Schweitzer Fachinformationen
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»Merkst du denn nicht, dass deine Mutter tot ist?«
Mein Onkel deutete auf meine Mama, die groß, aufrecht und zu blass vor der Spüle stand und das Abtrocknen des Geschirrs beendete, indem sie den letzten Teller auf den Stapel stellte.
»Tot?«, murmelte ich.
»Tot!«
Der Onkel hatte das Wort mit seiner tiefen Stimme so heftig wiederholt, dass es die Küche erfüllte, an die Möbel stieß, von den Wänden abprallte, gegen die Decke schlug und schließlich durch das Fenster floh, um die Nachbarn anzugreifen; guttural, gellend, krächzend zersplitterte der Klang im Hof in tausend Echos.
Unter der schwankenden Glühbirne kehrte wieder Stille ein.
Das Krächzen hatte Mama nicht tangiert. Sie hatte währenddessen abwesend angefangen, die Untertassen zu zählen. Ich biss mir auf die Unterlippe bei dem Gedanken, sie könnte einen neuerlichen Anfall von Zähleritis haben - wenn sie in letzter Zeit eine Bestandsaufnahme machte, begann sie stundenlang immer wieder von vorn.
»Tot, mein Junge, eindeutig tot. Deine Mutter reagiert auf nichts.«
»Sie bewegt sich!«
»Du lässt dich von einem Detail täuschen. Ich kenne mich mit Leichen aus, ich habe bei uns Dutzende gesehen.«
»Bei uns?«
»Im Dorf.«
»Bei dir, meinst du! Für Mama und mich ist hier bei uns!«
»In diesem schrecklichen Mocheville?«
»Belleville! Wir wohnen im wunderschönen Belleville, Onkel!«
Ich hatte geschrien. Ich ertrug es nicht, dass mein Onkel verachtete, was mich mit Stolz erfüllte, Paris, die Krake, deren Tentakel ich war, die Hauptstadt Frankreichs, Paris mit seinen Prachtstraßen, seiner Périphérique, seinem Kohlendioxid, seinen Staus, seinen Demonstrationen, seinen Polizisten, seinen Streiks, seinem Élysée-Palast, seinen Grundschulen, seinen Gymnasien, seinen Autofahrern, die herumbellen, seinen Hunden, denen man das Bellen abgewöhnt hat, seinen heimtückischen Fahrrädern, seinen breiten Boulevards, seinen aschfarbenen Dächern, auf denen sich die grauen Tauben verstecken, seinen glänzenden Pflastersteinen, seinem stumpfen Asphalt, seinen lärmenden Geschäften, seinen Lebensmittelläden mit Abendöffnung, seinen Metroeingängen, seinen heftigen Kanalisationsgerüchen, seiner quecksilbern schillernden Luft nach dem Regen, seinen von der Luftverschmutzung rosa gefärbten Dämmerungen, seinen Straßenlaternen, seinen Nachtschwärmern, seinen Vielfraßen, seinen Pennern, seinen Betrunkenen. Was den Eiffelturm betrifft, unseren friedlichen Riesen, den stählernen Aufpasser, der über uns wachte, so hatte jeder, der ihn nicht verehrte, meiner Meinung nach einen Tadel verdient.
Der Onkel zuckte die Achseln und fuhr fort: »Deine Mutter wurde nicht hier geboren, sie hat das Licht der Welt im Busch erblickt. Oh, ich liebe diesen Ausdruck, >das Licht der Welt erblicken<, wie gemacht für Fatou, die an einem brütend heißen Tag aus dem Bauch ihrer Mutter geglitten ist. Ich erinnere mich gut, ich habe geschwitzt wie ein Schwein. Und du, um welche Zeit bist du geboren worden?«
»Eine halbe Stunde nach Mitternacht.«
»Genau, wie ich mir gedacht habe: Du hast nicht das Licht erblickt, du hast die Nacht erblickt.«
Er kratzte sich am Kinn.
»Und wo?«
»Im Krankenhaus.«
»Im Krankenhaus! Im Krankenhaus, als hätte deine Mutter im Sterben gelegen . Im Krankenhaus, als wäre schwanger sein eine Krankheit . Krankenschwestern und Ärzte, das ist es, was du als Erstes gesehen hast, was für ein Jammer! Mein armer Felix, ich frage mich, inwiefern du deine Mutter verstehen kannst.«
Tränen traten mir, ohne dass ich es ihnen erlaubt hätte, in die Augen. Das ärgerte mich. Genug! Keine Schwäche mehr! Es machte mir schon genug zu schaffen, ein zwölfjähriger Junge zu sein, da musste ich die Situation nicht noch schlimmer machen, indem ich zu einem heulenden Rotzlöffel mutierte . Die Wut hielt meine Tränen zurück und erlaubte mir, spontan zu rufen: »Ich liebe meine Mama.«
Der Onkel legte mir eine Hand auf den Schädel; ich glaubte, er wollte mir das Gehirn zerquetschen, bis sich aus seiner Handfläche und seinen knotigen Gelenken ein Gefühl der Ruhe übertrug.
»Daran zweifle ich nicht, mein Junge. Aber lieben bedeutet nicht verstehen. Ist dir bewusst, dass deine Mutter in Schwierigkeiten steckt?«
»Natürlich! Deswegen habe ich dir ja geschrieben, Onkel, und dich angefleht, aus dem Senegal zurückzukommen.«
»Sehr gut. Sprechen wir von Mann zu Mann.«
Er setzte sich rittlings mir gegenüber auf den Stuhl und blickte mich ernst an.
