Schweitzer Fachinformationen
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»Was ist denn los? Warum geht der Flieger immer noch nicht auf die Startbahn?«, fragte ich mich selbst. Langsam wurde ich nervös. Es war der 7. Dezember 2011. Draußen war es dunkel und es regnete in Strömen, während ich mich im halbwarmen Flieger in meinen Schal einkuschelte und darauf hoffte, bald schlafen zu können. Inzwischen waren wir schon fast eine Stunde hinter dem Abflugplan, das würde den Leuten, die mich mitten in der Nacht am Flughafen von Gaziantep abholen sollten, sicher nicht gefallen. Wahrscheinlich würde die erste Begegnung dadurch etwas getrübt, um es einigermaßen positiv auszudrücken. Meine Laune sank immer weiter in den Keller und die Angst, schon zu Beginn in Gaziantep einen schlechten Eindruck zu hinterlassen, nahm zu.
Die Stimmung im Flugzeug war so gar nicht nach Abflug. Die Lichter waren zwar längst aus, aber alle liefen laut telefonierend mit ihren Handys auf dem Gang herum. Hier und da wurden Beutel mit Pistazien und anderen Leckereien durch die Sitzreihen gereicht und die Lautstärke der Gespräche stieg immer mehr. Dann kam eine Durchsage auf Türkisch, von der ich kein Wort verstand. Mein Sitznachbar erklärte mir, dass zwei Passagiere nicht zum Boarding erschienen waren, ihr Gepäck aber aufgegeben hatten. Nun musste dieses Gepäck im Bauch des Flugzeugs ausfindig gemacht und zurück zum Flughafen transportiert werden. Danach sollte es aber gleich losgehen, deshalb sollten sich alle schon mal hinsetzen und anschnallen.
Wir beide taten das sofort, die übrigen Passagiere blieben jedoch von der Durchsage völlig unbeeindruckt, liefen weiterhin herum und telefonierten lautstark.
Eine Flugbegleiterin versuchte, für Ordnung zu sorgen. Leider erfolglos. Sie startete erneut eine Durchsage. Wieder ohne Erfolg.
Schließlich kam eine Durchsage auf Deutsch von einer tiefen, sehr ernsten Männerstimme: »Hier spricht der Pilot. Schalten Sie sofort alle Handys aus, setzen Sie sich hin und schnallen Sie sich an. Sonst ist hier gleich was los!«
Ich war völlig überrascht und wusste nicht, ob ich lachen oder doch lieber Angst haben sollte. Bisher hatte ich noch nie erlebt, dass ein Pilot so eine ruppige Ansage machte, um eine Meute unter Kontrolle zu bringen. Aber immerhin zeigte diese Wirkung.
Wenn das in Gaziantep auch so lief, wäre das Leben dort auf jeden Fall nicht langweilig. Alles fühlte sich jetzt schon ganz anders an als bei der Reise vor einem Dreivierteljahr mit meiner Oma nach Antalya.
Antalya im Februar - das war ein besonderer Urlaub gewesen. So etwas hatte ich bisher noch nie gemacht, fünf Sterne all-inclusive wäre mir im Traum nicht eingefallen - aber meiner Oma schon, und sie hatte mich eingeladen. Allein wollte sie ungern eine Flugreise wagen, da sie die Schilder am Flughafen nicht mehr so gut sehen konnte. Ich war es bis dahin eher gewohnt gewesen, auf Abenteuerreise zu gehen, mit dem Rucksack durch Schweden oder irgendwohin, wo ich etwas Sinnvolles tun und Menschen helfen konnte. Dass diese Reise ins Luxushotel die abenteuerlichsten Folgen haben würde, ahnte ich nicht.
Da es im Februar nur wenige Urlauber gab und das Meer nicht wirklich zum Baden einlud, war es in Antalya anfangs ziemlich langweilig. Das große Hotel wirkte nach ein paar Tagen gar nicht mehr so riesig und spannend wie beim ersten Eindruck. Auch das Büfett, bei dem man Tag und Nacht schlemmen konnte, hat irgendwann seinen Reiz verloren. Eher hatte ich bald das große Bedürfnis, mich zu bewegen, um der vielen Völlerei wenigstens ein bisschen entgegenzuwirken. Also ging es immer den Strand hoch und runter, morgens joggend, mittags spazierend.
An einem Nachmittag, meine Oma hatte sich wie gewohnt nach dem Essen zum Mittagsschlaf hingelegt, spazierte ich wieder alleine am Strand entlang. Diesmal wollte ich Muscheln sammeln. Vielleicht konnte ich damit meiner Oma und der alten Dame, die immer mit uns um acht Uhr am Frühstückstisch saß, eine kleine Freude machen. Es dauerte nicht lange, bis ich fündig wurde. So lief und lief und sammelte und sammelte ich, bis ich viel weiter den Strand entlanggelaufen war als je zuvor. Schön sah es hier aus, und endlich kam auch mal ein bisschen Sonne raus.
Als ich mich gerade für eine kleine Pause auf einem großen Stein niederlassen wollte, funkelte mir eine besonders große bunte Muschel entgegen. Sie war so viel schöner als all die anderen in meinen bereits stark gefüllten Händen. Nur wie sollte ich sie aufheben? Ich hatte ja keine Hand mehr frei.
Plötzlich war es, als wenn mir eine Stimme sagte: »Lass los, was du dir angesammelt hast. Ich will dir etwas Besonderes geben.«
Ein paarmal schon hatte es diese Momente in meinem Leben gegeben, die alles verändert hatten. Gott war, seit ich etwa fünfzehn Jahre alt war, ein fester Bestandteil meines Lebens und daran, dass er zu mir reden konnte und wollte, hatte ich keine Zweifel.
