2 Auf dem Weg zur professionellen Sterbebegleitung
Der Umgang mit der menschlichen »Sterblichkeit« und schließlich mit dem Thema »Tod« war in früheren Zeiten der Menschheitsgeschichte ein gänzlich anderer, und diese Umgangsweisen waren in weiten Bereichen mit anderen existenziellen, ja teilweise irrationalen Ängsten verbunden, die uns heute absonderlich und bizarr anmuten. Der Weg zu unserem heutigen Sterbeverständnis war dabei lang und beschwerlich. Vieles musste im Verständnis neu erschlossen, anderes hingegen aufgegeben werden. Dabei waren sowohl die Verstehenszugänge zu als auch das Coping mit den Themen »Sterben und Tod« sehr heterogen und zum Teil auch stark konträr. Während der Tod in manchen Kulturen als Teil einer natürlichen Ordnung wahrgenommen wurde, versuchten andere, den Tod als über-natürliches oder vielmehr als un-natürliches Phänomen auszuweisen, was seinen Niederschlag in zahlreichen Mythen und selbst im philosophischen Denken gefunden hat.2 Als eine unter vielen Erklärungen für den Tod sei die folgende aus Nigeria angeführt:
Mythos der Nupe aus Nigeria
Gott erschuf die Schildkröte, die Menschen und die Steine, und alle erschuf er sie in einer männlichen und einer weiblichen Gestalt. Den Schildkröten und den Menschen hauchte er Leben ein, nicht aber den Steinen. Keines dieser Geschöpfe konnte Kinder bekommen, und wenn sie alt wurden, starben sie nicht, sondern wurden wieder jung. Die Schildkröte aber wollte Kinder haben, und so begab sie sich zu Gott (um Kinder für sich zu erbitten). Aber Gott sprach: »Ich habe dir Leben gegeben, aber ich habe dir nicht die Erlaubnis gegeben, Kinder zu bekommen.« Nichtsdestotrotz begab sich die Schildkröte wieder zu Gott um ihre Bitte zu wiederholen, und schließlich sagt Gott: »Immer kommst du her und bittest um Kinder. Ist dir auch klar, dass die Lebenden, wenn sie mehrere Kinder gehabt haben, sterben müssen?« Die Schildkröte aber sprach: »Lass mich meine Kinder sehen und sterben.« Da erfüllte Gott ihr den Wunsch. Als der Mensch sah, dass die Schildkröte Kinder bekam, wollte auch er Kinder haben. Gott warnte den Menschen wie zuvor die Schildkröte, dass er dann sterben müsse. Aber der Mensch sprach: »Lass mich meine Kinder sehen und sterben.« So kamen der Tod und die Kinder in die Welt. Nur die Steine wollten keine Kinder haben, und so sterben sie nie.
In gewisser Weise entspricht die Wahrnehmung des Todes als Störung einer heilen und ursprünglichen Ordnung den Abwehrmechanismen kleiner Kinder, die davon ausgehen, dass Menschen im Prinzip ewig leben und dass der Tod im Grunde ein »unnatürliches Geschehen« sei (vgl. hierzu Kap. 3.2.3.5; 3.3.2.1.1). Der Tod und damit unsere eigene Sterblichkeit sind nur dann wirklich versteh- und integrierbar, wenn wir uns selbst als Teil einer natürlichen Ordnung und der Natur akzeptieren.
Dass nicht nur wir Menschen um den Verlust eines Angehörigen oder um einen guten Freund trauern, ist durch die Evolutions- und Verhaltensbiologie inzwischen hinreichend belegt. Nahezu alle höher entwickelten Säugetiere zeigen in Verlustsituationen ein ähnliches Verhalten, wie es auch bei uns Menschen zu beobachten ist: Verweilen bei dem Verstorbenen, gesenktes Energieniveau, wimmern, glasige Augen und Ähnliches mehr wurden bei unterschiedlichen Arten beobachtet, nicht nur bei Schimpansen, die dem Menschen besonders nahe stehen. Im emotionalen Bereich sind wir nach wie vor mit den übrigen höher entwickelten Arten verbunden (sichtbar an der Trauer des Herrchens um den verstorbenen Hund und umgekehrt). Unterschiede ergeben sich einzig im rational-kognitiven Bereich, d. h. wir sind in der Lage, unser eigenes Sein denkerisch zu erfassen und rational zu hinterfragen. Der homo sapiens, der als einziger die 7 Millionen Jahre anhaltende Evolution der Hominiden überlebt hat und der vor rd. 200.000 Jahren in Erscheinung trat, erlebte im Zuge der kulturellen Entwicklungen um 10.000 v. Chr. einen ersten Höhepunkt.
