost hatte trotzen müssen. Kein Vogel zu sehen weit und breit, der Krieg hatte das gefiederte Volk vertrieben. Insgeheim hatte sie gehofft, dass die Tiere in diesem Frühling zurückkehren würden, doch bis jetzt gab es keine Hinweise darauf.
Mit einem leisen Seufzer rückte Regine die dunkelblaue Mütze mit dem schwarzen Schirm zurecht. Sie war müde, die schreckliche Mütze drückte sie. Zu Beginn ihrer Tätigkeit als Postbotin hatte sie sich vorgestellt, dass die Uniform ihre Vorzüge unterstreichen würde. Sie war blond und blauäugig, doch das tiefdunkle Blau der Reichspost ließ sie blass erscheinen. Jetzt, kurz nach dem Krieg, wirkten viele Großstädter abgemagert und bleich. Die Uniform verstärkte noch das Bild, das die Menschen dieser Tage abgaben. Sie hatte genug für heute, sie fühlte sich matt und abgekämpft, die Füße schwer vom Laufen. Zeit für den Feierabend, doch ein kleiner Stapel Briefe wartete noch darauf, verteilt zu werden. Der Rest ihrer Fracht war ausnahmslos für die Bäckerei in der Hussitenstraße bestimmt. Adam Smolka betrieb dort ein gut laufendes Gewerbe, auch wenn er ihr inzwischen häufig traurige Geschichten über die Einbußen und Versorgungsengpässe erzählte, mit denen er sich infolge des Krieges herumplagte. Mit einem ofenfrischen Brötchen in der Hand saß sie auf der Ofenbank in der Backstube, während er plauderte. Es war warm, es duftete gut nach Butter und Hefe. Jede Gabe gegen den Hunger war Regine höchst willkommen, sie war immer gerne bei Smolka gewesen - doch allmählich drohte die Sache mit ihm aus dem Ruder zu laufen. Neuerdings warb der Bäckermeister erkennbar um ihre Zuneigung, behutsam und rücksichtsvoll, aber vergeblich. Niemand würde sie mit einem Kanten Brot oder einem Stück Kuchen kaufen können. Einer wie Smolka hatte nicht das Zeug dazu, ihr Bräutigam zu werden - besser, er begriff es so bald wie möglich. Genau aus dem Grund würde sie ihm heute keine Aufmerksamkeit schenken.
Regine hastete zur Hintertür der Backstube, eilig ließ sie die für den Bäckermeister bestimmte Post durch den Türschlitz gleiten. Sie lauschte, doch in der Backstube blieb alles still. Regine atmete erleichtert auf, als auf einmal Schritte im Sand knirschten. Irgendjemand kam und baute sich hinter ihr auf, im ersten Moment befürchtete Regine, es könnte Smolka sein, doch glücklicherweise war es Lotte, die zu ihr stieß. Die Zustelltour der Kollegin kreuzte sich in der Hussitenstraße mit der von Regine, sie begegneten sich häufig in dieser Ecke der Stadt.
Schnaufend stemmte Lotte die Hände in die Seiten.
»Na endlich hab ich dich eingeholt. Was hast du eigentlich für ein Tempo drauf? Bin schon eine Weile hinter dir her, hab's nicht geschafft, zu dir aufzuschließen.«
»Ich wusste nicht, dass du mich verfolgst, sonst wäre ich nicht so gerannt.«
Lotte schüttelte den Kopf, während sie mit einer Hand in ihrer Ledertasche wühlte, die an einem Schultergurt neben ihrer Hüfte hing. Wie so oft war die Kollegin auch heute nicht nach Vorschrift gekleidet. Ihre Postmütze hatte sie auf dem Kopf, aber der Rest ihrer Kleidung entsprach keineswegs den Vorgaben. Ihr Rock, ihre Jacke - nichts davon war dunkelblau. Wenn der Schichtleiter sie so erwischte, gab es Ärger.
Ein zerknickter Zettel tauchte in Lottes Händen auf.
»Guck mal, das wollte ich dir zeigen. Unser Flugblatt ist fertig. Ich hab heute Morgen vor der Schicht schon ein paar Exemplare verteilt.«
»Was denn, im Ernst? Es ist fertig?«
»Wenn ich's doch sage!«
Regine überflog das Stück Papier, das Lotte ihr reichte, wurde jedoch immer unsicherer, während sie das Schriftstück las. Unwillkürlich schnappte sie nach Luft. Was hatte Lotte da verzapft? Sie hatten sich gestern nach dem Dienst getroffen, um eine Flugschrift für die Kolleginnen zu entwerfen. Ihre Gedanken zur Lage im Dienst waren nicht mehr als ein erster Entwurf gewesen, fertig war das Schreiben in Regines Augen noch nicht. Es fehlte weit mehr als nur der letzte Schliff, das erkannte sie sofort. Ein zusammenhangloses Durcheinander von Gedanken tummelte sich auf dem Papier, ungeordnet und voller Schreibfehler. Regine hob den Kopf und starrte Lotte mit großen Augen an.
»Du hast es also tatsächlich schon drucken lassen.«
»Na klar, war kein großes Ding. Ich kenne einen von der Gewerkschaft, der ist Buchdrucker, der konnte mir helfen. Sieht gut aus, was?«
»Es geht doch nicht darum, wie es aussieht, Lottchen. Wichtig ist, was drinsteht. Wir waren noch nicht fertig damit.«
»Wieso? Alles, was wir uns beide gestern überlegt haben, steht drin.«
»Es geht um einen Streik, das ist eine große Sache. Wir können unsere ersten Überlegungen dazu doch nicht gleich in die Welt hinausposaunen. Was meinst du, was los ist, wenn die Behördenleitung das Schreiben zu fassen bekommt? Dann sind wir fällig, ist dir das klar?«
Vollkommen ungerührt zuckte Lotte mit den Schultern.
