9. Heimweh
Noemi stand in ihren Umhang gehüllt am Eingang zum Friedhof und tappte mit dem rechten Fuß auf den Weg. Die Unruhe ließ sie nicht stillstehen. Yuma und Armine hätten längst hier sein sollen. Wahrscheinlich klauten sie Obst. Noemi ging Armines unentwegtes Theater wegen Essen und Trinken furchtbar auf die Nerven. Als kämpften sie nicht für ein viel höheres Ziel, um dessentwillen man einen knurrenden Magen leicht hinnehmen konnte. Sie kniff die Augen zusammen. Friedlich lagen die Gräber vor ihr in der Dunkelheit. Der Duft von Weihrauch schwebte über dem Kirchhof. Die Turmuhr schlug halb zwölf. Der entscheidende Augenblick kam in Sicht. Endlich. Wie lange sie alle gewartet hatten! Alles würde glattgehen. Diese Flora zeichnete wirklich hervorragend. Nun würden sie den ersten Schritt schaffen, und dann den zweiten, der ungleich schwerer war, und dann . Schnell die Gedanken abschalten! Zu viel Zuversicht und Unbeschwertheit hatten schon viele Pläne zum Scheitern gebracht. Kritisch blickte Noemi zum Himmel. Ein paar Wolken verschleierten den Mond. Seine rechte Seite war eingedellt, als sei er mit einem Stern zusammengestoßen. Aber er war noch voll genug. Noch.
Endlich kamen die beiden anderen durch das Tor. Armine redete wie ein Buch und Yuma hörte zu oder auch nicht, das wusste man bei ihm nie so genau. Er setzte einfach seinen undurchdringlichen Blick auf und sah in die Ferne.
»Beeilt euch«, schnappte Noemi.
»Wir haben Zeit genug!«, gab Armine zurück.
Noemi schloss für einen Moment die Augen. Yva hatte sie um Nachsicht mit Armine gebeten. Armine ist fast noch ein Kind, Noemi, hatte sie gesagt. Wir müssen Geduld mit ihr haben. Es wird sich auszahlen. Nimm Rücksicht auf sie. Noemi fiel das schwer. Immerhin war Armine alt genug, um eine hervorragende Bogenschützin abzugeben. Du sollst nicht neidisch sein, schalt Noemi sich. Doch wie viele gute Gaben sie an sich selbst vermisste! Wie eifersüchtig sie jeden von Armines fantastischen Schüssen verfolgte, als jage ihr selbst der Pfeil direkt ins Herz!
»Also«, sagte Noemi und schüttelte ihre dunklen Gedanken ab. »Es ist ausgemachte Sache. Wir sagen ihr nichts.«
Armine sah Yuma an, aber er wich ihrem Blick aus.
»Was ist!«, fragte Noemi scharf. Ein plötzlicher Windstoß fegte durch den Friedhof und fuhr unter ihren Umhang. »Ihr zweifelt doch wohl nicht, dass es das Beste ist, ihr nichts zu sagen. Wenn sie es weiß, dann wird sie niemals mitkommen.«
»Du bist schrecklich«, sagte Armine. »Du willst immer deinen Willen durchdrücken.«
»Ich? Meinen Willen?« Noemis Stimme wurde schrill. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht zu schreien. »Es geht um uns und unsere Zukunft.« Die guten Vorsätze Armine gegenüber stoben mit dem Wind davon. Mit verzweifelter Empörung wandte sie sich an Yuma. »Dass sie das in ihrem Spatzenhirn nicht kapiert, leuchtet mir noch irgendwie ein. Aber du, du solltest wirklich .«
»Flora hat auch eine Zukunft«, wehrte sich Armine zornig. »Vielleicht denkt dein Kürbishirn mal darüber nach. Ich weiß nämlich nicht einmal mehr, wie die Bernsteinburg aussieht. Ich würde viel lieber hierbleiben.«
»Hier?« Noemi quollen beinahe die Augen aus dem Kopf. »Hier? Aber hier . ist nichts. Nichts, wo wir leben könnten.«
»Warum nicht?«, gab Armine zurück. »Die Bernsteinburg ist für dich nur eine Ausrede, habe ich recht? Dir geht es um etwas anderes, oder, Noemi? Um Carolus. Um Yva. Um dich selbst.«
Noemis Gesicht verfinsterte sich und ihre Wangen wurden heiß vor Zorn.
