Schweitzer Fachinformationen
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Nachos können tödlich sein. Hätten Sie’s gewusst? Alle quatschen über gesunde Ernährung. Hat mich noch nie besonders interessiert. Ich bin ein Typ, der sich was zwischen die Kiemen schieben muss, und ich gehe vor allem danach, was mein Körper verlangt. Das sind oft Steaks, Frikadellen, Kartoffelsalat mit Mayo. Dazu ein süffiges Bier. Bisher hat mir das nicht geschadet. Ich habe keine Herzbeschwerden, kriege höchstens alle fünf Jahre eine Grippe und das war’s. Aber dann kam die Sache mit der Nacho-Tüte. Vielleicht wäre alles anders gelaufen, hätten sie an der Tanke Guacamole verkauft. Ich esse nämlich immer Nachos mit Guacamole. Bloß nicht mit diesen roten Chilisoßen, die kann ich auf den Tod nicht ausstehen.
Auf den Tod.
Deswegen kaufte ich also nur die Nachos. Ohne Soße. Als Proviant für meinen Trip durchs Fränkische.
Die Tour war meine Abschiedsreise. Zwei Tage später würde ich den alten Kadett verkaufen. In drei Tagen in ein Flugzeug steigen. Nach Vancouver fliegen und dort neu anfangen.
Was zählte, war die Zukunft. Mit meinem alten Leben in Franken hatte die Person, die ich heute darstelle, nicht mehr viel zu tun. Enttäuschungen, Ängste, Zweifel, Katastrophen. Ich hatte sie entschlossen in einen Sack gestopft und in die Tonne gekloppt. Rein mental natürlich. Es gibt Tausende Bücher, in denen steht, wie das geht, und jedes Jahr erscheinen neue.
Für meine persönliche Misere hieß die Lösung: Kanada. Erst mal Urlaub. Paddeln, Fallschirmspringen, Reiten. Dann einen Job finden. In Kanada liegen die Jobs für jemanden wie mich quasi auf der Straße. Davon ging ich aus. In drei Tagen ging es los. Beinahe hätten mir die Nachos einen fiesen Strich durch die Rechnung gemacht.
Möglich, dass es nicht die Nachos allein waren. Abgesehen von der fehlenden Guacamole könnte ich auch die Engländerin mit der milchweißen Haut verantwortlich machen oder den Kerl, den ich nur wenige Male ganz kurz sah, dessen Namen ich nicht kannte. Egal.
Ich begann meine Abschiedstour in Forchheim. Hier war ich zur Schule gegangen, hatte das erste Mal die Liebe erlitten und meinen Eltern und Lehrern das Leben zur Hölle gemacht. Ich parkte den Kadett vor der Kaiserpfalz 13, schlenderte ein bisschen durch die Fußgängerzone, kaufte mir ein Eis, atmete das Gefühl von Geschichte, das einen in Forchheim zwangsweise überkommt. Die Stadt ist so alt, dass es mich nicht erstaunen würde, wenn demnächst irgendwo noch ein Einkaufszettel von Karl dem Großen auftauchte. Geschrieben auf Althochdeutsch. Natürlich nicht von ihm persönlich, sondern von einem seiner Adjus. Der große Karl hatte 805 auf einem Feldzug in ›Forahhaim‹ eine Pause eingelegt. Aber das war natürlich schon extrem lang her. Ich hatte es nicht so mit der Historie, vielleicht, weil ich meine eigene zu eindeutig abgelegt hatte und mich nur noch auf die Zukunft konzentrierte. Aber das Eis war lecker und ich kaufte noch eins, spürte, wie die Sonne auf meine nackten Waden schien, auf meine Arme, in mein Gesicht. Fachwerk wie in Forchheim würde es in Kanada nicht geben, aber egal. Ein letzter Blick auf die Fassade des Rathauses, auf die Petunien, die wie purpurfarbene Wolken auf den Fenstersimsen hockten, über allem ein stahlblauer Himmel – wer hätte das nicht schön gefunden?
Mag sein, dass Sie das jetzt nicht glauben, aber auch ich bin ein rührseliger Typ. Ist ja kein Wunder! Seine Heimat zu verlassen, das ist ein Schritt, der geht tiefer, als die meisten vermuten. Selbst wenn man die Heimat als eng empfindet. Franken ist nicht gerade ein Landstrich der Weltoffenheit. Das müssen Sie doch zugeben! Malerische Fachwerkwinkel sind eine Sache, geistige Horizonte eine andere.
*
Als ich zu meinem Wagen zurückkehrte, hatte ich innerlich mit allem abgeschlossen. Ich hatte die einschlägigen Plätze noch einmal besucht: die Martinskirche 14, in deren Schatten ich das erste Mal geküsst hatte. Die Wiesentbrücke, wo ich meine Schulhefte jedes Jahr nach Schulschluss im Fluss versenkt hatte. Und noch ein paar andere, die privat bleiben, und wenn Sie sich auf den Kopf stellen!
Ich fuhr los, steuerte die alte Karre mit viel Karacho über das Kopfsteinpflaster, und der Lärm übertönte meine Trauer. Wahrscheinlich würde ich nie mehr hierherkommen. Und wenn doch, dann in frühestens zehn Jahren. Ich würde durch die Gassen gehen, mit unsicherem Schritt, als suchten die Füße Halt auf dem unebenen Pflaster, ungläubig darüber staunend, dass ich hier einmal zu Hause gewesen war.
