Schweitzer Fachinformationen
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»Nimmst du das Gespräch eigentlich auf?«
»Der Raum ist mit allem ausgestattet. Mikrofon und Kamera.« Dakota Leen machte eine ausschweifende Armbewegung. »Zurück zu meiner Frage. Was hattet ihr eigentlich vor? Wolltet ihr wirklich reingehen?«
»Ich nicht, die anderen schon. Zur Sicherheit könntest du das Gespräch mit einem iPhone aufnehmen. In Island macht man das immer so.« Ich musste an Birna denken, die wahrscheinlich die beste Polizeikommissarin der Welt ist, und schaute mich verstohlen um. Links oben unter der Decke war ein rundes Glas angebracht, das so groß wie das Ei der Eiderente war, aber ganz schwarz.
»Ja, da ist eine Kamera. Kalmann, was ist dann passiert?«
»Und das Mikrofon?«
»Überall im Raum. Mach dir darüber keine Sorgen. Kalmann, bitte erzähl mir, was passiert ist. Hast du deine Leute im Park verloren, schon vor den Treppen?«
»Korrektomundo.«
»Waren sie bewaffnet?
»Onkel Bucky -« Ich zögerte.
»War Onkel Bucky bewaffnet?«
»Ich bin gar nicht sicher, ob er überhaupt mein Onkel ist«, sagte ich.
»Das spielt jetzt keine Rolle. Beantworte bitte meine Frage. Ist der Mann bewaffnet?«
»Immer.«
»Womit denn?«, wollte Dakota Leen wissen, aber weil ich zögerte, erklärte sie mir, es sei wichtig, dass sie wüssten, ob er eine Gefahr für andere darstelle. Gut möglich, dass ich heute Leben rette! »Vielleicht ist dein Onkel wütend.«
»Er ist wahrscheinlich nicht mein Onkel.«
»Das hast du schon gesagt.«
»Ist es eigentlich verboten, Waffen zu tragen?«
»Manchmal schon, ja.«
Ich fühlte mich elend, schuldig, obwohl ich doch gar nichts falsch gemacht hatte.
»Er trägt immer eine Glock am Knöchel, manchmal auch eine Walther und eine HK unterm Arm. Das sieht man aber gar nicht.«
»HK? Heckler und Koch?« Sie tippte es in den Laptop ein.
»Und ein Messer.«
»Ein Taschenmesser?«
»Nein, ein Jagdmesser. Ziemlich groß.« Ich zeigte ihr die Größe.
»Auf wen will er denn Jagd machen?«
»Normalerweise auf Hirsche, aber heute auf Echsen und Schweine.«
Dakota Leens Gesicht wurde blasser. Sie sah konzentriert auf den Laptop, und darum bemerkte sie nicht, dass ich mich verstohlen nach weiteren Kameras umschaute. Ich fand noch ein schwarzes Ei hinter mir. Und in den Wänden waren kleine runde Stellen mit Löchern, da waren wahrscheinlich die Mikrofone angebracht.
»Wieso bist du nicht mit ihnen reingegangen?«
Ich zuckte mit den Schultern. Wieso hatte mein Vater mich einfach in der Menschenmenge stehen gelassen und nicht nach mir gesucht?
»Ich bin plötzlich ganz allein gewesen. Darum. Und wenn man verloren geht, muss man an Ort und Stelle stehen bleiben und darf sich nicht vom Fleck rühren. Das weiß doch jeder.«
Dakota Leen musterte mich und biss sich auf die Unterlippe. Sie ist vielleicht die schönste Frau, die mir in den Vereinigten Staaten begegnet ist.
»Kalmann«, sagte sie. »Hast du einen Vormund? Weißt du, was ich damit meine?«
Ich nickte und starrte auf die Tischplatte.
»Meine Mutter.«
»Und wo ist deine Mutter?«
»Sie ist viertausendsiebenhundert Kilometer entfernt. In Akureyri. Das ist die größte Stadt im Nordland, aber ziemlich klein.«
Dakota Leen stand auf, wollte das Zimmer verlassen, aber als sie die Tür öffnete, stand Mr. García genau davor.
»Leen!«, hörte ich ihn überrascht sagen. »Schon fertig?«
Sie zog die Tür ein wenig zu, weshalb ich nur Wortfetzen aufschnappen konnte. Sie sprachen von einem Protokoll, einem korrekten Weg, Regeln und dass jemand zu informieren sei, wenigstens die Botschaft. Aber Mr. García klang ärgerlich. Ich hörte deutlich, wie er sagte, Dakota Leen sei nun nicht mehr an der Akademie und auch nicht bei einem Beauty Contest. Sie sei jetzt im Feld, und da draußen sei Krieg. »Welcome to the real world, honey.«
Als sich Dakota Leen wieder zu mir setzte, starrte sie eine ganze Weile ziemlich wütend in den Laptop, ihre Brust hob und senkte sich schnell, ihre Hände zitterten unmerklich, aber sie schloss die Augen und atmete ganz langsam aus.
»Kalmann, spulen wir noch mal zurück. Wieso warst du heute da draußen? Wieso bist du hier?«
Tja. Wieso war ich, wo ich war? Wieso ist man überhaupt irgendwo? Es war eine Frage so groß wie das Meer, und Dakota Leen schickte mich in einem kleinen Boot da hinaus. Aber sie schien es um jeden Preis wissen zu wollen. Also dachte ich angestrengt nach. Wir saßen nämlich zusammen in dem Boot, sie und ich. Das verstand ich jetzt.
