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Montag, 12. Mai 2064, Ngerulmud, Republik Palau
Dichte graue Wolken zogen über dem roten Wellblechdach nach Süden. Regen prasselte auf das kleine Vordach der Veranda, und Aukai starrte gedankenverloren auf den Platz vor seinem Haus. Zahlreiche Pfützen hatten sich über Nacht gebildet und den sonst staubtrockenen Sand in zähen Schlamm verwandelt. Schon den ganzen Morgen zog das Unwetter über Palau hinweg, und auch wenn der Regen hin und wieder einmal in ein leichtes Nieseln überging, wusste Aukai, dass sich das Wetter den ganzen Tag über kaum ändern würde.
Seufzend griff er in die Hosentasche seiner Bermudas und kramte eine ramponierte Schachtel Zigaretten hervor. Hierba Fuerte, eine philippinische Marke. Routiniert klopfte er gegen die Unterseite der Packung und ließ damit eine der Zigaretten hervorschnellen. Die Regierung Palaus hatte der Tabakindustrie in unzähligen Kampagnen und Entwöhnungsprogrammen den Kampf angesagt, aber Aukai hatte sich das Rauchen nie abgewöhnen können. Oder wollen.
Ein leiser, entfernter Donner durchbrach das eintönige Rauschen der Regentropfen. Es war genau das richtige Wetter für den heutigen Tag. Düster. Unangenehm. Traurig. In den vergangenen zwei Monaten hatte Aukai das Näherkommen des 12. Mai ignoriert, hatte bewusst davon abgesehen, die Tage zu zählen. Er hatte vermeiden wollen, in Abhängigkeit von einem inneren Countdown zu leben, der sich ständig in seine Gedanken eingenistet und diese vergiftet hätte. Es war ihm gelungen. Er hatte die letzten Wochen genossen, hatte sie verbracht, als wäre die Hypothek nicht real, als würde sein Kontostand sich wie von Zauberhand wieder erholen, ganz ohne Opfer. Kein Wunder also, dass dieser Montag, der 12. Mai 2064, dann doch überraschend für ihn kam und er sich dem Ganzen nicht gewachsen fühlte. Heute ging eine Ära zu Ende. Mit Aukai endete eine Tradition. Das Erbe seines Vaters und seines Großvaters wurde zum Opfer finanzieller Überlegungen. Ihm war schlecht.
Die Übelkeit hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich die Zigarette anzustecken, die er nun schon ein paar Minuten zwischen den Lippen hielt. Verfluchte Welt! Er zog an der Zigarette, hielt die Luft für einige Sekunden an und blies dann den Rauch in den Regen hinaus. Wie ein Vorhang aus transparenten Schnüren schoss das Wasser von dem schrägen Wellblechdach hinunter.
Der Regen machte ihm nichts aus. Aukai war sein Leben lang zur See gefahren und hatte keine Angst vor Unwettern. Respekt schon, Angst nicht. Der Wind spielte immer eine wichtige Rolle - je stärker der Wind, desto gefährlicher das Gewitter. Doch heute war die Windstärke zu vernachlässigen, die Wolken wurden nur langsam gen Süden getragen. Wäre heute nicht das Ende aller Tage, er wäre vielleicht trotz allem hinausgefahren. Vielleicht hätte er Glück gehabt und ihm wäre etwas ins Netz gegangen. Schnapper. Makrelen. Meeräschen.
Dann hätte er sich mit Hiro, Tommy, dem alten Keoki und Pono unter dem Pavillon getroffen, den Fang gegrillt und chinesisches Importbier getrunken, auf einem Stück Räucherfisch herumgekaut und geredet. Über den Fischfang. Über das Wetter. Über Frauen. Selten über Politik. Aukai schüttelte lächelnd den Kopf. Er tat gerade so, als würde er sich nie wieder mit seinen Freunden treffen können. Das war natürlich Unsinn. Trotzdem würde es nicht mehr dasselbe sein. Das Schiff gehörte zu ihm wie seine Zigaretten, er war Aukai, der Fischer, einer der Letzten seiner Art in Palau.
Er drückte seine Kippe an dem hölzernen Geländer der Veranda aus. Ausgetrocknete Farbe und Asche fielen zu Boden. Das Haus benötigte dringend einen Anstrich, doch das Geld reichte einfach nie. Der Ertrag aus dem Fischfang war in den letzten Jahren so spärlich geworden, dass Aukai eine Hypothek auf das Haus aufnehmen musste. Er hatte niemandem davon erzählt, denn er hatte sich dafür geschämt. Das alte, einstöckige Holzständerhaus war seit Jahrzehnten in Familienbesitz, und er stand kurz davor, das Gebäude zusammen mit einem Hektar Grund an die Bank zu verlieren. Das Schiff zu verkaufen war sein einziger Ausweg gewesen.