»Was sagt der Arzt?«
»Dass sie unter einer Depression leidet.«
Onkel Bamba riss die Augen auf und rief: »Was ist das, eine Depression? So was haben wir in Afrika nicht.«
»Das ist eine Krankheit, bei der man niedergedrückt ist. Die Ärzte benutzen den Ausdruck >Depression<, wenn jemand plötzlich trübseliger ist als am Tag zuvor, ohne dass sich irgendetwas verändert hätte; die Lustlosigkeit belastet, überschwemmt und blockiert alles.«
»Welche Behandlung schlagen sie vor?«
»Antidepressiva.«
»Funktioniert das?«
»Das siehst du ja.«
Wir betrachteten Mama, die sich auf den Schemel gesetzt hatte - oder, besser, sich auf ihn hatte plumpsen lassen -, wie eine Puppe, die der Puppenspieler zurückgelassen hat, schlaffer Rumpf, gesenkte Schultern, nach hinten gekippte Hüften, verdrehte Beine, eingeknickter Nacken. Keinerlei Kraft hielt die Teile von Mama noch zusammen.
Onkel Bamba fuhr leise fort: »Falsche Diagnose. Ich garantiere dir, dass Fatou tot ist. Du wohnst mit dem Zombie deiner Mutter zusammen.«
»Hör auf!«
»Und ich beweise es dir. Was zeichnet einen Toten aus? Erstens, er hört nicht mehr.«
Der Onkel schlug mit der Faust auf den Tisch. Mama verzog keine Miene.
»Deine Mutter ist stocktaub.«
»Sie hat vielleicht Probleme mit den Ohren .«
»Zweitens, der Tote sieht nichts mehr, selbst mit geöffneten Augen nicht. Drittens, sein Blick wird leer.«
Ich musste zugeben, dass Mamas Augen, ebenso glasig wie die eines Fischs in der Auslage, nicht mehr Ausdruck hatten als eine Makrele auf einem Eisbett.
»Viertens, die Haut des Toten verändert ihre Farbe.«
Mit einer Handbewegung zu seiner jüngeren Schwester wies der Onkel mich auf ihren gräulich-grünlichen Teint hin, der früher karamellfarben gewesen war. Er seufzte.
»Fünftens, der Tote nimmt von den anderen keine Notiz. Es gibt niemanden, der egoistischer ist als die Toten, echte Arschgesichter. Kümmert sie sich um dich?«
Ich wurde blass und protestierte: »Sie bereitet die Mahlzeiten zu, putzt die Wohnung .«
»Reflexhaft, aus Gewohnheit, wie ein Huhn, das weiterläuft, nachdem man ihm den Hals durchgeschnitten hat.«
Gesenkten Haupts gab ich ihm recht. Er setzte seine Aufzählung fort, indem er den Daumen seiner linken Hand hob: »Sechstens, der Tote spricht nicht. Wann hast du dich zuletzt mit deiner Mutter unterhalten?«
Erneut drangen die Tränen an den Rand meiner Wimpern. Obwohl er seine Liste gern weiter abgespult hätte, verzichtete der Onkel angesichts meiner Verzweiflung darauf. Er umklammerte meine Knie.
»Deine Mutter erweckt den Anschein, als würde sie leben, aber sie ist tot, Felix.«
Das Schluchzen wurde schlimmer; und diesmal ließ ich mich gehen. Ade, Ehre! Sei's drum . Nachgeben bestürzte und erleichterte mich; endlich teilte jemand die Sorge, die mich seit Monaten bedrückte, jemand fühlte sich betroffen, ich würde mich nicht mehr allein ängstigen müssen! Mamas Bruder benutzte zwar erschreckende Worte, sie quälten mich aber nicht so sehr, während er sie aussprach, sondern erst, als sie sich in meinen Gedanken festsetzten. Ja, der Onkel hatte recht: Ich hatte Mama verloren, sie hatte mich verlassen, ich wohnte bei einer Fremden. Wo wohnte diejenige, die mich im Stich gelassen hatte? Sie fehlte mir . Gab es sie noch irgendwo?
Zwischen zwei Schluchzern stammelte ich: »Kann man sie behandeln?«
»Man heilt die Lebenden, nicht die Verstorbenen.«
»Und?«
»Was?«
»Was machen wir?«
»Hm .«
»Nichts?«
»Wir erwecken sie wieder zum Leben!«
Der Onkel erhob sich, schlank, zu stolzer Größe, asphaltfarbene Haut, kohlrabenschwarzes Haar. Er streckte sich geschmeidig, ging zum Fenster, spuckte den Kautabak aus, auf dem er seit dem Dessert herumkaute - hoffentlich reinigte die Concierge nicht gerade die Mülleimer im Hof -, atmete tief die Nacht ein und rieb sich den Nacken. Ich erinnerte mich, dass man laut Mama diesen großen und dürren Athleten in seinem Dorf für einen unbezwingbaren, furchtlosen, erbitterten Krieger hielt, die letzte Rettung, wenn eine Tragödie aufflammte. Vertrauen! Auf keinen Fall seinem augenblicklichen Aussehen trauen, seinem Gebaren als großspuriger Afrikaner, seinem überkandidelten Stil, besonders an diesem Abend, an dem er über spitz zulaufenden karminroten Krokodillederschuhen einen kanariengelben dreiteiligen Anzug trug.
Er drehte sich ruhig zu mir um.
»Kennst du jemanden, der die Toten wieder zum Leben erweckt?«
»Nein.«
»Okay«, entgegnete er gelassen, »ich werde jemanden suchen. Wo hast du das Telefonbuch?«
»Das Telefon. was?«
»Das Telefonbuch. Das dicke Buch, in dem die Telefonnummern stehen. Das gelbe, dasjenige, das die Leute nach Berufen ordnet.«
»Aber ....
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