Schweitzer Fachinformationen
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Es war ein windstiller Sommermorgen, der Himmel war gepolstert, das Licht matt. Ósmann stand nackt vor seiner Hütte an der Flussmündung der westlichen Bezirkswasser; dem West-Ós, so wird die Mündung genannt. Er wünschte seinen Nachbarn einen guten Morgen, dem nebelverhangenen Bergmassiv Tindastóll, der sagenumwobenen Insel Drangey weit draußen im Fjord, er grüßte die noch schlafenden Leute im jungen Handelsort Krók, am Ende des schwarzen, leicht geschwungenen Sanders, ein paar Meilen entfernt. Er grüßte die Eiderenten auf der Westbank und das träge dahinströmende Gletscherwasser, atmete tief ein, füllte seine Brust mit prickelnder Meeresluft, behielt sie eine Weile in den Lungen, prustete sie sodann aus sich heraus, er hustete laut und krachend, dass sich die Eiderenten erschrocken aufs Meer hinausflüchteten. Ósmann massierte sich die behaarte Brust, bis sich sein Husten endlich legte. Die Jahre des Trinkens und Rauchens und Schuftens machten sich bemerkbar, waren gekommen, um die Gebühr zu kassieren. Wohl darum stand er jetzt vor seiner Hütte, in aller Herrgottsfrühe, splitternackt, hustend und spuckend. Er würde seinen verkaterten Körper ins eiskalte Wasser des Ós tauchen, ein noch junges Ritual, es machte ihm keiner nach. Er würde ein paar Schritte in den Fluss machen, gemächlich, besonnen, bis ihm das Wasser an die Hüften reichte, würde dann die Luft ganz langsam aus den Lungen blasen und zugleich in die Knie gehen, den Blick konzentriert auf die gegenüberliegende Westbank gerichtet, bis sein Bart die Wasseroberfläche berühren würde. Er würde in der Hocke verharren, die Arme unter Wasser von sich gestreckt, unmerklich schwingend, wie die Flügel eines Seeadlers. Die anfänglich fast nicht zu ertragende Kälte würde langsam einem tauben Gefühl weichen, und sein Körper würde sich anfühlen, als läge er in der Umarmung sämtlicher Haupt- und Nebenarme der Bezirkswasser, der sich nicht aus der Umarmung lösen wollende Ós wollte ihn bei sich behalten, nicht hergeben, und der Gedanke war verlockend, sich hinzugeben. Die Haut gerötet, würde Ósmann schließlich zurück ans Ufer schreiten, bereit, den Tag zu bestreiten, bereit, die Reisenden in der Seilfähre über den Ós zu kurbeln.
Es hatte mit einer Erinnerung an die Sommertage seiner Kindheit begonnen, wie ihn sein Freund Oddvar im See ganz in der Nähe des elterlichen Bauernhofs schwimmen gelehrt hatte, wie kalt das Wasser gewesen war, eine Mutprobe allein, sich hineinzubegeben, ganz abgesehen davon, erste, ungeschickte Schwimmzüge zu wagen, nur um unterzugehen und sich japsend an die Wasseroberfläche zu strampeln. Seine Mutter hatte darauf bestanden, dass er schwimmen lernte, wie alle Kinder im Nes, ganz egal, wie kalt das Wasser war, sie mussten der Kunst des Schwimmens mächtig werden, wollten sie sich weiterhin am Seeufer herumtreiben, im Sommer zum Angeln oder im Winter zum Ballspiel auf dem Eis. Und Ósmann, nun erwachsen und verkatert, hatte sich plötzlich an damals erinnert, wie lebendig und daunenleicht er sich gefühlt hatte, als er nach ein paar energischen Schwimmzügen aus dem kalten Wasser gestiegen war, wie heiß seine Glieder plötzlich geworden waren, wie es ihm nichts ausgemacht hatte, splitternackt und kreischend über die Wiesen zu laufen und die Schafe und Uferschnepfen und Goldregenpfeifer und Ringelgänse zu verscheuchen, während ihm das Wasser des Sees noch immer aus dem nassen Haar über den Hals perlte. Er hatte geglaubt, abzuheben und fliegen zu können, wenn er nur schnell genug laufen und mit ausgestreckten Armen flügelschwingende Bewegungen machen würde!
Heute jedoch würde ihm das morgendliche Bad im Ós verwehrt bleiben, auch wenn er es nötig gehabt hätte. Sein Schädel pochte fürchterlich, aber nun, endlich, wurde Ósmann der leblosen Frau gewahr. Sie lag flussaufwärts einen Steinwurf von ihm entfernt, lag nackt am Flussufer, ein schneeweißer Körper im schwarzen Sand, in sich verschlungen, das Gesicht in den Armen vergraben, die langen braunen Haare um sich wie der Heiligenschein des Petrus auf der Altartafel in der kleinen Kirche von Ríp, einer dunklen Sonne gleich.
Es war Ende Juli, die Nächte waren wieder düsterer geworden, die Zugvögel verhielten sich nach gelungener Brutzeit nicht mehr ganz so übermütig. Noch genossen sie ein paar letzte Sommerwochen auf der Insel im Nordatlantik, um sich alsbald auf den langen Weg in den Süden zu machen.
Ósmann erschrak, als er die Frau endlich bemerkte, erstarrte und starrte auf den Körper im Sand. Unter der weißen Haut zeichneten sich die Rippen ab, das gekrümmte Rückgrat und die spitzen Hüftknochen, die Beine der Frau waren lang und mager und schlaff.
