KÖRPERSPRACHE
Auch Autos haben eine Körpersprache. In Kairo ganz besonders. Das ist wichtig, das muss man wissen, wenn man hier Auto fahren möchte. Der Kairener Verkehr ist nicht so locker, ungeregelt, cool und witzig, wie einige Reiseführer in ihrem saloppen Stil vermelden. Der Kairener Verkehr ist vor allem eines: extrem gefährlich. Ich habe in zwölf Jahren Ägypten so viele extreme Unfälle gesehen, habe brutalste Schlägereien erlebt, sah Tote auf den Straßen liegen (meist schnell notdürftig mit Zeitungen bedeckt), habe die Nachrichten gelesen, in denen ständig von schweren Unfällen die Rede ist, und bin selbst in Unfälle verwickelt gewesen, sodass ich hier wahrlich von Fakten spreche: Der Verkehr in Ägypten gleicht russischem Roulette und ist im wahrsten Sinne mörderisch, selbst die bekannten Zahlen sind extrem5 und man kann nur froh sein, wenn man diesen Verkehr überlebt hat. Verkehr bedeutet hier vor allem Autoverkehr: Radfahrer, Rollstuhlfahrer, Menschen mit Kinderwagen oder Hunden an der Leine sieht man selten, allerdings gibt es sehr viele Fußgänger, die sich irgendwie durch die Straßen schlängeln.
Um als Autofahrer zu überleben, muss man ein paar Punkte beachten. Man muss erstens so Auto fahren, als führe man in Europa Motorrad (was ich viele Jahre getan habe). Das bedeutet erstens: Gehe immer vom verrücktesten und schlimmsten Fall aus, erwarte von den anderen, die um dich herum sind, jedes nur denkbare Verhalten, und sei es noch so unlogisch, bleib wachsam, bleib aufmerksam, halte den Finger an der Hupe und den Fuß an der Bremse! Zweitens: Minibusfahrer sind in der Regel übermüdete Verrückte, die zu allem in der Lage sind. Lege dich nicht mit ihnen an, sie sind oft bewaffnet, stehen zum Teil unter Drogen, handeln wider jede Vernunft und bremsen nicht für dich. Ein Gutes haben Minibusse allerdings doch, man kann sie als Schutzschild benutzen. Wenn ich abbiegen will, sehe ich zu, möglichst einen anderen Wagen und am besten einen Minibus neben mir zu haben, und zwar auf der Außenbahn neben mir. Denn der blockt die Straße und wenn er gerammt wird, dann jedenfalls nicht ich. Wie es dabei dem anderen geht, das bedenkt man im Kairener Verkehr schon lange nicht mehr. Vor allem das eigene Überleben zählt.
Es gibt aber noch einen anderen Grund, die Minibusse im Blick zu behalten: Die Fahrer sind immer auf den gleichen Strecken unterwegs und kennen die entsprechende "Ideallinie" sehr gut. Kairos Straßen haben zum Teil gefährliche Löcher und tiefe Rillen, letztere besonders auf den gigantischen Hochstraßen. Zudem gibt es sogenannte "Speed Bumps" von ganz erheblicher Höhe und Anzahl (das sind Wellen im Asphalt), sie sollen die Autofahrer dazu zwingen, die Geschwindigkeit zu reduzieren. Dazu kommen die Gullys, die entweder einen halben Meter aus dem Asphalt herausragen oder einen halben Meter in diesem versenkt sind. Fährt man mit hoher Geschwindigkeit auf diese Gullys, in diese Löcher oder Rillen oder auf diese "Speed Bumps", dann zerreißt es das Fahrzeug und/oder man knallt mit dem Kopf an die Decke des eigenen Wagens. Verkehrserprobte Fahrer, und das sind die Minibuslenker nun einmal, umkurven die gefährlichen Stellen, sie scheren sich zwar nicht um Fußgänger oder andere Verkehrsteilnehmer, aber ihr Auto, das ihren Lebensunterhalt sichert, das ist ihnen nicht komplett egal. Daher fahren sie die besagte Ideallinie um alle Hindernisse herum und schonen Stoßdämpfer und Bus. Und darum kann es sich durchaus lohnen, ihnen zu folgen, wenn der Verkehr höhere Geschwindigkeiten zulässt.
Drittens: Taxifahrer sind nur wenig besser als die besagten Minibusfahrer, obwohl sie auf diese beständig schimpfen und mit ihnen gerne streiten. Auch sie sind Tag für Tag in diesem Verkehr unterwegs, den du kaum zwei Stunden am Tag ertragen kannst. Die entsprechenden nervlichen Probleme sind also zu erwarten. Viertens: LKWs sind ebenfalls extrem gefährlich, auch wenn die frommen Sprüche, die oft an die Ladeflächen geklebt sind, etwas Anderes, Menschenfreundlicheres suggerieren. Glaube diesen frommen Sprüchen auf keinen Fall! Gehe davon aus, dass die LKWs nicht gut gewartet und die Fahrer übermüdet sind, dass vor allem die Ladung überhaupt nicht gesichert ist, die Reifen abgefahren und die Bremsen kaputt sind - halte also Abstand. Besonders gefährlich sind Laster, die Steine oder Schutt transportieren. Diese sind ebenfalls völlig überladen und verlieren ständig und bei jeder Unebenheit kleine (oder auch mal größere) Steine, die dann fremde Windschutzscheiben zerschmettern oder ähnlich Unangenehmes anrichten.