Nun stand ich vor der Entscheidung, die Stimme ernst zu nehmen und tatsächlich die Muscheln fallen zu lassen oder den Gedanken einfach beiseitezuschieben. Dass es hier nicht nur um Muscheln ging, sondern eine Symbolik dahintersteckte, war mir sofort klar. Aber was genau das war, wusste ich noch nicht.
Die Neugierde überwog, ich ließ die Muscheln fallen, nahm die eine besondere in die Hand und setzte mich auf den großen Stein in die Sonne. »Was meinst du Gott? Was willst du mir sagen? Hier bin ich nun und hab endlich Zeit, dir, und nur dir, zuzuhören.« Das waren meine Gedanken, mein inneres Gebet.
Prompt kam eine Antwort: »Lass los, was du dir in Deutschland angesammelt hast, und komm in die Türkei. Ich will dich hier gebrauchen.«
Diesen Gedanken fand ich ein bisschen schräg. Ich konnte ja kein Wort Türkisch und Ahnung von diesem Land hatte ich auch keine, denn das Fünfsternehotel in Antalya war sicher nicht repräsentativ für die Türkei und abgesehen von den Spaziergängen am Strand hatte ich bisher kaum was vom Land gesehen. Ich war wirklich nicht prädestiniert für so eine Aufgabe.
Apropos - was für eine Aufgabe überhaupt? Was sollte ich alleine als Frau in so einem fremden Land? Mit diesen vielen Fragen ging ich teils betend, teils kopfschüttelnd, aber auch in freudiger Spannung zurück ins Hotel. Meine schöne Muschel hielt ich fest in der Hand verschlossen.
Der Spaziergang hatte länger gedauert, als ich gedacht hatte, denn meine Oma war längst nicht mehr im Bett, sondern saß Kuchen essend in der Hotellobby. Sie hatte sich gewundert, wo ich war, und sich große Sorgen um mich gemacht, da sie den einheimischen Männern gegenüber etwas misstrauisch war. Vielleicht sollte ich ihr besser nicht von der wundersamen Begegnung am Strand erzählen.
Am Abend wurde es plötzlich etwas lauter im Hotel. Aus dem gläsernen Aufzug heraus sah ich in der Lobby eine Truppe junger Leute. Ich fragte mich, was die wohl hier in dieser, ich hätte fast »Seniorenresidenz« gesagt, zu suchen hatten.
Als der Aufzug im vierten Stock anhielt, stiegen weitere junge Leute zu. Sie sprachen gebrochenes Englisch miteinander, schienen alle aus verschiedenen Ländern zu kommen und hielten mich witzigerweise für eine von ihnen. »Und wo kommst du her?«, fragten sie mich.
»Deutschland«, war meine Antwort.
»Ahh, aus Deutschland sind ja nicht so viele dabei. Und wo arbeitest du?«
»Ähhh . in Deutschland?«
In mir stiegen immer mehr Fragen auf - aber bei der bunten Truppe um mich herum scheinbar auch.
»Nein, wo arbeitest du in der Türkei?«
»Mhhh, gar nicht. Ich mache hier nur Urlaub.«
Sie lachten über sich selbst und das Missverständnis. Schnell erklärten sie mir, dass sie eine Gruppe von EFDlern seien, die hier im Land für mehrere Monate einen Freiwilligendienst machten und in diesem Hotel eine Schulung bekamen. Manche von ihnen arbeiteten in Schulen, andere sollten Schildkröten am Strand schützen und wieder andere arbeiteten bei Umweltschutzprojekten.
»Das könntest du ja auch mal machen«, schlugen sie mir vor.
Der Europäische Freiwilligendienst war mir nicht unbekannt, zumal eine junge Frau aus Italien uns gerade als EFDlerin im Schulklub in Kodersdorf unterstützte. Daher wusste ich auch, dass man einen solchen Dienst leider nur bis zu einem Alter von maximal 27 Jahren machen konnte. Als ich dies sagte, wurde ich jedoch eines Besseren belehrt: »Nein, nein. Man kann das jetzt bis einschließlich dreißig Jahre machen. Das wurde gerade erst vor ein paar Wochen geändert.«
Nun war ich überrascht und sofort fügte sich in mir das Puzzle des Tages zusammen. Wäre das nicht ein guter Einstieg in Land, Kultur und Sprache? Immerhin war der Europäische Freiwilligendienst ein vertrauenswürdiges Dach, wo man versichert war und sogar ein kleines Taschengeld bekam!
Der Urlaub mit meiner Oma ging bald zu Ende. Zurück im vergleichsweise eisigen Februar in Deutschland klemmte ich mich sofort nach dem mühsamen Entzünden des Kachelofens, meiner einzigen Heizmöglichkeit im Görlitzer Altbau-WG-Zimmer, hinter den Computer und recherchierte, wer, wo, wie, wann und wie lange man einen Europäischen Freiwilligendienst in der Türkei machen konnte.
Es schien gar nicht so kompliziert zu sein. Auf der Türkei-Karte mit den Stellenangeboten fiel mein Blick gleich auf die Stadt Gaziantep im Südosten an der syrischen Grenze. Eigentlich war an der Stadt nichts Besonderes. Von Krieg in Syrien war Anfang 2011 noch keine Rede und Gaziantep erschien keineswegs eine bedenkliche Region. Vermutlich war es weit genug weg von jeglichen Touristenhotels, in denen jeder türkische Kellner fließend Deutsch, Englisch und Russisch sprach - also ein guter Ort, um mal so richtig in der Türkei zu sein.
Ich war mir sicher, dass der...
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