Die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Tod und der (menschlichen) Sterblichkeit ist ein anthropologisches Konstitutivum - ein Grundphänomen, das seinen Niederschlag in den Kulturen und Religionen aller Zeiten gefunden hat. Jenseits aller Unterschiede im Einzelnen zeigt sich als verbindendes Merkmal die Hoffnung auf ein Wiedersehen - sei es im Diesseits (etwa beim Reinkarnationsgedanken fernöstlicher Religionen), sei es in einer jenseitigen Welt (z. B. durch Hinübergang bzw. Reise bei den alten Ägyptern oder durch Auferweckung im Christentum).3 Dieser Aspekt der sozialen Verbundenheit zeigt sich ferner darin, dass in den meisten Kulturen das Sterben in die Gemeinschaft eingebettet ist, doch zeigt sich hier auch eine Entwicklung, die als ein Prozess der Humanisierung, also des Menschwerdens verstanden werden kann: Galten in vielen Kulturen manche Kranke und Außenseiter am Rande der Gesellschaft als von Gott geschlagen (z. B. durch die Vorstellung eines Tun-Ergehen-Zusammenhanges im Judentum), als minderwertig (z. B. im Kastensystem Indiens) oder als mit Unheil beladen oder vom Teufel besessen (so etwa heute noch in einigen Ländern Afrikas, wo kleine Kinder nach dem Tod ihrer Eltern oder nach anderen Schicksalsschlägen aus der Familie ausgestoßen und sich selbst überlassen werden), so hat gerade das Christentum durch das Verbot des Aussetzens von Kindern, durch seine Mission, die Pflege Aussätziger und Kranker am Rande der Gesellschaft und die Gleichstellung aller Menschen mit Blick auf ihre Einzigartigkeit und ihre unverlierbare Würde das Bewusstsein der Zugehörigkeit aller Menschen zu einer Familie Gottes geschärft.
Erste Ansätze zur Humanisierung im Rahmen der jüdisch-christlichen Tradition zeigen sich alttestamentlich bereits in der Überwindung von Menschenopfern, wie sie in manchen Kulturen der antiken Welt praktiziert wurden und vom jüdischen Schutzgott Jahwe abgelehnt wurden. Die Erzählung von der versuchten Opferung Isaaks durch Abraham (Ex 22,1-19) verpackt diese von Gott inspirierte Erkenntnis in eine dialogische Form. Die Nachkommen Abrahams schritten in der Erkenntnis des Wesens Gottes (Gotteserkenntnis) immer weiter voran: Die Propheten Israels kündeten von seiner Liebe, und insbesondere jene des Dodekapropheton (Buch der zwölf »kleinen« Propheten, kurz: »Zwölfprophetenbuch«) wissen Gottes Liebe auch jenseits von Menschenopfern mit der Opferpraxis in Beziehung zu setzen. Der Prophet Amos, der im 8. Jahrhundert v. Chr. im Nordreich wirkte, wird später an die Isaakperikope anknüpfen und Gott durch seinen Mund verkünden lassen: »Ich hasse eure Feste, ich verabscheue sie und kann eure Feiern nicht riechen. Wenn ihr mir Brandopfer darbringt, ich habe keinen Gefallen an euren Gaben, und eure fetten Heilsopfer will ich nicht sehen. Weg mit dem Lärm deiner Lieder! Dein Harfenspiel will ich nicht hören, sondern das Recht ströme wie Wasser, die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.« (Am 5,21-24) Und der Prophet Hosea, der ebenfalls im 8. Jahrhundert v. Chr. im Nordreich predigte, ließ Gott verkünden: »Denn an Liebe habe ich Gefallen, nicht an Schlachtopfern, an Gotteserkenntnis mehr als an Brandopfern.« (Hos 6,6) Die Erzählung von der Opferbereitschaft Abrahams, der seinen Sohn Isaak Gott darbringen wollte, ist durchaus glaubwürdig. Auch in anderen Kulturen und Religionen, mit denen Abraham wohl in Berührung gekommen sein dürfte, wurden Menschenopfer praktiziert. Noch hat sich die aus Ur stammende Abraham-Sippe nicht zum Volk Israel formiert; das geschieht erst im Zuge des Exodus-Ereignisses und des Sinai-Bundes, und so entwickelt sich mit Abraham eine Glaubensgemeinschaft, die zunächst Menschenopfer ablehnt und später auch tierische Opfer aufgeben wird. Diese sich allmählich offenbarende Liebe Gottes (und mit ihr die Opferfrage) wird sich später in Jesus vollenden. Es war aber ein langer und beschwerlicher Weg bis dorthin, und bisweilen wurde der eigene Wille über den Willen Gottes gestellt. Auf quasi-magische Weise sollte der Wille Gottes dem eigenen angeglichen, ja quasi-gewaltsam erzwungen werden. So berichtet das Buch der Richter, das von der Zeit der Landnahme (um 1300 v. Chr.) bis kurz vor Beginn der Königzeit unter Saul (um 1050 v. Chr.) handelt, von einem blinden Opferversprechen durch den Heerführer Jiftach4, das Ähnlichkeit zur Abraham-Perikope aufweist, wobei die Parallele darin besteht, dass Gott selbst das Opfer gewissermaßen aussuchen soll. Bei dieser Praxis handelt es sich um ein damals nicht unübliches - wenngleich erzwungenes - Gottesurteil. Dabei kann die theologische Deutung ganz unterschiedlich ausfallen. Jiftach hielt seinen Schwur und opferte seine Tochter, da er den Ausgang der Schlacht dem Wirken Gottes zuschrieb. Hätte er die Schlacht verloren, dann wäre die Deutung eben anders ausgefallen, und die Niederlage wäre durch eigene Verfehlungen erklärt worden. Der Prophet Ezechiel, ein Zeitgenosse des Jeremia und Sohn eines Priesters, der 598 v. Chr. unter König Nebukadnezzar II. nach Babylon verschleppt wurde und seine prophetische Aktivität im 6. Jh. v. Chr. im mesopotamischen Exil ausübte, wird im Rückblick auf solche Opferverfehlungen Gott sprechen lassen: »An jenem Tag, an dem sie ihre Söhne den Götzen schlachteten, kamen sie in mein Heiligtum, um es zu entweihen. Siehe, so taten sie mitten in meinem Haus.« (Ez 23,39)
Mit der Abraham-Perikope, aber auch mit der...