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1818. Franz Wercker, dessen Traum es immer war, Schriftsteller zu sein, flieht vor einer unseligen Familiengeschichte. Als ihn am Gardasee die Kräfte verlassen, will er seinem Leben ein Ende setzen. Die zufällige Begegnung mit dem jungen Dichter Cornelius Lohwaldt, der mit einem Stipendium des bayerischen Königs auf dem Weg nach Rom ist, ändert alles: Franz nimmt seine Identität an. In Rom taucht er ein in die Gemeinschaft deutscher Künstler - junger, begeisterter Enthusiasten, die fern der Heimat hart arbeiten und glücklich leben. Franz findet Freunde, erlebt amouröse Abenteuer - und verliebt sich in eine junge Malerin. Doch als sich Lohwaldts Schwester Isolde auf den Weg nach Rom macht, um ihren Bruder zu suchen, droht das mühsam errichtete Lügenkonstrukt einzustürzen. Als ein Mord geschieht, zieht sich die Schlinge um Franz zusammen...
»Liebevoll, gleichwohl mit trockenem, manchmal bösem Humor und einer feinen Ironie erzählt - mein Freund Christian Schnalke hat einen grandiosen Roman geschrieben.« Volker Kutscher
Franz Wercker schleppte sich die letzten Schritte bis zum Ufer. Seine Beine zitterten, sein Magen verkrampfte sich, Hände und Knie waren aufgerissen vom Rennen, vom Stürzen, vom Klettern, vom Kriechen. Die Streifen seines schwarzen Mantels, die er nach und nach abgerissen hatte, um damit die Fetzen seiner zerlumpten Schuhe zusammenzuknoten, ringelten sich um seine schmerzenden Füße, als ob sich das Schlangengezücht seiner Vergangenheit in seine Fersen verbissen hätte. Vor ihm glitzerte im Licht des spitzen und scharfkantigen Mondes der fantastische See, zu beiden Seiten eng eingefasst von schwarzen, unwegsam aufragenden Bergmassen. Nach vorne zu, in Richtung seines Blicks, legte sich die endlose Wasserfläche schwer um die Biegung der Erdkugel und verschwand im Unbekannten.
Wochenlang hatte Franz sich bis hierher gekämpft. Hatte zu Fuß die Pässe der Alpen überquert, war durch eisige Bäche gewatet, steile Hänge emporgeklettert, Geröllhalden hinabgerutscht, hatte Grenzposten, Zollstationen und bewachte Brücken gemieden und war stundenlang mit fühllosen Zehen durch Schneefelder gestapft. Noch vor dem Brennerpass hatte er die letzten armseligen Münzen weggegeben, er hatte in einem Gasthof die wohl letzte Mahlzeit seines Lebens bezahlt und die vergangenen vier Tage nahezu nichts gegessen, außer ein wenig Schüttelbrot und Käse, die ein schweigsamer Geselle aus Tirol mit ihm geteilt hatte. In Trient schließlich war er trotz aller Vorsicht österreichischen Gendarmen über den Weg gelaufen, denen er aufgrund seiner abgerissenen Kleidung, des struppigen Bartwuchses und der vor Erschöpfung unbeherrschten Angst in seinen Augen verdächtig vorgekommen war und die ihn umgehend festgenommen hatten. Da Franz nichts Besseres eingefallen war, als den Namen Filippo Miller anzugeben, den Namen, unter dem einst Goethe gereist war, und sich ansonsten in Widersprüche verstrickt und durch verstocktes Schweigen verdächtig gemacht hatte, hielt man ihn gefangen. Essen und Trinken verweigerte man ihm, um ihn zu einer ehrlichen Aussage zu zwingen. Doch in der zweiten Nacht, als man einen unbeherrscht brüllenden Betrunkenen in seine Zelle zerrte, nutzte er die Verwirrung aus, als der Säufer einen der beiden Gendarmen ins Gesicht schlug und von dem anderen mit dem Säbelknauf niedergeprügelt wurde, sprang auf und rannte aus der Zelle. Die Gendarmen ließen den blutenden Alten liegen und verfolgten ihn mit blanken Säbeln und lautem Geschrei durch die nächtlichen Gassen des Städtchens, doch er rannte ums Leben, ließ sich nicht aufhalten, auch nicht, als ihm die Seite stach wie von Messern durchbohrt, als seine Lunge unter Krämpfen nach Luft rang und die Brust ihm zu zerreißen drohte. Er rannte aus der Stadt, stolperte über Felder und Wiesen, watete durch einen eiskalten Bach und stürzte erst im Schutz eines Waldes zu Boden. Mehr tot als lebend, aber frei. Von seinen Verfolgern war nichts zu sehen und zu hören, Franz hatte keine Ahnung, wann er sie abgehängt hatte, und dann schwanden ihm die Sinne.