Fünftens: Achte, und hier kehre ich zu meiner Einleitung zurück, auf die Körpersprache der anderen Autos. Denn in Kairo haben Autos Körpersprache und Stimme. Bei höheren Geschwindigkeiten oder unübersichtlicher Lage kannst du, was ideal wäre, den anderen Autofahrer nicht sehen. Du siehst aber sein Fahrzeug und dessen Körpersprache. Und an der musst du im Sekundentakt erkennen, was der Fahrer vorhat. Fährt er aggressiv, wird er seine Linie halten, wird er bremsen oder Gas geben, will er abbiegen, stoppen oder umdrehen? Was hat er vor? Da es im Grunde keine verlässliche Vorfahrtsregel gibt, da Lichter und Blinker oft kaputt und ohnehin selten in Benutzungen sind, muss ich über die Körpersprache der anderen antizipieren, was sie vermutlich tun werden, um dann entsprechend zu reagieren. Und du siehst, wenn du darauf achtest, genau, wann jemand mit dem Gedanken spielt, auszuscheren, um sich Wartezeit zu ersparen und dir den Weg zu versperren. Aber noch spielt er eben nur mit dem Gedanken und fixiert dich, fragt sich, wie entschlossen du bist, liest deine Körpersprache. Dann musst du hupen und Gas geben oder bremsen und nachgeben, was wiederum davon abhängt, wie schnell oder groß du bist, ob du einen Jeep fährst oder nur einen Kleinwagen. Du musst wissen, wie entschlossen der andere wirkt, erahnen, was er zu tun gedenkt. Und das Ganze muss in Sekundenschnelle ablaufen, genau das macht Autofahren in Kairo auch so anstrengend: Du musst sehr aufmerksam sein, immer wieder in kürzester Zeit Entscheidungen treffen und kannst es nie nur "laufen lassen"; du kannst es dir auch nicht erlauben, einfach mal abzuschalten. Um es positiv zu formulieren: Was man hier macht, ist ganz sicher eine Art von Gehirnjogging, eine Aufmerksamkeitsübung, eine ständige Schulung der Reflexe.
Außerdem gehört auch das Hupen zur Körpersprache, und hupen ist nicht gleich hupen. Es gibt das normale Hochzeitshupen oder das "Wirhaben-den-Afrika-Cup-gewonnen-Hupen", enervierend, laut, aber auch fröhlich und lebensvoll. Dann gibt es aber auch das wütende Hupen, das bedeutet: Du verdammter Hund, du Mistkerl, du hast mich geschnitten, ich hole dich gleich aus dem Auto! Dann gibt es das ganz leichte Hupen, das heißt: Ich bin da, ziehe nicht rüber, achte auf mich. Dann gibt es das Hupen als Zeichen der Stärke (besonders LKWs haben sehr laute Hupen, die einen aus dem Sitz hauen) oder das Begrüßungshupen. Schließlich gibt es das genervte, sehr lang anhaltende Dauerhupen, das anzeigt: Komm endlich aus dem Haus oder beeile dich beim Aussteigen, du hast nun die Nerven aller anderen ausreichend in Anspruch genommen. Dann gibt es noch das verzweifelte Hupen vieler Autos gleichzeitig, zum Beispiel dann, wenn sich der Verkehr vollständig festgefressen hat, wenn es minutenlang gar nicht mehr weitergeht. Das heißt dann: Wir ertragen es nicht mehr, einigt euch endlich, wir drehen gleich alle durch! Es heißt auch, in Richtung Verkehrspolizist: Nun sind wir dran, gib unsere Fahrbahn frei, gib endlich das Zeichen, stoppe die anderen und lass uns fahren. Das ist dann das die Staatsmacht ermahnende Hupen. Und schließlich ist da noch das krankhafte Hupen mancher Minibus- und Taxifahrer. Es ist wie ein nervöses Zucken, alle paar Sekunden hupen sie, ohne erkennbaren Grund, einfach so, immer wieder, regelmäßig und enervierend: Ich hupe, also bin ich. Dass sie damit den Rest der Stadt in den Wahnsinn treiben, scheint ihnen ganz egal zu sein.
Nun mag das alles reichlich witzig klingen, tatsächlich ist es bitterer Ernst. Denn wenn man die Zeichen nicht beachtet, dann wird es wirklich gefährlich in Kairo, wo für Fußgänger eben nicht gebremst wird, wo man als Fahrradfahrer schon fast lebensmüde sein muss, wo das Recht des Stärkeren gilt. Das trifft es vielleicht am besten: Der ägyptische Verkehr ist sozialdarwinistisch geprägt, es gilt das Recht des Stärkeren, des Größeren, des Schnelleren. Es herrscht das Gesetz des Wilden Westens. Ich habe regelrechte Racheakte erlebt. Der eine fährt dem anderen den Spiegel ab, fährt aber weiter (gezahlt wird ja ohnehin nie). Der andere nimmt die Verfolgung auf, versucht den Spiegelabfahrer zu stellen (indem er sich zum Beispiel quer stellt) oder, wenn das nicht gelingt, sinnt auf Rache, indem er nun seinerseits das Auto des anderen beschädigt; dass dabei nicht immer verhältnismäßig gehandelt wird, versteht sich von selbst. Alle wissen: Niemand wird hier für seine Fehler geradestehen, der Staat ist schwach, die Strafverfolgung funktioniert nicht oder ist so langsam, dass von einer Strafe nicht mehr die Rede sein kann. Daher sichern sich alle selbst ihr Recht - und wenn es bedeutet, dem anderen wenigstens einmal die Faust ins Gesicht zu rammen.
Und während es in Kairo aufgrund der Staulage noch meistens mit Blechschäden abgeht, sind die Landstraßen, die Autobahnen und Stadtautobahnen wirklich extrem gefährlich, dort fordert der Straßenverkehr die meisten Opfer. Insbesondere in der Nacht würde ich daher von Überlandfahrten absehen, und wenn ich einen Bus (und schlimmer noch: Minibus) nutze, dann brauche ich einigen Fatalismus, ohne den man...