Großvater. Ich sah ihn vor mir in seinem löchrigen Wollpullover und den ausländischen Militärhosen, die Tabakpfeife, die er sich zwischen die Zähne geklemmt hatte. Er saß mit uns in diesem Boot und schaute aufs Meer, paff?te. Die Melrakkaslétta in weiter Ferne. Ich erinnerte mich an die vielen Wanderungen, die wir auf der Slétta gemacht haben. Manchmal ließ ich mich einfach aufs Moos plumpsen, weil ich so erschöpft war, und Großvater sagte dann, wenn man eine lange Strecke zurücklege, mache man nicht gleich die ganze Strecke, sondern nur einen Schritt. Und dann noch einen und dann noch einen. Immer nur einen einzigen Schritt auf einmal, mehr nicht.
»Schritt für Schritt«, murmelte ich, und nun wusste ich plötzlich, wo ich anfangen musste, damit die ganze Geschichte Sinn ergab. Nämlich am Anfang.
»Mein Vater hat mir einen Brief geschrieben, weil mein Großvater Óðinn ermordet worden ist. Darum bin ich hier«, erklärte ich.
»Das tut mir leid«, sagte Dakota Leen, schien aber irgendwie erleichtert. »Erzähl weiter.«
Also erzählte ich ihr alles. Und zwar wirklich von Anfang an. Ich erzählte ihr, dass ich meinen amerikanischen Vater bis vor wenigen Wochen gar nicht richtig gekannt hatte, dass er in den Achtzigerjahren auf der Militärbasis in Kef?lavík stationiert gewesen war und meiner Mutter die Samen für meine Zeugung gespendet hatte, obwohl er das gar nicht gedurft hätte, weil er schon eine Frau und zwei Kinder hatte und darum aus Island abgezogen wurde, als ich neun Monate später zur Welt kam. Dass meine Mutter mit mir zu Großvater in sein Haus gezogen und ich bei ihm aufgewachsen war, der mir alles beigebracht hatte, etwa, wie man einen Grönlandhai verarbeitet oder sich beim Pinkeln auf der Melrakkaslétta mit dem Rücken gegen den Wind stellt.
Dakota Leen lächelte und schaute mich wieder mit ihren neugierigen Augen an, und weil ich deswegen den Faden verlor, sagte sie, ich solle einfach weitererzählen, ich mache das gut.
Also erzählte ich ihr, dass ich einem Eisbären begegnet war, und hätte ich die Mauser meines amerikanischen Großvaters nicht dabeigehabt, würde ich heute nicht hier sitzen. Vielleicht fing die Geschichte also beim Eisbären an oder bei meinem amerikanischen Großvater, der im Korea-Krieg gekämpft und einem Koreaner diese Nazi-Pistole abgenommen hatte. Und ein Sheriff wie ich trage schließlich die Verantwortung -
»Sheriff?« Dakota Leen wandte sich verwirrt ihrem Laptop zu.
Ich überlegte kurz, fragte mich, wie ich es ihr erklären sollte, denn ein Sheriff in Raufarhöfn ist vermutlich nicht dasselbe wie ein Sheriff in Washington D.C. Aber sie winkte ab und sagte, es spiele eigentlich keine Rolle. Sie wolle viel eher wissen, ob mich mein Großvater gelehrt habe, mit Schusswaffen umzugehen.
»Korrektomundo!«, sagte ich stolz, und dann wurde ich traurig, weil ich an ihn denken musste.
Ich wünschte, Großvater wäre nicht ermordet worden. Als ich Dakota Leen alles erzählte, Wort für Wort, fühlte es sich an, als sitze er neben mir auf dem gefrorenen Moos und blicke auf den schnurgeraden Horizont, und irgendwo dahinter war das Meer, das nie gleich aussieht, fast jeden Tag seine Farben wechselt, für die es wahrscheinlich gar keine Namen gibt, denn es sind so viele. Wie Gefühle. Auch die Trauer hat eine Farbe, eine dunkle, wie das Meer bei Sturm, tief und unergründlich. Die Trauer zieht sich zurück und schwillt an wie Ebbe und Flut. Und sie rauscht, nicht in den Ohren, sondern in der Brust.
»Erzähl mir von deinem Großvater«, forderte mich Dakota Leen auf, lehnte sich im Stuhl zurück und trank aus ihrem Pappbecher. »Und nimm dir bitte Zeit.«
Zeit.
Ich schnief?te und nickte, dachte an Großvater.
Wenn man jemanden zum letzten Mal sieht, ist es besser, man weiß es nicht. Man geht davon aus, dass man noch Zeit hat, sich bald wieder begegnet, man sagt einfach nur »bless«, und diese Abschiede sind die besten, weil sie nicht wehtun.
Großvater konnte schon eine Weile nicht mehr gehen, er wollte nicht mehr essen, und er konnte nicht mehr selbst aufs Klo, brauchte sogar Windeln. Und er wusste nicht mehr, wie man einen Löffel oder eine Gabel hielt, obwohl ich es ihm noch ein paarmal gezeigt hatte. Darum vermutete ich, dass er auch nichts mehr sah, oder nur noch verschwommen, denn seine Augen sahen aus wie tote Quallen am Strand. Und unter den Quallen liegen die grauen Steine, die einst Teil eines Felsens gewesen sind. Auch mich erkannte Großvater nicht mehr. Jemand hatte mir mal erklärt, dass altersschwache Menschen fast wie neugeborene Babys seien, aber Großvater war längst nicht so süß und neugierig, und manchmal roch er wie verfaulter Lappentang, dass man sich die Nase zuhalten musste.
Dass Babys neugierig sind und zudem viel besser riechen als mein Großvater, das kann ich bestätigen. Ich durf?te nämlich mal eins in den Armen halten, ein...
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