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Lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt - Don`t leave your luggage unattended hallt die Stimme aus dem Lautsprecher.
Er drückt Marlene an sich, seine Lippen streifen ihr Ohrläppchen. "Danke!" "Wofür?" Sie löst sich aus der Umarmung. "Du weißt schon." "Sieh zu, dass du fortkommst, du Loser, und pass auf dich auf!" Er verzieht sein Gesicht zu einem missglückten Grinsen, "mach ich, versprochen. Ich wünschte, du könntest mitkommen!" "Ach ja, und wie sollte das gehen?" Paula, ihre kleine Tochter, sonst eher schüchtern, zieht Tomas zu sich herunter und drückt ihm einen Schmatz auf die Wange. Er streicht ihr verlegen über den blonden Lockenkopf und reiht sich in die Schlange ein. Als er sich noch einmal umschaut, sind die beiden bereits verschwunden.
Der Wartebereich der Abflughalle ist voll. Kinder tollen herum, eine Gruppe schlaksiger Jungen in roten Trainingsanzügen mit dem Geißbock am Revers lümmeln sich in den Bänken. Er mustert die Mitreisenden, seine Augen bleiben an mürrisch dreinblickenden Teenagern hängen. Ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, starren sie in ständiger Erwartung auf ihre Smartphones und tippen mit flinken Fingern auf den Displays herum. Auch Selfies sind äußerst beliebt; Tomas ist nicht gerade darauf erpicht, auf einer Facebook-Seite zu landen. Ein kleines Mädchen sieht zu ihm rüber, sie schaut auch nicht weg, als er ein paar Fratzen schneidet. Sie äfft ihn nach und bleibt ihm nichts schuldig. Ihre Mutter schaut auf, Tomas versteckt sich hinter dem General Anzeiger.
Über die Lautsprecher kommt die Ansage, dass der Eurowings-Flug nach Venedig voraussichtlich eine halbe Stunde Verspätung haben wird, alle spitzen die Ohren. Von wetterbedingten Verzögerungen ist die Rede, ein Murren geht durch die Reihen.
Er schaut durch die große Panoramascheibe nach draußen. Die blasse Morgensonne versteckt sich hinter einer langen Baumreihe jenseits der Startbahn, über die in langen Schwaden milchiger Bodennebel zieht.
Auf dem Monitor laufen Kurznachrichten. Man sieht gut gelaunte Politiker auf einem Balkon, sie plauschen, telefonieren und winken in die Kamera. Der rote Blazer der Kanzlerin ist nicht zu übersehen. Dann laufen Videoclips, der Eiffelturm taucht auf, die Skyline von Manhattan, der Zuckerhut und der Markusplatz. Tomas reißt sich los und besorgt sich einen Cappuccino. Er muss an die Ereignisse der letzten Tage denken und die Worte seines Therapeuten: Sie müssen sich den Schatten der Vergangenheit stellen.
Nachdenklich nippt er an seinem Cappuccino. Das kleine Mädchen deutet schadenfroh auf den Milchschaum an seiner Oberlippe. Er wischt ihn mit dem Handrücken weg und verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse, sie verdreht gelangweilt die Augen. Als er sein Smartphone zücken will, runzelt die Mutter missbilligend die Stirn. Er kramt das Buch hervor, das Karen ihm mitgegeben hat. Eine gelungene Satire auf den derzeitigen Kunstbetrieb, meinte sie. Duell - von Joost Zwagerman. Was passiert, wenn die Faust des Museumsdirektors ein 30 Millionen teures Gemälde durchschlägt.
Der Flug wird aufgerufen, die jungen Fußballer stürmen als erste los. Die Tür des Cockpits steht offen, die Piloten gehen die Check-Listen durch. Unwillkürlich denkt Tomas an Nine-Eleven, aber auch an die Germanwings-Maschine, die vor zwei Jahren an den Hängen der Pyrenäen zerschellt ist. Der Co-Pilot hatte den Absturz in suizidaler Absicht herbeigeführt. Der Kapitän konnte die Cockpittür nicht von außen öffnen, um die Tragödie zu verhindern.
Tomas denkt an den Flug vor vier Jahren und das unerklärliche Verschwinden des ominösen Passagiers.
"Willkommen an Bord!" Die Stewardess schenkt ihm ein unverbindliches Lächeln. Sie trägt die Uniform von Air Berlin. Als er sie darauf anspricht, erwähnt sie mit Bedauern, sie sei an Eurowings nur ausgeliehen. "In gut zwei Wochen bin ich eh arbeitslos. Vielleicht kann ich mich ja bei Ihnen bewerben?" Ihr gewinnendes Lächeln wirkt nicht mehr ganz so selbstsicher.
Tomas greift sich eine Süddeutsche und sucht seinen Platz. Er muss sich an den Passagieren vorbei quetschen, die versuchen, ihre Utensilien in bereits überfüllten Gepäckfächern unterzubringen.
In seiner Reihe sitzt ein junges Pärchen. Der Junge trägt eine zünftige Lederhose und einen Trachtenjanker, sie, ein dralles blondes Mädchen, trägt ein fesches Dirndl. Falscher Zeitpunkt oder falscher Flieger? Er lässt sich in den Sitz am Fenster fallen, der Verschluss des Gurtes rastet mit einem Klick ein.