»Armine«, sagte Yuma vorsichtig, »Flora kann jederzeit wieder nach Hause. Sie zeichnet die neue Karte, und dann reist sie hierher zurück.«
»Jederzeit stimmt nicht ganz«, fauchte Armine. »Um hierher zu reisen, braucht sie abnehmenden Mond. Also muss sie mindestens einen Monat warten.«
»Zeit genug, sich nützlich zu machen und zu zeichnen«, versetzte Noemi. »Und jetzt haltet zum Teufel noch mal den Mund.«
Armine nahm ihren Köcher vom Rücken und begann, ihre Pfeile zu untersuchen. Sie waren untertags weit in die Berge hinaufgestiegen und hatten trainiert. Armine war wie stets die Treffsicherste; Noemi schoss nur auf kurze Entfernungen gut. Noemi presste die Lippen zusammen. Nicht daran denken. Überragend mit Pfeil und Bogen umgehen zu können, war nur eine Begabung. Es gab andere Fertigkeiten, auf die es ankam, wenn man ein Ziel anstrebte. Noemi schauderte. Manchmal umschlich eine unklare Angst ihre Beine wie eine schwarze Katze.
»Wir sagen ihr nichts«, bestimmte Noemi jetzt. »Wir nehmen sie mit, und wenn sie bemerkt, was passiert, ist es zu spät.«
Die Turmuhr schlug Viertel vor zwölf. Yuma richtete sich auf.
»Kein Wort, Armine. Wir sagen ihr kein Wort.«
Armine zuckte die Schultern und fuhr fort, Gras und Erdklümpchen von den Pfeilspitzen zu kratzen. Ihre Pfeile hatten die unterschiedlichsten Spitzen, manche glatt und schmal, andere waren breit und sehr scharf. Die schlimmsten und gefährlichsten waren jene, die zwei Widerhaken ausstreckten wie ein Vogel seine Flügel. Selbst beim Reinigen musste man aufpassen, sich nicht die Finger an den scharfen Kanten aufzuschlitzen.
»Dass du dich nicht mehr an die Bernsteinburg erinnerst«, sagte Yuma mit gedämpfter Stimme zu ihr, »heißt nicht, dass es dort nicht schön ist. Viel schöner als auf Höllenstein.« Er sah in die Dunkelheit hinaus. »Und schöner als hier.«
Armine bezweifelte das. Sie mochte die Weinberge, die steilen, felsigen Hänge zum Gebirge hin, die reißenden Bäche. In der letzten Nacht hatte es hoch oben in den Bergen geschneit, und den ganzen Nachmittag leuchteten die weißen Kuppen vor dem tiefblauen Himmel. Das gefiel ihr. Ohne auf Yuma zu achten, schob sie ihre Pfeile in den Köcher zurück.
»Wenn sie aber nicht will?«, fragte sie.
Noemi lachte laut auf und kassierte dafür einen warnenden Blick von Yuma.
»Sie wird es erst merken, wenn wir auf Höllenstein sind«, antwortete er. »Wie Noemi sagt.«
»Hast du vergessen, wie sich das anfühlt, Yuma? Habt ihr es alle vergessen?« Armine sprach ganz leise, aber ihre Worte schnitten durch die Nacht wie Messer.
Noemi machte sich steif unter dem Umhang. Nicht daran denken, nicht zulassen, dass Armines so herausfordernd in die Nacht geflüsterten Worte räudige Erinnerungen hervorzauberten. Sie sah Yuma an. Er erwiderte ihren Blick mit leeren Augen.