Außerdem war er müde. Im August würde er sechzig Jahre alt werden. Er hatte sein Lebtag als Fischer gearbeitet. Schon als Kind hatte er seinen Vater aufs Meer hinaus begleitet, so wie dieser auch mit seinem Vater - Aukais Großvater - schon in frühen Jahren hinausgefahren war. Der Fischfang war das Familiengeschäft gewesen, das Handwerk wurde von Generation zu Generation weitergereicht, ebenso wie das Wissen um ertragreiche Fischgründe in Palau, deren Abhängigkeit von Mondzyklen, Jahreszeiten, von Ebbe und Flut und den Strömungen. Er hatte gelernt, Netze aus Palmenwedeln zu knüpfen, eigene Speere zu schnitzen und mit Angeln, Krabbenfallen und Harpunen umzugehen. Er war seinem Vater auf dem Wasser näher gewesen als an Land; in Palau entwickelte sich die Beziehung zwischen Vätern und Söhnen zu großen Teilen auf gemeinsamen Ausflügen zu den Buchten der Inseln oder auf das offene Meer hinaus. Mit Aukai endete das alles - er hatte nie die richtige Frau gefunden, um eine Familie zu gründen. Außerdem war das Wissen um die Fischgründe inzwischen wertlos. Früher war alles anders gewesen. Er konnte sich an Bastkörbe voller Fische erinnern, an den Sonnenaufgang auf hoher See, an den Geruch von frischem Fisch und den Salzgeschmack auf der Zunge. An das Lachen seines Vaters, der barfuß auf seinem kleinen Kutter herumgesprungen war und mit ihm zusammen die Netze eingeholt hatte. Aukai seufzte erneut und schnippte den Zigarettenstummel zu einem Aschenbecher, der neben der Eingangstür stand. Er traf. Wenigstens etwas.
Ein kurzer Blick auf sein Smartphone bestätigte ihm, dass es an der Zeit war, aufzubrechen. Trotz allem Unbehagen über den Verkauf seiner Semael wollte er nicht zu spät im Hafen erscheinen. Besser noch, er wollte ein wenig früher ankommen, um ein letztes Mal ein wenig Zeit auf seinem Schiff zu verbringen. Alleine in der Kajüte sitzend und vom Klopfen der Regentropfen begleitet, wollte er in Selbstmitleid baden, bevor die Semael den Besitzer wechseln würde. Er hatte sich zu diesem Anlass eine kleine Flasche Tanduay besorgt - eigentlich ein für seine Verhältnisse zu teurer Rum, aber der traurige Anlass und der damit einhergehende Erlös hatten eine solche Investition in Aukais Augen gerechtfertigt.
Er betrat das Haus und suchte seine Sachen zusammen: die Flasche Rum, Bootsschlüssel und Papiere. Eine Jacke brauchte er nicht, denn trotz des Regens war es angenehm warm, sodass eine kurze Hose und ein Hemd vollkommen ausreichten. Einen Regenschirm besaß er zwar, fand ihn aber auf die Schnelle nicht. Und so ging er kurz darauf mit hastigen Schritten zu seinem Truck, die Papiere zum Schutz vor den Tropfen an seinen Bauch gepresst.
Ein kurzer Blick in den Rückspiegel aktivierte den integrierten Retinascanner, der Aukais Identität feststellte und den Elektromotor lautlos einschaltete. Die Konsole leuchtete auf, Scheibenwischer surrten los, und die Seitenspiegel richteten sich automatisch aus. Aukai griff nach dem Lenkrad und drückte sanft das Gaspedal hinunter. Mit einem leisen Surren setzte sich der Wagen in Bewegung. Der Hafen war nicht weit entfernt. Tatsächlich war nichts auf Palau weit entfernt. Ausgenommen Ngeaur vielleicht, die einzige der großen Inseln, die noch nicht über eine Brücke an das Straßennetz Palaus angeschlossen war. Die Semael lag im Hafen Malakal, etwa zehn Kilometer von seinem Haus entfernt. Ein Katzensprung.
Der für Palau typische grobe Straßenbelag aus Beton war von unzähligen winzigen Pfützen übersät. Links und rechts der Fahrbahn wucherten Palmen und Brotfruchtbäume, die sich leicht im Wind wiegten. Aukai liebte Palau immer noch. Auch wenn die Inseln in den letzten Jahrzehnten tragische Veränderungen durchgemacht hatten, so war dies nun mal seine Heimat. Nicht wegen der einzigartigen Insellandschaft, der Riffe und des Vulkangesteins fühlte er sich hier zu Hause, sondern vor allem wegen der Menschen. Sie waren freundlich, unaufgeregt, bodenständig. Naturverbunden. Palau hatte als eine der letzten Regionen der Welt seine maritime Artenvielfalt zumindest in Teilen erhalten können. Noch heute besuchten Wissenschaftler aus aller Welt die Riffe.
Aukai fuhr am East Plaza Suites vorbei, einem alten Luxushotel. Der quadratische Bau ragte zwischen Mangobäumen in den Himmel und erinnerte an vergangene Zeiten, als Tourismus noch eine der wichtigsten Einnahmequellen der Region gewesen war. Chinesische Besucher hatten zu Aukais besten Kunden gehört, wenn er mittags in den Hafen einfuhr und seinen Fang direkt vom Schiff aus verkaufte. Nun stand das Hotel leer, der Putz bröckelte von der Fassade, einige der Fenster waren zersprungen. Den fünfundzwanzig anderen Hotels in Palau erging es ähnlich, kaum eines beherbergte noch Gäste. Ein Zustand, den die Bewohner der Inseln selbst herbeigeführt hatten. Sogar Aukai hatte damals für das Tourismusverbot gestimmt, auch wenn er dadurch gut die Hälfte seines Umsatzes verloren hatte.
Genau das war der Grund, warum er so stolz auf die Menschen in Palau war. Sie waren bereit, Opfer zu bringen. Der Tourismus hatte viel Geld in die Republik gespült, doch als Wissenschaftler den Rückgang der Artenvielfalt in den Riffen feststellten und Alarm schlugen, hatten die...
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