Um nicht heulen zu müssen, zischte ich in halsbrecherischem Tempo auf die nächstbeste Ampel zu, schlitterte gerade noch bei Dunkelgelb durch, bog ab. Das brauche ich Ihnen alles gar nicht zu schildern? Na gut, dann machen wir da weiter, wo ich das Walberla 15 zu Gesicht bekam. Der Berg lehnte sich wie ein riesiger Sattel an den blauen Himmel. Ich wollte hinaufwandern.
Ich steuerte durch Kirchehrenbach, das ist eines von diesen schmucken fränkischen Dörfern mit viel Fachwerk, schönen Höfen, Blumen und zauberhaften Vorgärten, aber eng, so eng! An der Kirche rammte ich beinahe einen Leichenwagen, wurde echt nervös und spürte, wie mein Mund nach dem Eis vor Zucker klebte. Ich parkte am Fuß des Berges und eilte den Wanderweg hinauf. Schnell. Es pressierte mir. Ich wollte da hoch, noch einmal in die Lande sehen. Und dann weiter, zum nächsten Punkt auf der Liste. Der Liste der Abschiede von Oberfranken.
Wäre ich nicht so durchgeknallt gewesen, hätte ich vermutlich mitgekriegt, dass mit der Engländerin etwas nicht stimmte. Sie hockte oben auf dem Bergsattel vor der Kapelle und hielt ein kleines Kruzifix in der Hand, das sie schnell in ihren Rucksack gleiten ließ, als ich um die Ecke bog.
»Hallo!«, sagte ich.
»Hi.«
Die Kapelle war abgeschlossen. Ich wollte dort auch nicht beten, ich wollte nur ›Auf Wiedersehen‹ sagen. Gebetet hatte ich hier, kurz bevor meine Mutter an ihrem Magenkrebs gestorben war. An die Hilflosigkeit erinnert zu werden, tat weh, also legte ich nur kurz meine Hand an den Stein und ging dann weiter zu den Felsen, die das Bergplateau säumten.
»Sorry?«
So begann es. Sie tauchte hinter mir auf, eine rothaarige, sommersprossige, zarte Person, deren Tramperrucksack doppelt so groß war wie sie selbst. Fragte: »Do you speak English?« und erkundigte sich, wie sie von hier tiefer in die Fränkische Schweiz hineinkäme.
Ich zeigte Richtung Osten und sagte: »Das alles ist die Fränkische Schweiz. Ziemlich groß, oder?«
Sie blickte in das dichte Grün hinaus und nickte.
»What’s your name?«
»Fiona.«
Da hatte ich plötzlich Lust, ihr alles zu zeigen. Es würde eine andere Abschiedsfahrt sein. Eine, von der noch jemand etwas hatte. Neues kennenlernte, während ich selbst auf jeden einzelnen Baum und Berg die Wörter ›letztes Mal‹ stempelte.
Und so fuhren wir los. Wir wuchteten den Rucksack abwechselnd ins Tal, wahrscheinlich hatte sie Fossilien da drin, so viel Gepäck konnte man auf eine Tramperreise gar nicht mitschleppen.
An der nächsten Tanke befüllte ich den Kadett (zum letzten Mal), kaufte zwei Flaschen Cola und jene Tüte Nachos. Wie gerade die banalen Dinge alles kaputtmachen können! Es klingt abgedroschen, doch es ist ein Naturgesetz.
Wir fuhren nach Buttenheim. Die Engländerin musste unbedingt das Jeansmuseum 16 sehen. Es war mein Lieblingsmuseum, ganz eindeutig, vielleicht, weil ich – außer an heißen Sommertagen – überzeugte Jeansträgerin bin. Und weil ich jetzt auch auswandere, wie jener Löb Strauss vor mehr als 100 Jahren. 1847. Wenn ich mich nicht täuschte.
Im Museum war es kühl. Fiona bekam einen Audioguide in ihrer Muttersprache. Hätte ich mir was dabei denken sollen, dass sie immer wieder die Kopfhörer kurz abstreifte und sich umsah, zwischen den Ausstellungsstücken, den Seekisten, den Jeansmodellen, den Videoinstallationen? Natürlich nicht. Ich dachte, vielleicht sind ihr die Dinger auf den Ohren einfach unangenehm.
Ein Museum ist ja nicht gerade geeignet, schwermütige Gefühle entstehen zu lassen. Und doch kam es dann so. Als wir rausgingen und ich die Fachwerkfassade noch einmal auf mich wirken ließ, das frische, jeansige Blau des Holzes und das strahlende Weiß dazwischen – ich musste mir ziemlich heftig auf die Lippen beißen. Tröstete mich damit, dass auch Löb irgendwann einen letzten Blick auf sein Geburtshaus geworfen hatte. Welch glorreiche Zukunft war ihm in der Neuen Welt beschieden gewesen!
Fiona hatte es eilig, ins Auto zu kommen, obwohl die Luft darin kochte. Wir kurbelten alle Fenster runter.
Weiter nach Wohlmannsgesees. Zum Druidenhain 17. Mit einer Freundin hatte ich einmal vor langen Jahren zwischen den bemoosten Felsbrocken übernachtet. In der Dämmerung hatten wir uns gefürchtet und richtiggehend darauf gewartet, Druiden in langen Kapuzenmänteln zwischen den Steinquadern hervortreten zu sehen.
Ich schloss die Augen. Hörte dem Brummen der Hummeln zu und wischte die Mücken weg, die sich auf mein verschwitztes Haar setzten. Es war ganz still hier im Wald. Im Unterholz raschelte es. Vielleicht doch ein Druide.
»Let’s get away from here!«, bat Fiona plötzlich.
»Don’t you like it?«
Blöde Frage, ich konnte...
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