Es wäre nun wirklich nicht das erste Mal gewesen, dass Ósmann eine Leiche zu Gesicht bekommen hätte oder die nackte Haut einer Frau, dennoch fuhr ihm der Anblick bis ins Mark. Auch Geister waren hier draußen keine Seltenheit, sie waren meistens im Dämmerlicht der späten Herbsttage oder im Zwielicht bewölkter Sommernächte unterwegs, sie mochten das Halblicht, standen oder saßen am Flussufer, dem sie wahrscheinlich entstiegen waren, huschten an Ósmann vorbei, streif?ten ihn manchmal mit ihrer feuchten Kleidung und hauchten ihm kalten Atem in den Nacken, standen einige Schritte von ihm entfernt und starrten ihn mit leeren Blicken an. Was wollten sie von ihm? Manchmal spürte Ósmann ihre Anwesenheit, ohne sie sehen zu können, oder er bemerkte sie im Augenwinkel, nahm eine Bewegung wahr, doch wenn er sich umdrehte, waren sie meistens wie vom Erdboden verschluckt, waren davongehuscht, wie, tja, Geister eben. Und manchmal, wenn er sich im Halbschlaf auf seiner Schlafstätte herumwälzte, standen sie draußen vor der Hütte und starrten durch das kleine Fenster ins Innere.
Der tiefe, traumlose Schlaf, er war ihm während der letzten Jahre abhandengekommen. Oh, wie sehr vermisste er den unbedarf?ten Schlaf der Jugend! Er wäre bereit gewesen, fünf oder sechs Forellen für eine einzige traumlose Nacht einzutauschen.
Die Frau zog die Beine an und grub die Finger ihrer linken Hand in den Sand - es war also keine Leiche, die da am Flussufer lag, kein Geist, nein, es war ein lebendiges Wesen, auch wenn das Lebendige lediglich an einem dünnen Faden zu hängen schien. Aber wieso war die Frau nackt? Hatte sie ihr Robbengewand abgelegt?
Ósmann löste sich aus seiner Starre und eilte zu ihr.
»Hollo!«, sagte er laut und etwas barsch, als er sich über sie beugte, sie an der Schulter berührte und sofort spürte, wie kalt und nass ihre Haut war, und wieder: »Hollo!« Aber die Frau reagierte nicht, also drehte er sie ein wenig zur Seite und hob den linken Arm von ihrem Gesicht, vielleicht würde er sie erkennen, aber er hatte sie noch nie gesehen, ganz bestimmt, denn wenn er ihr einmal begegnet wäre, hätte er sich an sie erinnert. Sie war nämlich wunderschön. Ihre Augen waren geschlossen, die Lippen dunkelblau, keine Reaktion, doch, jetzt, die Lippen! Sie hatten sich ein wenig bewegt. Ósmann beugte sich noch tiefer über sie, um zu verstehen, was die Frau zu sagen versuchte, aber er hörte nichts außer dem dumpf rauschenden Wasser der Flussmündung, den Vögeln und den Wellen draußen im Fjord.
»Es ist beschlossen, ich bringe dich an die Wärme«, sagte er, schob seine Arme unter ihren Körper und hob sie hoch. Die Frau war leicht, hing schlaff in seinen Armen, Beine und Kopf baumelten leblos, das braune Haar war so lang, dass es den Boden fast berührte, ein fürchterlich dramatisches, nahezu biblisches Bild. Wie sehr hätte ich mir gewünscht, dass der Kunstmaler Sölvi Helgason mitsamt seiner Staffelei, seinen Bleistiften, Wasserfarben und Pinseln zur Stelle gewesen wäre, um dieses Bild einzufangen. Er hätte die beiden eng umschlungen in einem Meer aus Blumen gemalt, es wäre sein berühmtestes Werk geworden, zweifelsohne!
Aber leider war Sölvi Helgason vor wenigen Jahren gestorben, und berühmt wurde er, wie so viele Künstler seiner Generation, erst nach seinem Tod. Früher war er oft im Skagafjord anzutreffen gewesen, schien immer auf Achse zu sein, er war ein Vagabund und hatte für sein Vagabundieren sogar Peitschenhiebe kassiert, wiederholte Male, jeweils 27 Hiebe, und er war für drei Jahre nach Dänemark in die Besserungsanstalt geschickt worden, weil er des Diebstahls beschuldigt worden war, Bücher und Hosen soll er gestohlen haben, zudem hatte er seinen Reisepass gefälscht, um damit in andere Bezirke reisen zu können, um frei zu sein. Und wann immer er auf Hegranes herumstreunte, konnte er sich einer Unterkunft und einer Mahlzeit auf dem Bauernhof Nes sicher sein, denn Ósmanns Mutter Sigurbjörg schickte niemanden fort. Sie hatte ein Herz so groß wie ein Entenbraten. Auch andere Leute, die ein Dach über dem Kopf brauchten, waren im Nes stets willkommen, an Betten schien es nicht zu fehlen. Die in sich verschachtelten Torfbauten fassten 20 bis 30 Leute, und wenn der Platz knapp wurde, mussten die Kinder eben zu dritt oder zu viert ein Bett teilen. Nur Ósmanns Vater Magnús beschwerte sich manchmal, wenn auch verhohlen, Sölvi könne durchaus mitanpacken. Während der Heuerntezeit wurden alle Hände gebraucht, kurz waren die Sommer, viel zu kurz, und eines schönen Sommertages drückte er dem Kunstmaler eine Heugabel in die Hand und knurrte, das Gras müsse auf der Wiese verzettelt werden. Sölvi war in seinen jungen Jahren ein fleißiger Landarbeiter gewesen, sein Umgang mit Bauernwerkzeug war geübt. Magnús wusste das.
»Ich habe leider zu tun«, sagte Sölvi nachsichtig und gab die Heugabel...
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