Die Gedanken schweifen ab zu dem Flug vor gut vier Jahren. Der Purser war dabei, die Kabinentür zu verriegeln, als noch ein verspäteter Passagier an Bord kam, ein großer schlaksiger Mann Mitte Vierzig mit handgenähten Schuhen und einer teuren Omega am Handgelenk. Ihm schien die durch ihn entstandene Verzögerung keineswegs peinlich zu sein. Mit einem nachsichtigen Lächeln auf den Lippen bedachte er die vielen vorwurfsvollen Blicke. Mit ihm begann die unselige Geschichte der safrangelben Mappe.
Die Maschine löst sich vom Flugsteig und wird rückwärts aus der Parkposition geschoben. Sie rollt vor zur Startbahn, die Flügelspitzen wippen bei jeder Bodenunebenheit. Der Nebel hat sich fast vollständig aufgelöst. Als die Freigabe aus dem Tower kommt, heulen die Turbinen auf, ein Beben geht durch den Rumpf, der Airbus setzt sich in Bewegung, nimmt rasch Fahrt auf und hebt in den verhangenen Himmel ab. Tomas spürt die gewaltige Schubkraft, die ihn in die Polster drückt. Heidi, so hat er insgeheim seine Sitznachbarin im Stillen getauft, presst ihre feuchte Hand in die des Freundes, der redet beruhigend auf sie ein. Unter ihnen zieht die Wahner Heide vorüber, die befahrene A3. Das silbrig schimmernde Band des Rheins schlängelt sich entlang des bereits herbstlich verfärbten Siebengebirges. Tomas meint, unten sein Krankenhaus ausmachen zu können, hier beginnen gerade die Visiten.
Die Maschine taucht in die Wolken ein, die Welt scheint nur noch aus Watte zu bestehen. Um ihn herum nichts, woran sich das Auge festhalten könnte. Nach einigen Minuten durchstoßen sie die Wolkendecke erneut, eine gleißende Sonne und ein makellos blauer Himmel empfangen sie. Tomas lockert den Gurt. Da er Smarttarif gebucht hat, bekommt er seinen Snack in einer schlichten Pappbox serviert. Die Flugbegleiterin beugt sich zu ihm herüber, ihre Bluse spannt. Er fragt, ob sie nach der Pleite von Air Berlin nicht von Eurowings übernommen würde. Sie schüttelt bedauernd den Kopf. "In meinem Alter nimmt mich doch keiner mehr!" "Fishing for compliments?" "Ihr Mitleid können Sie sich sparen! Außerdem, zu deren miesen Bedingungen ist das auch nicht gerade reizvoll!"
Mit scherzhaftem Unterton fragt er nach der Ernsthaftigkeit ihrer Bewerbung, augenzwinkernd geht sie darauf ein. "Kommt drauf an, was Sie zu bieten haben!" Er schmunzelt, "alles Verhandlungssache, aber darüber reden wir besser unter vier Augen."
Die Fußballer verlangen lautstark nach alkoholischen Getränken, die Flugbegleiterin verdreht die Augen und entschwindet. Er stellt die Rückenlehne in eine bequeme Position und schließt die Blende am Kabinenfenster. Er denkt an die Dinge, die er gerne ungeschehen machen würde. Die monotonen Geräusche lassen ihn einnicken.
Ist hier ein Arzt an Bord? Die Stimme aus dem Lautsprecher klingt beunruhigt, Tomas blinzelt erschrocken ins Licht. Aus dem hinteren Teil des Fliegers sind Stimmen zu hören. Ein jüngerer Mann meldet sich, folgt der Stewardess den Mittelgang entlang nach hinten. Unruhe ergreift die Passagiere, Köpfe werden verdreht. Eine aufgeregte Stimme berichtet, eine junge Frau sei kollabiert, ein Arzt kümmere sich um sie. Alle scheinen erleichtert. Für einen Moment ist Tomas versucht, sich ebenfalls zu melden. Er öffnet die Blende am Kabinenfenster. Die Wolken reißen auf. Durch eine größere Lücke sieht er die majestätische Kulisse der östlichen Alpen vorüberziehen. Er schaut auf karge Felsgrate und gewundene Saumpfade, die an kahlen, mit Flechten bewachsenen Hängen auszumachen sind. Dunkle Schluchten und grün bemooste Hochtäler. Ein Strahl der Sonne lässt einen See smaragdgrün aufleuchten.
Im hinteren Teil des Fliegers kommt erneut Unruhe auf. Tomas versucht sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass der junge Kollege schon alles im Griff habe. Ängstliche Rufe lassen ihn zusammenfahren, er malt sich alle möglichen Komplikationen aus. Eine Reanimation, die Benutzung des Defibrillators bei den beengten Verhältnissen hier oben stellt er sich nicht gerade reizvoll vor. Turbulenzen treten auf, erschüttern den Rumpf und rütteln die Passagiere durch. Die Maschine bäumt sich auf, sackt durch, fängt sich wieder, die...