Schweitzer Fachinformationen
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Neuerdings murmele ich manchmal, während Klara in ihrem Zimmer meditiert und dabei einer männlichen Stimme lauscht, die minutenlang «Es ist okay .» sagt, das Vaterunser, um mich durch die von so weit herkommenden Worte zu trösten oder wenigstens weinen zu können, wobei ich darauf achte, nicht aus Verzweiflung zu weinen, sondern aus Trauer, denn das hat mir Dr. Rak ans Herz gelegt. Ich glaube leider nicht an Gott, und schon gar nicht an einen männlichen, aber wenn ich das Vaterunser spreche, verbindet mich das mit dem Kind, das, während mein Vater im Wohnzimmer «Das hast du nicht gesagt!» brüllte und meine Mutter ihm immer dann noch einmal widersprach, wenn er sich fast beruhigt hatte, im Bett gelegen und gebetet hat, mit schlechtem Gewissen, weil man so selten Lust dazu hatte, was sich vor jemandem wie Gott schwer verbergen ließ, auch wenn man jetzt kein Ende fand. Dass mein Zuhörer in dieser Zeit nicht Gott war, sondern ich selbst, allerdings aus einem Abstand von mehr als vierzig Jahren, konnte ich damals nicht ahnen und auch nicht, dass meine Ratlosigkeit inzwischen vollkommen sein würde und ich dem kleinen Betenden als Beistand nur die Warnung mitgeben könnte, rechtzeitig mit aller Kraft zu versuchen, nicht ich zu werden.
In der Kirche war mir das laute Beten des Vaterunsers peinlich, beim Aufstehen wurde mir schwindlig, ich musste mich an der Lehne der Bank vor mir abstützen. Ich umfasste mit dem linken Daumen und Zeigefinger den rechten Daumen, weil das Falten der Hände mir zu demütig vorkam, brummte wie ein Bauchredner durch die Zähne und hoffte, von den Nachbarn in meiner Bank nicht gehört zu werden, aber immerhin laut genug, damit es nicht wirkte, als wolle ich mich dem Ritual entziehen, weil ich womöglich eine schwarze Seele hatte. Es war mir unangenehm, die Stimme eines mir vertrauten Erwachsenen die vorformulierten Worte sprechen zu hören, so folgsam zeigten wir uns sonst nicht voreinander. Ich selbst sprach gar nicht den Text, sondern brummte nur im Rhythmus der Gemeinde leise mit, und meist überkam mich ausgerechnet in diesem Moment der heftige Drang zu gähnen, ein Impuls, der sich wie Gotteslästerung anfühlte, denn Gott hatte, nach allem, was ich von ihm wusste, eine zarte Seele (so wie es mich verletzt, wenn Klara am Telefon im Gespräch mit mir gähnt, wann hat sie damit angefangen?). Meine Mutter macht sich Vorwürfe, dass sie uns Kindern das Beten nicht rechtzeitig angewöhnt hat, was ihr allerdings schon mit dem Zähneputzen nicht gelungen ist. Dass Menschen, die bis dahin nicht an Gott geglaubt hätten, bei einem Flugzeugabsturz zum Glauben fänden (was sie von irgendwoher zu wissen meint), ist für sie ein Beweis für die Existenz Gottes. Sie sagte das einmal, als ich ihr drucksend mitgeteilt hatte, dass ich aus der Kirche ausgetreten war, was sie bekümmerte, denn die Kirche hätte «so viel für uns getan», uns also im Sozialismus beigestanden, als wir von allen Seiten bedrängt wurden. Inzwischen überlege ich, ob ich trotz der Kosten, die das mit sich brächte, wieder eintreten soll, um diese Institution bei ihrer Aufgabe zu unterstützen, die Menschen davon abzuhalten, sich in Bestien zurückzuverwandeln. Ich bin mir aber nicht sicher, was die Kirche dafür neben dem Läuten der Glocken eigentlich tut und ob sie nicht vielleicht sogar eine Mitschuld an unserer Verkommenheit trifft, man müsste sich besser informieren. Ich habe das Bedürfnis, mit einem klugen, philosophisch beschlagenen und mit menschlichen Abgründen vertrauten, hartnäckig mit Gott ringenden Geistlichen, der entschlossen ist, um meine Seele zu kämpfen, Streitgespräche über den Glauben zu führen, wobei ich Angst hätte, ihn mit meinen Zweifeln anzustecken. Es kommt aber nicht dazu, ich fühle mich nur im Vorbeigehen an roten Backsteinkirchen heimisch, und es zieht mich in diese kühlen Räume, wo ich als Kind aus Langeweile die Schiebezahlen der Liedertafel auswendig gelernt und meine Finger an den richtigen Stellen als Lesezeichen ins Gesangbuch geschoben habe, während die Behinderten, die in ihren Fahrzeugen in absurden Verrenkungen festgezurrt in der ersten Reihe abgestellt wurden, Klagelaute ausstießen, die wir als Christen natürlich gütig tolerierten, auch wenn der Pfarrer sich insgeheim vielleicht doch gestört fühlte, wenn er seinen Gedankengang, an dem er eine Woche gefeilt hatte, für die Einwürfe dieser Unglücklichen unterbrechen musste, denen ich mich heute als fernes Echo anschließen möchte.