»Ihr habt mir so oft erzählt, wie grauenhaft ihr euch fühltet, als die Bernsteinburg plötzlich verschwand und sich ein ganz neues Bild vor euch abzeichnete, immer deutlicher und schärfer wurde .«
»Lass uns nicht jetzt darüber streiten, Armine!« Yuma warf einen Blick zum Nachthimmel. Die Wolken waren fortgezogen und hatten eine blanke Dunkelheit hinterlassen. Friedlich schaukelte der Mond in seinem Samtbett. »Gehen wir zum Grab.«
Noemis Hand krallte sich in Armines Schulter.
»Übertreib es nicht!«, sagte sie drohend. »Yva rechnet auf uns, auch auf dich. Denk daran!«
Die drei lösten sich aus dem Schatten der Kirche und eilten lautlos durch die Gräberreihen. Neben der Kirchhofmauer hatte Abt Kilian seine letzte Ruhestätte gefunden. Er war es, der vor mehr als vierhundert Jahren Kloster Kilianswendel gegründet hatte. Auf der Marmorplatte, die auf seinem Grab lag, stand
Hier ruhet unser verehrter Abt Kilian. Und lebet auf der anderen Seite.
Auf dieser Grabplatte waren sie angekommen, und von hier würden sie abreisen. Noemi hörte Armine seufzen und folgte ihrem Blick zu den Berggipfeln hinauf. Zwar verhüllte sie die Dunkelheit, aber hie und da konnte man die Lichter einsamer Berghütten sehen, in denen noch jemand wach war und vielleicht ins Tal hinunterblickte. Dort lebten Menschen, die bleiben durften, weil sie hier zu Hause waren. Von der Küche hörten sie ganz leise ein Geräusch.
»Sie kommt«, wisperte Noemi.
Mit angehaltenem Atem standen die drei neben der Grabplatte des Abtes. Jeder von ihnen versuchte, ein bisschen kleiner und schmaler zu wirken. Schritte kamen zum Kirchhof hinauf.
»Das ist nicht Flora«, hauchte Armine.
Ein Mann in einer weiten Mönchskutte ging schnellen Schrittes auf den Friedhof zu. Der Lichtkegel seiner Lampe tastete suchend durch die Dunkelheit.
»Weg!«, zischte Noemi. Sie warfen sich der Länge nach hinter den Grabstein. Armine bekam Yumas Stiefel ins Gesicht. Sie lugte vorsichtig zur Kirche hinüber. Ein Klosterbruder stand da, ein großer, breitschultriger Kerl. Er leuchtete zu ihnen herüber.
»Er hat uns gesehen«, flüsterte Armine. Schon griff sie sich einen Pfeil, aber Yumas warme Hand legte sich auf ihre und sie blieb bewegungslos liegen. Der Schweiß brach ihr aus. In ihrem Magen spürte sie Stiche wie von spitz geschliffenen Pfeilen. Aber sie fühlte noch etwas, tief unten in ihrem Bauch. Eine sprudelnde, frohe Erregung. Wenn der Mönch ihr Treffen mit Flora vereitelte, dann hätten sie noch einen Tag. Einen Tag zwischen den schneebedeckten Gipfeln, einen Tag, an dem sie versuchen konnte, wenn schon nicht Noemi, so wenigstens Yuma zu überreden, alles ganz anders zu machen als geplant. Einen Tag ohne Yva .
»Still!« Noemi drückte Armines Kopf nach unten. Sie schmeckte Gras und den kalten Beschlag von Yumas Stiefelabsatz.
»Hallo?«, rief der Klosterbruder. Seine Stimme war tief und eigentlich nicht unfreundlich, fand Armine. Aber was würde er mit ihnen machen, wenn er sie entdeckte? Kalt griff die Angst nach ihr. Würde er sie einsperren? Zur Polizei bringen? Davon...