Schweitzer Fachinformationen
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Nach einigen Wochen hatte ich mich akklimatisiert und etwas eingelebt. Die Tagesabläufe wurden mir vertrauter, und ich fügte mich gut in die Gruppe ein. Die klare Struktur mit den festgelegten Essens- und Arbeitszeiten war für mich ein Gerüst, das mir Halt gab. Langeweile gab es nicht, denn wir hatten während der Woche viele große und kleinere Treffen, die es mitzugestalten galt.
Allerdings gab es keine therapeutischen Gespräche, was mich anfangs noch wunderte. Nirgendwo ging es um Erlebnisse aus der Vergangenheit, um Ursachen für die eigenen Probleme und mögliche Lösungsansätze. Alles lief irgendwie intuitiv. Wenn sich mir eine Verletzung oder belastende Erinnerungen aufdrängten, ging ich zu meiner Bezugsperson Christina. Sie betete dann für mich und bat Gott einzugreifen. Jedes Mal lief es ähnlich ab, egal womit ich kämpfte. Jedes Thema, jedes Problem wurde ausschließlich mit Gebet beantwortet.
Auf ein Problem mit Gebet zu reagieren, ist nicht falsch. Allerdings sollte es eine Therapie nicht ersetzen, sondern eher ergänzen. Denn Menschen mit Problemen oder so schwierigen Hintergründen wie bei Jana brauchen qualifizierte psychologische Hilfe. Wer diese durch Gebet ersetzen will, handelt fahrlässig und unprofessionell.
Eines Tages teilte mir Robert mit, dass wir am Nachmittag alle zusammen in die Stadt gehen würden, um dort gemeinsam zu evangelisieren. Ich fühlte mich gar nicht wohl bei dem Gedanken, in der Öffentlichkeit mit fremden Menschen über Jesus reden zu müssen. Ich war selbst erst seit Kurzem dabei und noch unsicher, ob ich von Gott überzeugt war. Aber irgendwie konnte ich mich der ganzen Sache auch nicht entziehen. Es half alles nichts, ich musste mit. Als wir auf einem zentralen Platz der Stadt ankamen, sollten wir in Zweierteams auf die vorbeischlendernden Leute zugehen und die »Frohe Botschaft« an den Mann oder die Frau bringen. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Es war, als könnten meine Beine nicht losgehen. Das blieb Robert nicht verborgen. Er kam zu mir und sagte:
»Jana, ich ermutige dich, jetzt das zu tun, was auf deinem Herzen ist.«
Diese Formulierung fand ich zwar irgendwie merkwürdig, aber ich glaubte immerhin zu wissen, was er mir damit sagen wollte. Ich fühlte kurz in mich hinein und war mir sicher bei dem, was ich dann tat: Ich ging ohne Umwege direkt zurück in die Insel. Ich war erleichtert darüber, nicht mit den anderen so lange evangelisieren zu müssen, bis der Leiter die Sache beendete.
Gleich nachdem die Gruppe wieder in der Insel eingetroffen war, rief Robert mich in sein Büro. Ich traute meinen Ohren nicht. Denn was ich nun zu hören bekam, war das Gegenteil von dem, was er mir kurz zuvor in der Stadt gesagt hatte:
»Es ist falsch und sehr bedenklich, dass du dich dem Auftrag Gottes, die Gottlosen zu retten, einfach so entzogen hast. Du musst sehr aufpassen, dass du dich nicht in deiner Ichbezogenheit verlierst. Es gibt einen klaren und einfachen Weg, wie du dein kaputtes Dasein wieder in Ordnung bringen kannst. Und der lautet: Dienen macht heil!«
Diesen Satz hatte ich in der Insel schon oft gehört. Aber nun verstörte er mich. Denn die Aussage hatte etwas von einem Mantra, das ich stur befolgen sollte, ohne es hinterfragen oder zumindest erst mal eigenständig darüber nachdenken zu dürfen. Außerdem hatte ich mit einer so heftigen Reaktion von Robert überhaupt nicht gerechnet. Ich spürte, wie mich das verletzte. Aber mein Wunsch, weiterhin zu dieser besonderen Gruppe dazuzugehören, war so groß, dass ich meine Gefühle beiseiteschob. Stattdessen sagte ich mir, dass ich meine Handlungen und mein Denken noch viel mehr der Gruppe anpassen müsse, um nicht noch einmal in eine solche Situation zu kommen. Ich wollte ja alles richtig machen.
Von Anfang an wurde mir erklärt, dass ich den Leitern gegenüber unbedingt gehorsam sein müsse. Das wurde immer mit dem Satz begründet:
»Wenn du nicht fähig bist den Menschen, die du sehen kannst, gehorsam zu sein, wie willst du Gott, den du nicht sehen kannst, gehorchen?«
Ich übte mich weiterhin darin zu zeigen, dass ich mich diesem Maßstab unterordnete und dass es mir ernst damit war, mich verändern zu wollen. Ich beschloss fortan, Tag für Tag und Woche für Woche, unauffällig zu bleiben.
Robert hatte Jana aufgefordert zu tun, was ihr Herz ihr sagte. Genau das tat sie. Roberts Reaktion darauf zeigte jedoch, dass er mit seinen Worten etwas anders gemeint hatte. Jana sollte tun, was Robert für richtig hielt, und das in ihrem Herzen finden und befolgen. Das ist manipulativ und damit Machtmissbrauch.
Janas Wunsch, alles richtig machen zu wollen, ist ihre Achillesferse. Dies wird von Menschen, die machtmissbrauchend leben, oft intuitiv erkannt und genutzt.