Klara sagt, ich solle mir eine «Ressourcenkiste» anlegen, in der ich in Momenten des Verzagens kramen kann:
Schach
Latein
Die Kinder
Laufen
Dr. Rak
Mathematik
(Gott?)
Meine «Studie über die Schönheit»
Humor
Georges Perec
Gartenarbeit
Tonleitern
Gottfried Keller
Cousine Sine
Die FAZ
Comics
Bienen
Unsere Paartherapeuten, die inzwischen unsere Trennungscoachs sind, wären zufrieden mit dieser ersten Zusammenstellung, «Sie bringen 'ne Menge Ressourcen mit», hat Dr. Dorf einmal zu mir gesagt, als ich wie gewöhnlich in Tränen aufgelöst war. Aber ich traue so einer Kiste nicht zu, das übermächtige Gefühl von Verzweiflung zu vertreiben, das mich befällt, wenn ich an meine Zukunft denke, was ich, sofern ich nicht in die Vergangenheit versunken bin, ununterbrochen tue. Die Kinder werden aus dem Haus und nur noch in Gestalt ihrer Geburtsdaten präsent sein, die ich als Code für verschiedene Zahlenschlösser und Bankaccounts verwende. Wenn ich sie im Wohnzimmer reden höre und sie sich meiner Tür nähern, fürchte ich, dass sie reinplatzen, um mir vorzuführen, wie sie sich in Klaras Yogamatte eingerollt und «als Sushi» verkleidet haben, und wenn sie es nicht tun, bin ich enttäuscht, dass sie mich so allein hier verrotten lassen. Bis die Kinder ausziehen, werde ich noch so sehr von meiner Familie gebraucht werden, dass der einzige Freiraum der abendliche Gang zu den Mülltonnen im Hof bleibt, danach wird sie mich auswürgen wie eine Schlange das Gewölle einer im Ganzen verschluckten Maus nach dem Verdauungsprozess. Wir werden auseinanderziehen, Klara mit einem Seufzer der Erleichterung, den sie schon jetzt manchmal ausstößt, wenn sie einem Gespräch mit mir entkommen kann und die Tür zu ihrem Zimmer schließt, das sie bewohnt, seit wir uns zu einer Beziehungspause mit «In-house-Lösung» durchgerungen haben, ich mit schwerem Herzen, weil ich gegen jede Veränderung bin, selbst gegen solche zum Besseren. Meine Angehörigen werden bei jedem unvermeidbaren Treffen froh sein, wenn ich durch gewisse Signale zu erkennen gebe, dass ich mich wenigstens noch bemühe, nicht zu vertrotteln, sondern ein aktives Leben zu führen, indem ich zum Beispiel eine teure Outdoorjacke mit vielen Reißverschlüssen und in einer Farbe trage, mit der man als Lawinenopfer leichter gefunden werden kann. Klara behauptet, das alles werde sich von selbst ergeben, wenn ich erst gelernt hätte, mich «mit mir zu verbinden». Aber ich mache mir Sorgen, dass ich es verpasse, mir, solange ich noch laufen kann, eine Co-Rentnerin zu sichern, zumal ich ihr bei Mathematik, Latein, beim Lösen von Schachaufgaben und sicher auch meiner FAZ-Lektüre kaum begegnen werde. Ich habe ja eigentlich gar keine Zeit dazu, einsam zu sein, trotzdem bin ich es, wenn ich an meine Zukunft denke, und natürlich auch wenn ich an meine Vergangenheit denke, dann noch viel mehr, meinem vergangenen Ich möchte ich, wenn ich es in Gedanken besuche, zurufen, dass hinter ihm der Teufel steht, aber genau wie der Kasper im Puppentheater dreht es sich immer zu spät um. Es ist eine beängstigende Vorstellung, dass ich mich von meinem Kopf, der an allem die Schuld trägt, nie werde trennen können, das müssten schon andere für mich übernehmen.
Ich liege auf dem Bett, falte die Hände über der Brust und versuche, mich an das Gefühl, glücklich zu sein, zu erinnern, das, wie ich finde, gut zu mir passen würde, das ich aber nun schon so lange nicht mehr gespürt habe. Im Moment setzen mir Gewissensbisse zu, weil ich bei Rewe einen Magneten von der Ankündigungstafel gestohlen habe, um ihn Ricarda zu schenken, die damit ihren Stundenplan in ihrem Schulspind aufgehängt hat. Ich kann den Zwang kaum niederringen, meinem Chef, Herrn Dobrowolski, diesen Diebstahl zu beichten, der Gedanke verfolgt mich...
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