Von da an hatte er die Straßen gemieden, war nur auf Waldwegen und Jägersteigen gegangen, bis an diesem Nachmittag das Land vor ihm jäh abbrach und er zwischen Olivenbäumen hindurch, die sich knorrig und zäh in den felsigen Boden krallten, die riesige blaue Fläche des Sees unter sich liegen sah. Die wuchtigen bewaldeten Hänge zur Linken strahlten in der letzten Abendsonne, die zerklüfteten Berge zur Rechten warfen ihre düsteren Schatten übers Wasser. Unten, auf dem grünen Landstreifen vor dem See, lag das Dörfchen Turbel am Gartsee. Oder, wie es ein verwitterter Wegweiser auch in italienischer Sprache anzeigte: Torbole sul Lago di Garda. Franz versteckte sich in einer Burgruine abseits der steil abfallenden Straße, um die Dunkelheit abzuwarten.
Durch eine Fensteröffnung des zerfallenen Gemäuers spähte er immer wieder über den See. Sein Blick wurde wie magisch angezogen von dem schmalen, überirdisch leuchtenden Streifen, wo sich Wasser und Himmel im Dunst zu einem unwirklichen Strahlen vereinten. Dort irgendwo, in entmutigender Ferne, lag sie, im Licht der verschwindenden Sonne, und streckte sich für eine weitere Nacht an den Ufern des Tiber aus, um ihren wohlverdienten Schlaf zu finden: die Königin am Tiberstrande. Rom, die Stadt seiner Träume. Seit er denken konnte, das Ziel seiner Wünsche und Sehnsüchte.
Doch nun, die Wange an den rauen und warmen Stein der Burgruine gepresst, war er am Ende seiner Kräfte. Die Reise, von der er seit jeher geträumt hatte, war keine Reise geworden, sondern eine Flucht. Er hatte sich aus zwei Gefängnissen davongestohlen, von Zuchthaus und Hinrichtung bedroht, hatte nichts mitnehmen, nichts vorbereiten können. Ein Zuhause gab es für ihn nicht mehr, Freunde hatte er keine, nirgendwo auch nur einen, der an ihn glaubte oder seinem unwürdigen Leben den geringsten Wert zumaß.
Jahrelang hatte Franz davon geträumt, aufzusteigen vom Sohn eines Tagelöhners zu einem respektierten, vielleicht sogar angesehenen Dichter, doch seine geduldigen heimlichen Studien, all die durchlesenen und durchschriebenen Nächte, in denen er mit fiebernden Augen und glühendem Herzen in die Welt der Dichtung versunken war, hatten ihm nichts eingebracht als Verachtung und Prügel des Vaters. Seine Liebe und seine Mühen hatten ihn nicht das kleinste bisschen emporgetragen in der menschlichen Gesellschaft, sondern ihn im Gegenteil auf die unterste Stufe stürzen lassen, wo nur menschlicher Abschaum sich wand.
Der stolze Gardasee, über den er in seinen Träumen immer, am Bug eines soliden Fährboots stehend, dem lockenden Rom entgegengefahren war, lag nun vor ihm als unüberwindliches Bollwerk. Niemals würde er ihn überqueren. Das Wasser, das vor seinen Blicken dort unten in der Tiefe immer schattenreicher, immer düsterer und bedrohlicher wurde, war das Ende. In diesen Fluten würde in der kommenden Nacht nicht nur seine Flucht, sondern sein ganzes missratenes Leben einen Abschluss finden.