»Mach dir keine Sorgen, ich hab aufgepasst. Das Flugblatt habe ich nur den Frauen gegeben, denen man vertrauen kann.«
»Und du meinst, die geben es nicht weiter? Außerdem strotzen diese Zeilen vor Schreibfehlern. Wer soll denn das ernst nehmen?«
Lottes Miene hatte sich verfinstert, für einen Moment schob sie beleidigt ihre Oberlippe vor.
»Hätte ich mir denken können, dass du wieder irgendwas daran auszusetzen hast. Ich hab mich gekümmert, und du .«
»Dafür ist es zu früh. Wir wollen zunächst nach Mitstreiterinnen Ausschau halten, hatten wir gesagt.«
»Bitte schön, ganz, wie du meinst. Dann mach deinen Krempel doch allein. Möchte mal sehen, wie du auf die Schnelle jemanden findest, der dir ein Flugblatt drucken kann.«
»Ich weiß deinen Einsatz zu schätzen, aber .«
»Die Füße hab ich mir abgerannt. Nur für uns haben die ihre Maschinen in der Druckerei noch mal angeschmissen.«
»Das ist sehr großzügig von denen, aber .«
»Weißt du was? Mir reicht es, ich bin raus. Sieh zu, wie du allein weiterkommst. Kannst ja sowieso alles besser.«
»Sei bitte nicht gleich beleidigt. Ich werde doch noch sagen dürfen, was ich denke. Du hast dich nicht an unsere Absprache gehalten.«
»Drauf gepfiffen. Ich wollte helfen, sonst nichts.«
Lotte schob das zerknickte Flugblatt in die Tasche ihres Mantels. Mit hoch erhobenem Haupt drehte sie sich um, dann zog sie ab.
»Lotte, so warte doch!«
Die Kollegin hatte sie mit Sicherheit gehört, blieb aber nicht stehen. Lotte marschierte durch den Torbogen des Hinterhofs auf die Straße hinaus. Regine folgte ihr so schnell wie möglich, doch als sie die Hussitenstraße erreichte, war Lotte schon verschwunden, untergetaucht im Gewühl. Die Hussitenstraße war eine belebte Einkaufsstraße, der Feierabend hatte begonnen, eine Menge Menschen waren unterwegs. Regine blieb zurück, es machte keinen Sinn, Charlotte Wellmann weiter hinterherzulaufen. Der Schaden war ohnehin angerichtet, das Flugblatt war im Umlauf. Mit Sicherheit würde es deswegen Ärger geben. Eine unerhörte Nachricht wie die eines bevorstehenden Streiks machte unter den Kolleginnen schnell die Runde. Ärger stand ins Haus, und doch hätte sie Lotte nicht derart unsanft zurechtweisen dürfen. Im Gespräch mit Lotte hatte es ihr an Fingerspitzengefühl gefehlt. Lotte war eine von diesen Menschen, bei denen man aufpassen musste. Harte Schale, weicher Kern, das traf auf sie zu.
Entmutigt machte sich Regine auf den Heimweg. Sie steuerte die bescheidene Zweizimmerwohnung in der Ruppiner Straße an, in der sie mit ihren Eltern lebte. Eigentlich kam sie des Abends gerne nach Hause, auch wenn ihre Familie nicht im üppigen Wohlstand lebte. Im Brunnenviertel tat das niemand, sie kannte es nicht anders, sie war hier aufgewachsen. Einstmals hatte diese Gegend im Nordosten der Stadt Glanz ausgestrahlt, nur war das lange her. Unter dem Alten Fritz war der Gesundbrunnen ein Kurort gewesen, selbst Königin Luise hatte sich zur Erholung hier aufgehalten. Leider war die heilende Quelle des Brunnens am Luisenbad inzwischen versiegt. Fabrikgebäude waren stattdessen gebaut worden, die Allgemeine Elektrizitätsgesellschaft fertigte in den großen Hallen entlang der Straßen Motoren und Glühlampen. Das Werk bestimmte den Lebensrhythmus der Menschen, die in der Umgebung lebten. Das Brunnenviertel war zum Arbeiterviertel geworden, nur kleine Leute lebten hier.
Immerhin waren sie zu Hause immer irgendwie zurechtgekommen, hatten einander unter die Arme gegriffen, sich gegenseitig gestützt. Diesmal würde das nicht funktionieren, der drohende Streik war allein ihre Angelegenheit, Regine wusste das. Keiner da, mit dem sie darüber reden konnte.
In der Wohnung der Eltern angekommen, legte sie ihre Uniformjacke und die große, unhandliche Tasche an der Garderobe ab und betrat die Küche. Ihr Vater saß dort im Wintermantel, die Nase gerötet, er fror sichtlich. Im Herd brannte kein Feuer. Mit Briketts, Holz und Papier mussten sie sparsam sein.
Er sah von seiner Zeitung auf.
»Guten Abend, mein Kind. Wie war dein Tag? Komm, nimm Platz und erzähl.«
Der Vater deutete auf einen freien Stuhl am Küchentisch, aber sie setzte sich...
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