Die Erwartung der Leitung ist, dass Jana den Leitern blind gehorchen soll, um Gehorsam zu lernen. Eine solche Erwartung an einen mündigen Erwachsenen ist unangemessen. Und da sie religiös begründet wird, handelt sich um religiösen Machtmissbrauch. Die Aufforderung zum Gehorsam wertet Janas Fähigkeit ab, ihren Weg, auch in geistlichen Dingen, selbst zu finden.
Schön fand ich, dass während der Andachtszeiten immer wieder einmal für mich gebetet wurde, weil einzelne Mitarbeiter dafür »von Gott beauftragt« wurden. Das war immer ein aufregendes Erlebnis für mich, denn diese Menschen wussten oft sehr genau, was Gott gerade jetzt in meinem Leben tun wollte. Einmal gab jemand das Reden Gottes so an mich weiter:
»Du bist wie ein fest verschlossener Waggon, in dessen Innerem ein Haufen Gold liegt. Aber Gott möchte beginnen, deine harte Schale mit seiner Liebe aufzuweichen, damit deine Schätze sichtbar werden.«
Das Gebet für Jana wird mit einer speziellen Beauftragung von Gott begründet. Das kann vorkommen, muss aber nicht so sein. Oft soll mit dieser Ankündigung den dann folgenden Worten der Betenden besonderer Nachdruck verliehen werden.
Ich nahm alles in mich auf wie ein trockener Schwamm und war begeistert. Gerne ließ ich diese Gebete zu, denn sie füllten meine tiefe Leere und Sehnsucht nach Identität und Selbstwert. Aber ich stellte auch fest, dass die wiederkehrenden guten Erfahrungen nichts daran änderten, dass mir die ständigen Andachten, Gebetszeiten und sonstige Meetings insgesamt schwerfielen. Irgendwie fühlte ich mich wie unter Dauerbeschuss. Dass ich selbstständig und manchmal anders dachte, hatte hier wenig Raum.
Das frühe Aufstehen war in den ersten Wochen wirklich schwer für mich. Körperlich war ich geschwächt von den vielen Jahren, in denen ich zu viel geraucht und getrunken hatte. Psychisch war ich zermürbt von den zwölf Monaten der Arbeitslosigkeit, in denen ich einfach so vor mich hin existiert hatte. Jetzt erlebte ich Andachten direkt nach dem Frühstück, die stets mit einer Anbetungszeit starten. Offensichtlich war es normal, dass alle Anwesenden aufstanden und die Hände hoben, um Gott damit zu ehren. Doch mir fiel es zu dieser Zeit schwer, lange zu stehen. Mein Kreislauf schien immer wieder zu versagen. Daher bliebe ich einfach sitzen.
Eines Morgens unterbrach der Leiter plötzlich die Anbetungszeit und sprach mit mir, allerdings ohne mich direkt anzusehen.
»Wir beten hier Gott an und du stehst nicht einmal auf. Du singst nicht mit! Du hebst nicht die Hände, um Gott zu ehren!«
Alle starrten vor sich hin und wussten genau, dass ich gemeint war. Aber niemand sagte etwas dazu. Eine solche Ansage schien für alle ganz normal zu sein. Mühsam stand ich auf. Es traf mich tief, dass ich so öffentlich vor aller Augen beschämt und bloßgestellt worden war. Schließlich gab der Leiter ein Zeichen, und die Anbetungszeit ging weiter. Ich quälte mich beim Stehen und suchte etwas Halt an der Wand, an die ich meinen müden Körper lehnte. Nach der Andacht rannte ich in mein Zimmer und weinte heftig. Der Schmerz zwang mich regelrecht in die Knie. Doch ich hatte bisher auch viel Gutes in der Insel erlebt und wollte dem gegenüber nicht undankbar sein. Und so kam ich zu dem Schluss: Ich bin zwar verletzt, aber ich werde hierbleiben.
Jana fühlte sich zu Recht öffentlich gemaßregelt, denn alle wussten, dass sie gemeint war. Der Leiter bestimmte das Verhalten der Gruppe bis in die körperliche Haltung hinein. Das ist deutlich grenzüberschreitend. Janas Entscheidung, trotzdem bleiben zu wollen, zeigt, dass sie zu diesem Zeitpunkt ihren Gewinn in der Gruppe höher bewertete als ihre Leiden.
Es gab für mich vieles, was ich anziehend fand und nicht missen wollte. Da waren die tollen Gottesdienste, die unterschiedlichen Menschen und diese unglaubliche Energie, mit der wir Gott regelrecht entgegenfieberten. Zu dieser attraktiven Gemeinschaft wollte ich gehören. So festigte sich meine Überzeugung, ich müsse mich nur mehr anstrengen, um all die - größtenteils ungeschriebenen - Regeln der Gruppe zu lernen und zu befolgen. Gleichzeitig wuchs unterschwellig die Angst, diesen besonderen Ort verlieren zu können. Ich hatte bereits bei anderen erlebt, wie schnell das geschehen konnte. Wenn jemand mit einem Fehler konfrontiert wurde und sich nicht den Leitern unterordnete und Buße tat, dann musste diese Person die Gruppe verlassen, weil sie als nicht mehr tragbar galt. Die geforderte Unterordnung beinhaltete zum Beispiel auch, dass selbst ausgebildete und damit fachkompetente, qualifizierte Handwerker, die bei uns als Hilfesuchende lebten, den Anweisungen der übergeordneten Leiter folgen mussten, auch wenn sie bezüglich handwerklicher Themen einen Fehler in deren Entscheidung erkannten. Das sei echte Demut, hieß es. Und: »Gott gibt den Demütigen Gnade, den Stolzen aber...
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