Wie gerne hätte er den Ort seiner Sehnsucht wenigstens einmal gesehen, bevor er seinem schuldbeladenen Leben ein Ende setzte. Die Träume von Rom hatten ihm Mut gemacht in der Kerkerhaft. Aber vor allem hatten sie ihn am Leben erhalten, als er begraben war. Als er unter der Erde lag und das panische Entsetzen in grausamen Wellen über ihn hinwegrollte. Er hatte das nur ertragen können, indem er sich alles vor Augen führte, was er in Büchern gelesen und auf Stichen gesehen hatte: das Pantheon, das Forum, die Caracalla-Thermen, den Titusbogen, die Säule des Trajan und allem voran das Kolosseum. Franz konnte es sich nicht erklären, aber dort im Waldboden erinnerte er sich plötzlich an jedes Wort, das er über Rom gelesen hatte. Irgendwann hatte er das Grauen unter sich gelassen und wurde in einen unbegreiflichen Zustand der Klarheit gehoben - eines inneren Leuchtens - und hatte alles in strahlenden Farben vor sich gesehen: Goethes Streifzüge durch Rom, in die Sixtinische Kapelle, auf die Via Appia, nach Frascati, schreibend an der Iphigenie, aquarellierend im Kreise der Künstlerfreunde, beim Begutachten der täglichen Zeichnungen - Franz hätte nicht sagen können, welches Bild davon Erinnerung war und welches Erfindung. Er wusste nur, dass sie ihm das Leben gerettet hatten - oder zum Mindesten seinen Verstand. Deshalb hatte er sich so sehr danach gesehnt, die Ewige Stadt wenigstens einmal mit eigenen Augen zu sehen. Doch dazu fand er nicht mehr die Kraft. Er konnte nicht weiter. Und wozu sich länger quälen? War es nicht ohnehin nur der Wahn eines Verzweifelten gewesen? Lieber gleich ein Ende finden. Gleich heute Nacht. Gleich dort unten im See.
Cornelius Lohwaldt, der aufstrebende junge Dichter aus Nürnberg, in den man seit der Veröffentlichung seiner Ode an die erwachende Germania so viel Hoffnung setzte, dass der König ihm in einer überraschenden Geste eine Leibrente ausgesetzt hatte, mit der es ihm ermöglicht werden sollte, ein Jahr lang in den römischen Bibliotheken und Galerien seine klassischen Studien zu vervollkommnen, war in aller Bequemlichkeit mit der Kutsche über die Berge gerollt. Im Tal der Etsch hatte er den mutwilligen Wunsch geäußert, einen Umweg über Turbel zu unternehmen, wie es Johann Wolfgang von Goethe seinerzeit getan hatte. Er wollte genau wie der große Dichter, anstatt bequem auf dem üblichen Weg weiter durchs Tal zu rollen, das Erlebnis genießen, über das Wasser des Sees aus den Alpen heraus in die fruchtbare Ebene des Po zu gelangen. Er gefiel sich in der Vorstellung, den gleichen Blick zu genießen, mit dem auch der große Dichter zum ersten Mal die Provinz Venetien gesehen hatte. Die Pension zu finden, in der Goethe gewohnt und an seiner Iphigenie gearbeitet hatte, um dort ebenfalls, am Fenster den See vor Augen, vielleicht tatsächlich etwas zu schreiben.
Lohwaldt musste sich erst noch daran gewöhnen, dass er nun Dichter war. Von höchster Stelle durch Maximilians Stipendium als solcher ausgewiesen. Er hatte sich sogar einen künstlerisch anmutenden Bart wachsen lassen, der sich allerdings noch ungewohnt und fremd anfühlte. Zufrieden mit sich und der Welt stieg er nach der steilen Abfahrt am Seeufer aus der Kutsche. Auf Deutsch erkundigte er sich bei einem schmutzigen Jungen, welches das Haus sei, in dem einst der deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe Quartier bezogen habe.
»Ah, Geethe!«, rief der Junge, der offenbar Bescheid wusste. »Lì! Dort!« Er wies auf ein Haus mit einem bogenförmigen Durchgang, durch den man von der Seepromenade auf einen engen Platz gelangte. Der mit Kopfsteinpflaster belegte Hof ruhte im Schatten, umringt von schmalen und hohen Häusern, deren Fensterläden halb oder ganz geschlossen...
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